[…] Was die brasilianische Bevölkerung am meisten ärgert, ist das gebrochene Versprechen der Regierung, das Turnier ausschließlich durch private Investitionen zu finanzieren. Mittlerweile ist klar, dass rund zehn Milliarden Dollar an Steuergeldern aufgewendet wurden, um neun Stadien neu zu errichten und drei weitere zu renovieren, Straßen zu bauen und die nötige Infrastruktur zu installieren. Das ist mehr als bei den letzten drei Weltmeisterschaften zusammen. Das Kongressmitglied, das sich am heftigsten gegen diese Missstände zur Wehr setzt, ist ausgerechnet der frühere Chefrebell des brasilianischen Fußballs. Als Romário 2010 in den Kongress gewählt wurde, dachten die Brasilianer, er würde das tun, was die anderen Abgeordneten auch taten: einmal die Woche im Parlament auftauchen, 15 000 Dollar Monatsgehalt plus Schmiergelder einstreichen und ansonsten eine ruhige Kugel schieben. Doch Romário verblüffte die Nation und mauserte sich zu einem der vorbildlichsten Kongressabgeordneten des Landes.
Wie also ist die Wandlung vom bad boy zu einem der wenigen Vorzeigepolitiker des Landes zu erklären? »Zunächst mal gibt es da ja nicht viel Konkurrenz«, lacht Romário, bevor er wieder ernster wird. »Letztlich ist das alles meiner Tochter zu verdanken, die mir gezeigt hat, dass ich auf andere Weise gebraucht werde. Als sie auf die Welt kam, habe ich mit vielen anderen Eltern geredet, die auch Kinder mit Downsyndrom haben. Sie baten mich, meine Popularität zu nutzen und in der Gesellschaft ein besseres Bewusstsein für das Thema zu schaffen. Also entschloss ich mich, in die Politik zu gehen, und habe jetzt die Chance, etwas Gutes zu tun.«
Romário
Schönmachen für die WM: Renovierungsarbeiten an den Arcos da Lapa, Rio (© Sabine Kühmichel)
Schönmachen für die WM: Renovierungsarbeiten an den Arcos da Lapa, Rio (© Sabine Kühmichel)
Auf die Frage, ob es Gemeinsamkeiten gebe zwischen Romário, dem Fußballer, und Romário, dem Politiker, muss er eine Weile überlegen. »Keiner von uns beiden kann seine Klappe halten. Wenn mir etwas nicht gefällt, dann sage ich es auch. Ich habe kein Problem damit, Abgeordnete zur Rede zu stellen, die Steuermittel veruntreuen und nichts anderes als Diebe sind. Denn genau das sind sie! Das neue Nationalstadion in Brasilia beispielsweise ist das teuerste Stadion von allen – und das in einer Stadt, deren bester Verein in der dritten Liga spielt! Nur ein Zehntel der Bausumme hätte gereicht, um sämtliche Patienten in Brasilien zu versorgen. Oder man hätte das Geld in die Bildung investieren können, damit die Schulen in der Lage sind, ein kostenloses Mittagessen anzubieten, Klimaanlagen zu installieren und ihre Lehrer vernünftig zu bezahlen. Ich habe es schon mehrfach gesagt: Die WM ist der größte Raubzug in der Geschichte Brasiliens.«
Als Brasilien den Zuschlag bekam, war Romário noch auf der Seite der Regierung und des Verbandes. Wie kommt es, dass er heute der größte Kritiker des Turniers ist? »Ich habe gesehen, dass es den meisten meiner Kollegen im Kongress nur darum geht, so viel abzukassieren wie möglich. Sie haben mehrfach versucht, mich auf ihre Seite zu ziehen, doch mit ihren Machenschaften will ich nichts zu tun haben. Ich möchte, dass Brasilien das schönste Turnier aller Zeiten ausrichtet, aber es sind zu viele Menschen daran beteiligt, die dem Fußball schaden. Der neue Verbandspräsident ist nichts weiter als ein übler Verbrecher, der vor nichts zurückschreckt und an den Folterungen beteiligt war, die Dilma Rousseffs Ehemann zur Zeit der Diktatur über sich ergehen lassen musste. Und an der Seite dieses Ganoven soll Dilma im nächsten Jahr die Medaillen überreichen? Niemals!«
Warum ist es denn überhaupt so schwer, in diesem so traditionsreichen Fußballland einen ehrbaren Mann für das Amt des Verbandspräsidenten zu finden? »Weil ehrbare Leute erst gar keinen Einlass in das System erhalten. Wer in diesem Verband Karriere machen will, der muss korrupt sein. So einfach ist das. Ricardo Teixeira war eine echte Ratte, die Geld unterschlagen hat, aber er hat zumindest dafür Sorge getragen, dass die Nationalmannschaft gewann. Doch José Maria Marin kümmert sich einen Dreck um die Seleção. Wo lagen wir vor ein paar Monaten in der Weltrangliste? Auf Platz 18! Das ist doch Wahnsinn. Brasilien sollte immer unter den ersten Vier sein.«
Ivy kommt über den Rasen gerannt und setzt sich auf den Schoß ihres Vaters. Sie erhält einen Kuss auf die Wange und er erhält einen zurück. Es ist offensichtlich, dass Romário nach all diesen Jahren endlich bei sich angekommen ist. Auch mit seinen anderen fünf Kindern kommt er mittlerweile wieder besser aus. Sein 19-jähriger Sohn Romarinho, für den er jahrelang keinen Unterhalt zahlte, zog mit ihm nach Brasilia und spielt für Brasiliense FC, den größten Klub der Hauptstadt. Vor wenigen Wochen hat er im Finale der Regionalmeisterschaft ein Tor geschossen und ein weiteres vorbereitet. »Das war, als würde sich mein Leben vor meinen Augen abspielen«, sagt Romário. »Zum ersten Mal verstand ich, wie sich meine Eltern gefühlt haben müssen, wenn ich ein Tor geschossen habe. Es war ein fantastisches Gefühl. Ich habe Ivy auf den Arm genommen und mein Champagnerglas auf den Boden gepfeffert. So ähnlich hat meine Mutter auch immer meine Tore gefeiert: Nur dass sie Bierflaschen nach dem Fernseher geworfen hat.«
Drei Tage später tritt Romário im Kongress ans Rednerpult. Er blickt einen Moment zum Sprecher des Parlaments, bevor er sich an die Abgeordneten wendet, die sich auf den Bänken verstreuen. »Verehrte Kollegen, vor nicht allzu langer Zeit war der Verkauf von Spielern und Fernsehrechten die beste Möglichkeit, um mit dem Fußball Geld zu verdienen. Das hat sich mittlerweile geändert. Heute haben es die Geschäftsleute nämlich auf die Taschen der Fans abgesehen. Es gibt keine Stehplätze mehr, und unsere leidenschaftlichsten Anhänger können es sich nicht leisten, am Wochenende zum Fußball zu gehen. Ich möchte Sie auf ein Problem aufmerksam machen, das mich zutiefst betrübt: Die Eliten sind dabei, sich unser schönes Spiel unter den Nagel zu reißen.« Als Beispiel führt Romário das erste große Match des Jahres zwischen dem FC Santos und Flamengo aus Rio de Janeiro an. Das traditionsreiche Duell wurde vom Geschäftsmann Wagner Abrahão gekauft und ins 1100 Kilometer von Santos entfernte Brasilia verlegt. Obwohl die billigsten Plätze im neuen Estádio Mané Garrincha 70 Dollar kosteten, waren sämtliche 77 400 Tickets im Nu verkauft. Obwohl er für die Rechte an diesem Spiel rund 400 000 Dollar an den Verband gezahlt hatte, machte Wagner Abrahão noch einen satten Gewinn von etwa zwei Millionen. »Und diese Arena wurde, wie alle anderen auch, aus öffentlichen Mitteln, von unserem Geld bezahlt!«, wettert Romário. […]
Aus: Henrik B. Hönsson: Romário. Die wundersame Wandlung vom Bad Boy zum seriösen Politiker, in: 11 Freunde. Magazin für Fußballkultur 14 Jg. (2013) H. 12 S. 93-98.
Arbeitsaufträge:
Lies den Text durch und fasse die wichtigen Aussagen von Romário thesenartig zusammen. Formuliere Fragen an die Person und erstelle daraus ein fiktives Interview mit Romário, das in der Talkshow mit verteilten Rollen (Frage, Antwort) „eingespielt“ werden kann.
Erstelle auf dieser Basis einen Spickzettel, damit du in deiner Rolle als Romário auf entsprechende Fragen gut antworten kannst (z.B. in einer Talkshow). Informiere Dich auch über die Person.
Wenn es dir etwas ungewohnt ist, die Rolle des Romário zu spielen, solltest du das Frage-Antwort-Spiel in deiner Vorbereitungsgruppe einmal durchspielen und dich so auf deinen Auftritt in der Talkshow vorbereiten.
Eine Druckversion des Arbeitsblatts steht als Interner Link: PDF-Datei zur Verfügung.