[...] In Deutschland beispielsweise hatte die WM 2006 einen Effekt von rund 0,4 Prozentpunkten an der realen Jahreswachstumsrate. Die Beschäftigung ist nur kurzfristig und vor allem im einfachen Dienstleistungsbereich angestiegen. Dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse sind so gut wie nicht entstanden. Auf der anderen Seite ist gerade die WM 2006 ein gutes Beispiel dafür, wie eine Welt -meisterschaft positiv auf weiche Faktoren wirkt. Das Image Deutschlands und die Wahrnehmung dessen, was im Ausland als typisch »deutsch« galt, haben sich in aller Welt stark verändert und verbessert. Deutsche sind nicht notwendigerweise verkrampfte und freudlose Menschen, sondern können durchaus fröhlich und tolerant feiern. Gerade im Vorfeld der WM hatte es Diskussionen über Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit gegeben.
Eine gute Referenz für Brasilien sind die Erfahrungen, die Südafrika mit der Ausrichtung der WM 2010 gemacht hat. Wenngleich die direkten wirtschaftlichen Effekte nach wie vor schwierig zu messen sind, hat die WM nach vier Jahren rückblickend zum Nation Building und Nation Branding Südafrikas beigetragen. Die Identifikation und der Stolz (Civic Pride) der Bewohner haben zugenommen und wirken sich positiv auf Motivation und bürgerschaftliches Engagement aus, was sich wiederum wirtschaftlich in erhöhter Produktivität niederschlägt. Ganz ähnliche Effekte dürften auch in und für Brasilien entscheidender sein als die direkten und nur temporär auftretenden Effekte auf Einkommen und Beschäftigung. Die Summe all dieser Effekte macht die Legacy eines Events aus, das Erbe und die Erinnerung, die sich nach Möglichkeit über Generationen hinweg übertragen und auf diese Weise verstetigen.
Sportevents haben mittlerweile weltweit eine so große Popularität und mediale Reichweite, dass sie als Werbe- und Imageträger sehr begehrt sind, nicht nur für globale Unternehmen im Rahmen von Sponsoring-Aktivitäten, sondern eben auch für Städte, Regionen und Länder. Entsprechend gibt es eine Art Wettbieten um diese Events. Die Vergabe der Fußball-WM 2014 an Brasilien als damals einzigen Bewerber ist eine große Ausnahme und gewissermaßen als Tribut an die Fußballtradition Brasiliens zu verstehen. Die »Anbieter« der globalen Sportevents sind die großen und mächtigen Weltverbände wie IOC und FIFA, die als Monopolist einen Großteil der Gewinne durch Lizenzierung und Markenrechte abschöpfen. Oftmals werden die Effekte von den Bewerbern überschätzt und insbesondere von demjenigen, der am Ende den Zuschlag bekommt.
Dieses Phänomen ist als Winner’s Curse bekannt. Hinzu kommt, dass die Entscheidung von Politikern, sich um die Ausrichtung zu bewerben, nicht immer durch das Votum der Bevölkerung hinreichend legitimiert ist. So kann es, wie in den letzten Monaten und verstärkt bei der Ausrichtung des Confed-Cup (eine Art Testturnier, an dem der Gastgeber der nächsten WM sowie Vertreter der FIFA-Konföderationen gut ein Jahr vor der WM teilnehmen), zu massiven Protesten weiter Teile der brasilianischen Bevölkerung gegen die WM kommen. »Schulen statt Stadien« und »Brot statt Spiele« – selbst im sportverrückten Brasilien geht die Bevölkerung auf die Straße, um gegen die hohen Ausgaben für überdimensionierte Stadien und nutzlose Infrastruktur zu protestieren. Zum Teil richtete sich der Protest nicht gegen die WM an sich, aber sie ist ein Symbol für Korruption und Misswirtschaft der brasilianischen Politik geworden.
In der Bevölkerung und der medialen Öffentlichkeit hat das Image von IOC und FIFA zuletzt stark gelitten. Sotschi 2014, Russland 2018 und Katar 2022 haben nicht eben dazu beigetragen, diese Diskussionen zu entschärfen. Ein wichtiges Motiv bei der Vergabe der Events ist sicherlich die strategische Erschließung neuer, kommerziell interessanter Märkte. Darüber hinaus wird vermehrt die Frage aufgeworfen, ob demokratische Länder überhaupt noch zum Zuge kommen können oder ob nicht autokratische Staaten einen Vorteil darin haben, die oft sehr restriktiven Auflagen von IOC und FIFA gegenüber der eigenen Bevölkerung durchzusetzen. Immer schon haben Politiker und Diktatoren versucht, den Glanz von Sportereignissen zu Propagandazwecken und Selbstdarstellung zu missbrauchen.
Autokratische Staaten können im Bewerbungsverfahren leichter als Demokratien große Zugeständnisse machen – ganze Dörfer zwangsumsiedeln und Naturschutzflächen zubetonieren – und hohe Summen bieten. Das ist bequem für die Veranstalter, aber langfristig nicht gut für den Sport. IOC und FIFA behaupten dagegen – und vielleicht nicht ganz zu Unrecht, auch wenn die Evidenz schwach ist –, dass Länder durch die Ausrichtung von Olympischen Spielen oder der WM in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten und so gezwungen sind, sich zu öffnen und zu modernisieren. Dem IOC ist ebenfalls wichtig, dass der Sport nicht als Mittel politischer oder weltanschaulicher Kundgebungen instrumentalisiert wird. Manche Entscheidung des IOC, zum Beispiel persönliche Trauer im Wettkampf nicht zeigen zu dürfen, hat Kopfschütteln hervorgerufen. Die Grenzziehung ist wie immer sehr schwierig. Denn wie sollte sich das IOC in einer so wertepluralistischen Welt ideologisch positionieren, ohne dadurch die Einheit und Integrationskraft des Sports aufs Spiel zu setzen?
Dennoch ist es für die Weltsportverbände wichtig, über neue Wege nachzudenken, die Vergabepraxis und mit ihr die Philosophie von Mega-Events zu verändern. Wichtig ist, dass Sportgroßveranstaltungen wieder ein Projekt für die Menschen vor Ort sind. IOC und FIFA sind aufgefordert, die Philosophie und die Konzeption von Sportgroßevents so zu verändern, dass eine Austragung in vielen sehr unterschiedlichen Ländern möglich wird – nicht zuletzt zum Wohle des Sports selbst. Dafür ist eine sozial und ökologisch verträgliche Dimensionierung der Events notwendig. Dies stünde durchaus auch im Einklang mit den Werten und Idealen des Sports, die neben seiner heute unbestritten großen kommerziellen und wirtschaftlichen Bedeutung für die langfristige Glaubwürdigkeit und die Verantwortung des Sports zentral sind.
»Brot statt Spiele« und »Schulen statt Stadien«?
Gerade für Schwellenländer sind die Opportunitätskosten eines Sportevents wie der Fußball-WM im Allgemeinen sehr hoch, da die Investitionen alternativ in Bildung und Gesundheit fließen könnten. Natürlich können die Gelder, die in Stadien und Sportstätten statt in Schulen und Krankenhäuser gehen, nicht die sozialen Probleme eines Landes lösen. Die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Gesundheit machen in Brasilien rund 15 % des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Investitionen, die anlässlich der WM getätigt werden, machen dagegen »nur« maximal 1 % am Bruttoinlandsprodukt aus. Selbst wenn diese Investitionen anschließend tatsächlich vollständig unnütz sein sollten, wären sie als Einmaleffekt kaum mehr als ein »Tropfen auf dem heißen Stein« der sozialen Probleme Brasiliens.
Gleichzeitig kann die Ausrichtung von Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen gerade für aufstrebende Volkswirtschaften – sehr wohl positive und auch nachhaltige Wirkungen entfalten. Die potenziellen Effekte, sich über eine erfolgreiche und reibungslose Ausrichtung als Markt für ausländische Direktinvestitionen oder für heimische Exporte attraktiv zu machen und den Nachweis zu erbringen, über die erforderlichen logistischen und institutionellen Voraussetzungen zu verfügen, können einen wichtigen Impuls setzen. Solche Länder senden mit der Ausrichtung von Sportgroßevents gewissermaßen ein »Signal« für den Willen und die Fähigkeit, sich als offenes und modernes Land zu präsentieren. In etablierten Märkten und entwickelten Volkswirtschaften gilt das Gegenteil: Die Opportunitätskosten sind relativ gering und die wirtschaftlichen Effekte ebenfalls. Am Ende bleibt es dabei: Die Entscheidung, ob sich die Ausrichtung von Sportgroßereignissen für ein Land lohnt, muss im Einzelfall genau geprüft werden. Auch in der wissenschaftlichen Literatur existiert keine allgemeingültige Evidenz für oder gegen eine solche Entscheidung.
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Aus: Pflüger, W.; Quitzau, J.; Vöpel, H. (2014): Strategie 2030 - Brasilien und die Fußball-WM 2014, HWWI & Berenberg (Hrsg.), Hamburg 2014, S.16-18.
Arbeitsaufträge:
Skizziert, wie die FIFA zu „ einer der weltweit mächtigsten Organisationen und einem florierenden Wirtschaftsunternehmen“ geworden ist und welche Probleme damit verbunden sind.
Notiert stichpunktartig, welche ökonomischen und nicht-ökonomischen Effekte von einer Fußball-Weltmeisterschaft ausgehen.
Warum ist es nach Auffassung der Autoren für die FIFA vorteilhaft, mit autokratischen Staaten zusammenzuarbeiten?
Unter welchen Voraussetzungen kann die Austragung einer WM dazu beitragen, ein Land zu modernisieren und soziale Gegensätze zu überwinden? Wann lohnt sich die Ausrichtung einer WM für ein Land?
Bereitet euch für die Talkshow vor, indem ihr euch mit den Argumenten für die Pro-Seite als auch für die Contra-Seite kritisch auseinandersetzt.
Eine Druckversion des Arbeitsblatts steht als Interner Link: PDF-Datei zur Verfügung.