Einleitung
Sag' mir, wo die Fahnen sind, wo sind sie geblieben? Nur noch in trotzigen Dauerarbeitslosenmilieus seien sie zu besichtigen, wird dieser Tage berichtet. In der Tageszeitung "Die Welt" las sich dazu sinngemäß: Je schwarz-rot-goldiger, desto Hartz IV-iger. Ansonsten herrscht vielerorts ein wenig Wehmut über den scheinbaren Verlust an "neuer, deutscher Heiterkeit". Ist dem "Sommer des Wohlgefühls" ein bleierner deutscher Herbst gefolgt, in dem die zuvor so "lächelnden, lebensfrohen, leichtherzigen Deutschen" sich wieder "ihr Land schlecht jammern"? Manche fragen sich ernsthaft, ob wir nach dem "gebrochenen deutschen Gefühlsdamm" nunmehr einen ängstlichen Deichwiederaufbau aus Angst vor der eigenen Ausgelassenheit erleben.
"Deutschland einig Wunderland". Bereits vier Monate nach dem kopfstößig dominierten WM-Finale scheint eine Welle der euphemistischen Frühhistorisierung des deutschen "Sommermärchens" einzusetzen. So gelingt Hajo Schumacher in der Rückschau das semantische Unikum von der "unbedingten Bereitschaft zu naiver Kollektivfreude". Und weiter voller Nostalgie: "Kann man die magischen Tage zurückholen, als alle gemeinsam bereit waren, das tägliche Gemäkel einfach zu lassen?" Anders gefragt: "Kann der Film - Sönke Wortmanns 'Deutschland - ein Sommermärchen' - uns lehren, wie man das WM-Gefühl immer und immer wieder abruft?"
Wie aber ist der schwarz-rot-goldene Freudentaumel in nüchternem Abstand zu beurteilen? War er Ausdruck eines souveränen, selbstverständlichen Umgangs mit nationaler Symbolik, "nur" ein weiteres superlatives Megaevent zwischen dem Papst-Rummel und "Schumis" Endspurt um Formel-1-Titel Nr. 8 oder doch mehr: die bunte, feierliche Manifestation eines neuen Patriotismus? Sind wir tatsächlich "in diesem Sommer andere geworden", wie selbst die ansonsten eher nüchtern hanseatisch gestimmte Zeit nach dem Berliner WM-Finale ins Schwärmen geriet?
Zumindest gab es etliche ausländische Stimmen, welche die angeblich so selbstzerquälten Nachkriegsdeutschen endlich in der nationalen Normalität angekommen wähnten, ohne sich deshalb fürderhin vor ihnen fürchten zu müssen. "Patriotismus soft" konstatierte zum Beispiel die italienische Zeitung Repubblica: "Neuer Stolz ohne Willen zur Macht". "Die Deutschen sind uns plötzlich sympathisch", empfand auch wohlwollend der von der konservativen FIFA um seine gigantische WM-Party gebrachte André Heller. Die französische Tageszeitung Libération sah nicht nur Fahnen, sondern roch sie auch, ohne freilich in landesübliche Ängste vor den Gefahren wiedererstarkter Teutonen zu verfallen: "Die Deutschen haben einen Monat an der Theke zugebracht und wir mit ihnen. Es war wunderbar."
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder kommentierte auswärtiges Wohlwollen gegenüber neudeutschen Normalisierungsversuchen eher ironisch. Bei der jüngsten Präsentation seiner "Erinnerungen" schmunzelte er: Wenn gesagt würde, die Deutschen sollten doch endlich die Geschichte zurücklassen: "Die sagen es zwar so, meinen es aber nicht so."
Das Klischee vom wiedervereinigten Deutschen meint nicht nur einen ökonomisch in die Jahre gekommenen, sondern auch psychisch "kranken Mann in Europa", dem es vor allem an nationalem Selbstbewusstsein mangelt. "Deutschland auf der Couch", so analysierte Thomas Kielinger während der WM "den von Hypochondrie gebeugten Deutschen" als jemanden, der das "Gefühl einer neuen Vitalität, eines Aufbruchs, einer neuen Zuversicht" brauche. Noch deutlicher drückte es der Psychiater Fritz Simon aus: "Wir sind eine manisch-depressive Kultur. Der Jubel ist eine willkommene Kompensation des ganzen Gejammeres, das in Deutschland geherrscht hat."
Dabei fällt auf, dass das Stigma des beckmesserischen "Bedenkenträgers" längst reihum akzeptiert worden zu sein scheint. Selbst Vertreter des linksliberalen Feuilletons fühlen sich längst nicht mehr davon angesprochen, sondern verwenden es ihrerseits. Allen voran Schriftsteller Günter Grass, der sein Klinsmann-Lob im Interview mit der Süddeutschen Zeitung am Tag vor dem WM-Finale gegen "die bei uns so starke Fraktion der Bedenkenträger" richtet. […]
Global Player Teams vs. Ländermatches
"Der Fußball ist global, der Fan ist es nicht", konstatiert der amerikanische Soziologe Andrei S. Markovits. Der Gefühlshaushalt der Fußball-Anhänger sei "total nationalisiert", auch wenn die Vielfalt der Farben Supranationalität verspräche. Die über den Sprung in die globalisierte Welt erschrockenen Deutschen brauchten zur Orientierung einen Begriff von Nation und Vaterland, stellt Tissy Bruns dazu lapidar fest. Dies gelte gerade auch für den einfachen Anhänger der Welt des ökonomisch überdehnten Fußballs. Dass sich hinter der Wiederentdeckung des Nationalen auch ein Protest gegen die Tendenzen einer alles verschlingenden Globalisierung verbirgt, ist längst eine soziologische Binsenweisheit. Für die These spricht, dass sich Ländermannschaften wachsender Popularität erfreuen, obwohl die spielerische Kluft zwischen Spitzenkicks der Champions League und Ländermatches von Jahr zu Jahr größer wird. Noch in den Hochzeiten der New Economy hatte selbst Trendsetter Franz Beckenbauer erklärt, Nationalteams seien ein Auslaufmodell, die Zukunft gehöre den Global Player Teams im Rahmen einer europäischen Eliteliga. Heute jedoch scheint unbestritten, dass der Fußball-Patriotismus mit dem Verdruss des einfachen Fans am globalisierten Fußballbetrieb zusammenhängt: der merkantilen Totalherrschaft des Weltfußballverbandes FIFA während der WM und der rückläufigen Identifikation mit der eigenen Vereinswelt, seit das auswärtige Schnäppchen häufig mehr zählt als der einheimische Talentschuppen.
Dennoch gab es nicht wenige WM-Beobachter, die mit der Betonung des Partycharakters das patriotische oder neunationale Moment gleichsam spaßgesellschaftlich zu dementieren bzw. analytisch zu entschärfen versuchten, indem sie den Spaßfaktor am nationalen Freudentaumel, so zum Beispiel supranationale Verbrüderungsszenen auf der Fanmeile, besonders hervorkehrten. Zunächst schien FAZ-Feuilletonchef Frank Schirrmacher mit seiner Vermutung nicht ganz falsch zu liegen, dass man das gigantische Fußballfest auch als eine hochemotionale Flucht aus der ärgerlichen Alltagspolitik interpretieren müsse. Nicht Fußball und Politik, sondern Fußball statt Politik lautete hier die Devise: "Das Land erlebt diese Spiele als Befreiung von Politik. Als Befreiung von Politik, plus Christiansen plus Hans-Olaf Henkel (...). Es ist wie ein großes Ausatmen, wiedie Rückeroberung eines öffentlichen Raums."
Neufassung des deutschen Patriotismus
Partywillen statt Patriotismus? Kalauernde Wortschöpfungen machten die Runde: "Partyotismus", "Party-Patriotismus" oder "Partykratie". Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig nannte im Deutschlandfunk die Sommerfußballfete einen "postpatriotischen Partyotismus" oder "Wellness-Patriotismus". Und Alfons Kaiser attestierte in der FAZ der Fanmeilenstimmung "Kuschelcharakter mit Verwöhnaroma".
Die Präsidentin der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder, Gesine Schwan, sah keine Nationalgefühle überschießen, sondern nur das extensive Ausleben von "Versammlungsfreude" - bei schönem Sommerwetter, versteht sich! Auch Kurt Kister wartete in der Süddeutschen Zeitung mit einer eigenwilligen Deutung jenseits des Patriotischen auf. Das wirklich Neue an der "WM-Kirmes" stelle die Gegenbewegung des Public Viewing dar. Sie richte sich gegen die vereinsamte Lebensart der Unterhaltungstechnologie (iPods, Gameboys, Surfen im virtuellen Netz). Kein neuer Patriotismus sei hier am Jubeln, sondern das Bedürfnis, "mit anderen, auch Unterschiedlichen, eins zu sein". Ebenso wiegelte der Historiker Hans-Ulrich Wehler ab: Der neue Patriotismus sei nichts anderes als eine "Parallelerscheinung zum rheinischen Karneval", also eine Form des Hedonismus; während Medienwissenschaftler Norbert Bolz sogar "eine neue Religion der Freude" heraufziehen sah.
Das Volk habe, ganz postmodern, begonnen, mit den nationalen Symbolen und Gefühlen spielerisch umzugehen. Nach dieser Interpretation des Großbritannien-Korrespondenten der Zeit, Jürgen Krönig, hat Deutschland während der WM die "Geburt eines ironisch-gebrochenen, augenzwinkernden Patriotismus" erlebt. Patriotismus sei in dieser Form ohnehin nur noch "das Synonym für die Bereitschaft zur ganz großen Party", pflichtet Dirk Kurbjuweit im Spiegel bei. "Dabeisein- und Mitfühlenwollen" sei das wichtigste, analysiert der Soziologe Karl-Otto Hondrich: "Mit wem oder gegen wen ist zweitrangig." Insofern habe die WM-Feier gezeigt, wie sehr das Nationale "ganz normal" sei.
Soviel scheint - trotz aller divergierenden Interpretationen - zumindest festzustehen: dass es sich beim deutschen "Sommermärchen" um ein neues deutsches Phänomen handelt. Jörg Lau resümiert, dass eine Neufassung des Patriotismus schon deshalb notwendig sei, weil die alten Kontroversen als beigelegt angesehen werden müssten. Während die Linke unter Kanzler Schröder die Nation wiederentdeckt habe, schreckten die Konservativen vor weiterem Geschichtsrevisionismus zurück: "Patriotismus kann sich heute weder im ,Nie wieder` der Gedenkkultur noch im beschaulichen Stolz aufs Ererbte und Erreichte erschöpfen." Verlief also die ganze Debatte um die Unverkrampftheit eines neuen deutschen Patriotismus nicht viel zu altdeutsch verkrampft?
Wie so häufig in diesen Landen bereitete am Ende der demoskopische Realismus des Institutes in Allensbach allen Neuerfindungsspekulationen ein jähes Ende. Die Einstellung der Deutschen zum Nationalgefühl wie zur nationalen Symbolik habe sich schon längst - nämlich seit der Deutschen Einheit - "grundlegend geändert". Skepsis gegenüber nationaler Begeisterung habe sich weitgehend verflüchtigt. Nur noch knapp über 20 Prozent der Bevölkerung seien der Meinung, dass sich wegen der deutschen NS-Vergangenheit die Pflege von nationalen Gefühlen und Symbolen nicht gezieme. Und lediglich zwei Prozent witterten hinter dem schwarz-rot-goldenen Fußballtaumel die Vorzeichen eines neuen deutschen Nationalismus.
Solche Umfragen nähren zumindest den beschwichtigenden Eindruck, ein neuer Patriotismus könnte mittlerweile so sehr zur Normalität geworden sein, dass uns seine Existenz außerhalb von Großevents kaum noch ins Auge springt. Sönke Wortmanns Kinohit Sommermärchen wird uns also kaum lehren können, wie man das "geile WM-Gefühl" immer wieder abrufen kann. Eher steht der populäre Streifen dafür, wie ein Projektleiter dank enormer suggestiver Fähigkeiten ein minderbemitteltes Team in eine fast unüberwindliche "Sekte ohne Substanz" verwandeln konnte und dabei das zunächst skeptische Publikum durch eine Erfolgsserie in wachsende Begeisterung versetzte.
Aus: Seitz, Norbert: Die Nachhaltigkeit eines neuen Patriotismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ 01-02/2007). Im Internet: Externer Link: https://bpb.de/apuz/30729/die-nachhaltigkeit-eines-neuen-patriotismus?p=all (15.05.2014)
Eine Druckversion des Arbeitsblattes steht als Interner Link: PDF-Datei zur Verfügung.