Das Parlament: Ihr Drei kommt ursprünglich aus den unterschiedlichsten Teilen Deutschlands und der Welt. Was genau ist für Euch eigentlich Deutschland?
Ariane: Zuallererst würde ich sagen, Deutschland ist meine Heimat. Hier fühle ich mich wohl, hier kann ich viele Dinge tun, die ich will. Meine Familie ist hier und meine Freunde und die Menschen sprechen meine Sprache.
Maria: Das sehe ich genauso. Aber Deutschland ist ja groß! Dazu gehört die Küste, dazu gehört Bayern. Ganz sicher würde ich mich nicht überall so wohl fühlen wie hier in Berlin.
Pritpal: Ich bin zwar in Deutschland geboren, habe aber bis zu meinem 10. Lebensjahr in Indien gelebt. Heute bin ich froh, dass wir zurückgekommen sind, dass ich in Deutschland leben kann. Hier fühle ich mich viel sicherer als in Indien, die Leute sind sehr freundlich, ich habe die deutsche Sprache gelernt, gehe hier zur Schule. Ich könnte mir nicht vorstellen, wieder wegzugehen.
Das Parlament: Es klingt immer so platt, aber würdet Ihr sagen, Ihr seid stolz, Deutsche zu sein?
Pritpal: Schon. Ich bin stolz, dass ich hier geboren bin und dass ich zum Beispiel umsonst zur Schule gehen kann. Das ist in Indien nicht selbstverständlich. Da muss man für Bildung Geld bezahlen und das können viele Menschen nicht. Vielleicht hätte ich in Indien keine so gute Zukunft, hätte keine Schule besucht und müsste auf der Straße betteln.
Maria: Ich finde es sehr schwierig, von Stolz zu sprechen. Ich kann sagen: Ich bin dankbar und froh, dass ich hier lebe, dass ich meine Ausbildung machen kann und der Staat sie finanziert. Aber andererseits habe ich doch mit dem, was alles in diesem Land passiert, nicht viel zu tun.
Pritpal: In Indien hätten die Leute dieses Problem überhaupt nicht. Da würde jeder sofort sagen, dass er stolz ist, Inder zu sein. Ich finde, es ist letztlich egal, zu welcher Nation ich gehöre. Ich würde immer stolz darauf sein. Das ist doch normal.
Ariane: Naja, normal. Ich finde die Frage zu schwer, um sie einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Natürlich bin ich froh, dass ich hier geboren bin. Du hast es ja gesagt: Wir genießen in Deutschland Freiheiten, die anderswo, auch in Indien, nicht selbstverständlich sind, in der Bildung und in anderen Bereichen. Deshalb gibt es umgekehrt auch keinen Grund, mich dafür zu schämen, dass ich Deutscher bin.
Das Parlament: Würdest Du das als stolz bezeichnen?
Ariane: Stolz klingt so hochtrabend. Ich würde eher sagen, ich bin zufrieden, Deutscher zu sein, ich bin gerne Deutscher. Aber wäre ich Spanierin, würde ich auch sagen, ich bin gerne Spanierin. Das bekommt man so mit, wenn man in einem Land geboren wird.
Das Parlament: Wie geht Ihr denn mit nationalen Symbolen um? Habt ihr zur Fußball-Weltmeisterschaft auch die deutsche Fahne getragen?
Ariane: Schon (lacht). Ich hatte eine Fahne am Auto und habe mich von Freunden auch mit schwarz-rot-goldener Farbe bemalen lassen.
Maria: Ja, eine Fahne hatten wir auch am Auto. Aber ich muss ganz ehrlich sein, ich war auf der Fanmeile bei einigen Spielen und mir ist das jetzt nicht so aufgefallen mit den Fahnen. Es waren ja auch schwedische Fahnen da oder portugiesische. Wenn die Leute bei einem Tor die Flaggen geschwenkt haben, hat man sich halt mitgefreut.
Ariane: So habe ich es auch erlebt. Da, wo ich immer Fußball geguckt habe, am Bundespressestrand, war eine so gute Stimmung, es wurde nie eklig oder komisch, gar nichts. Als wir das Halbfinale verloren hatten, haben alle ihre Fahnen eingepackt und sind nach Hause gegangen.
Das Parlament: Und habt Ihr die Nationalhymne gesungen?
Ariane: Um ehrlich zu sein, ich kann den Text immer noch nicht, auch jetzt noch, nach der WM. Aber ich habe mich darum auch nie bemüht. Wie soll ich sagen: Die Nationalhymne steht für mich in der Hierarchie der nationalen Symbole ganz oben. Die einfach zu singen, bis dahin ist es schon noch ein Schritt.
Das Parlament: Aber letztlich habt Ihr, nach dem was Ihr schildert, die vielen Fahnen, die "Deutschland, Deutschland"-Rufe und Hymnen-Gesänge zur WM nicht als etwas Ungewöhnliches oder gar Bedrohliches empfunden?
Pritpal: Nein, ich habe das erwartet. Genauso, wie ich erwartet habe, dass sich die Leute auch nach der Niederlage noch freuen und weiterfeiern. Die WM war doch ein Riesenerlebnis! Alles im eigenen Land, man konnte sogar ins Stadion gehen und die Spiele live sehen. Ich selbst hatte zwar keine große Lust, mit einer Fahne herumzulaufen. Aber die, die es getan haben, sind doch nicht gleich Nationalisten.
Ariane: Stimmt. Ich hatte sogar das Gefühl, dass die Leute darauf gewartet haben, endlich mal die Symbole ihres Landes zeigen zu können. Es ging ja nicht darum, dass man hinter Deutschland steht, sondern es ging um die deutsche Mannschaft. Und weil die Leute wussten, wie das interpretiert werden könnte, haben sie sehr darauf geachtet, dass das auch so verstanden wird.
Maria: Den Eindruck hatte ich auch. Wir haben mit der WM ein so gutes, lockeres Verhältnis zur Fahne aufgebaut. Nur haben das manche Medien dann derart aufgebauscht, dass es einen wieder völlig zurückgeworfen hat.
Ariane: Ja, einige Medien haben gleich wieder plakative Überschriften gefunden und Schrecken verbreitet, und das obwohl doch alles friedlich war. Die Leute haben zusammen mit anderen Nationen gefeiert und alles verlief ruhig. Die Diskussion in den Zeitungen war völlig überflüssig.
Das Parlament: Wie erklärt Ihr Euch diese Reaktionen?
Ariane: Das ist eine Grenze, auf die wir immer wieder stoßen, mit der wir immer wieder konfrontiert werden. Wir sollen an die Vergangenheit erinnert werden und bloß nicht in unsere Köpfe bekommen, dass unsere Generation gar keine aktive Schuld an dieser Vergangenheit trägt. Man erwartet einfach von uns, immer noch, dass wir eine besondere Rolle einnehmen, dass wir diese Distanz zu unserer Nation haben.
Maria: Da ist was dran. Ich persönlich habe auch nichts gegen Fahnen oder die Nationalhymne, überhaupt gegen nationale Symbole. Aber was ich immer schwierig finde, ist, dass die Medien im gleichen Atemzug mit dieser Debatte oft Wahlergebnisse oder sowas nennen, wie die der Rechtsextremen in Mecklenburg-Vorpommern. Da denke ich dann schon, oh oh, halten wir uns lieber zurück. Die Bilder von den Rechten werden ja auch woanders und im Ausland gezeigt. Und wie wollen die Leute dort unterscheiden, dass ich so einer oder so einer bin, wenn sie mich mit der Fahne im Fernsehen sehen?
Das Parlament: Glaubt ihr trotzdem, dass sich seit der WM etwas verändert hat im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation?
Maria: Nein. Das war nur eine Euphorie, eine momentane Stimmung. Mir ist nur neulich im Urlaub auf Mallorca etwas aufgefallen. Da haben einige Deutsche ihre Liegestühle reserviert. Aber nicht mit Handtüchern, sondern mit Deutschlandfahnen. Das habe ich vor der WM noch nie so gesehen.
Pritpal: Ich glaube, da ist schon was passiert mit den Leuten. Als sie zur WM die Fahnen herausgeholt haben, hat keiner was dagegen gehabt, auch die anderen Länder nicht. Dabei haben wir immer Angst gehabt, dass andere dann schlecht über uns denken könnten, uns als Nationalisten sehen, die wieder Krieg führen wollen. Durch die WM haben wir gemerkt, dass das nicht stimmt. Wir sind sicherer geworden. Und die Fahnen sind danach ja auch meistens wieder verschwunden.
Ariane: Die Deutschen haben zur WM einfach bewiesen, dass sie verantwortungsvoll mit nationalen Symbolen umgehen können, ohne jedes Mal auf ihre Vergangenheit angesprochen werden zu müssen. Gerade in unserer Generation, denke ich, fangen die Leute an, umzudenken.
Das Parlament: Welche Rolle spielt für Euch die nationalsozialistische Vergangenheit? Ist das ein Thema Eurer Generation?
Maria: Ich kann nicht sagen, dass sie keine Rolle spielt. Aber es ist doch auch so, dass ich persönlich mit dieser Vergangenheit nichts zu tun habe. Ich bin 1984 geboren. Das heißt, ich lebe zwar in dem Land, in dem es passiert ist, aber eine persönliche Schuld trage ich nicht. Trotzdem gehen wir alle sehr vorsichtig mit unserem Nationalstolz um. Das Parlament: Wie äußert sich diese Vorsicht?
Maria: Sie äußert sich zum Beispiel im Umgang mit Ausländern. Ich denke, wir halten uns oft unbewusst mit Äußerungen zurück, weil wir befürchten, sie könnten falsch gedeutet werden.
Ariane: Ja? Das geht mir nicht so. Ich gehe mit Ausländern genauso um wie mit Deutschen. Die wollen doch selbst auch nicht immer diese besondere Rolle zugeschrieben bekommen, sondern einfach als Menschen behandelt werden. Warum dann diese Zurückhaltung?
Maria: Ich glaube, das liegt auch ein bisschen daran, wie andere europäische Länder uns sehen. Die kriegen ja gleich solche Ohren, wenn man sagt, man ist stolz, Deutscher zu sein. Zum Beispiel in England. Oft sieht man die Reaktionen und denkt, uups, jetzt hab ich aber zu viel gesagt. Ich bin da echt vorsichtig, weil ich erst mal gucke, wie die Leute mir gegenüber treten.
Ariane: Aber im Ausland gibt es auch Menschen, die unsere Geschichte kennen, und trotzdem sagen, ihr habt daraus gelernt, also stellt euch nicht immer unter den eigenen Scheffel. Meine Erfahrung ist, dass Deutsche das meistens mehr zu einem Thema machen, als andere Länder das tun.
Pritpal: Das glaube ich auch. Wir bilden uns nur ein, dass die anderen immer auf uns gucken, zum Beispiel, wenn wir mit Deutschlandfahnen herumlaufen. Dabei letztlich spielt es für viele gar keine so große Rolle. Vielleicht gibt es noch Ängste in der älteren Generation, bei Leuten, die den Krieg noch erlebt haben. Aber die junge Generation weiß doch gar nicht, wie schlimm das damals war. Die stören sich auch nicht an einer Fahne.
Ariane: Mit einer Einschränkung. Wir hatten in unserer Schule gerade ein deutsch-israelisches Treffen, und die jungen Israelis, die bei uns waren, haben sehr wohl noch die besondere Verantwortung Deutschlands eingefordert. Sie haben gesagt, ihr müsst vorsichtig sein, ihr habt immer noch eine Verantwortung, auch drei, vier Generationen später. Das hat mich schon sehr überrascht.
Das Parlament: Wenn man Euch zuhört, spürt man, wie schwierig es ist, als Jugendlicher in diesem Land ein ungestörtes Verhältnis zu Deutschland aufzubauen. Wie lange wird es Eurer Meinung nach noch dauern, bis das möglich ist?
Pritpal: Bis zur nächsten Generation, denke ich. Unsere Kinder werden kein Problem mehr damit haben.
Ariane: Möglich. Vielleicht aber auch erst unsere Enkel. Was im Dritten Reich geschehen ist, ist so gravierend, dass man es nicht innerhalb einer Generation vergessen oder verarbeiten kann. Das ist ein langer Prozess.
Das Parlament: Wohin sollte dieser Prozess Eurer Meinung nach führen? Wie sollten die Deutschen in Zukunft mit ihrer Nation umgehen?
Maria: Wir sollten uns einfach nicht mehr so verantwortlich fühlen müssen. Wir konnten die Geschichte nicht beeinflussen, haben keine Schuld daran. Auf der anderen Seite sollten wir auch wissen, dass wir uns davon nicht völlig frei machen können.
Ariane: Schön wäre es, wenn wir nicht immer hinterfragen müssten, ob wir eine Fahne tragen dürfen oder nicht, wenn wir einen normalen Umgang mit unserer Nation, mit ihren Symbolen finden würden. Ich finde, dass das unser Recht ist. Und das können wir ruhig einfordern.
Das Interview führte Johanna Metz.
Aus: Wir haben das Recht, unbefangener zu sein. Jugendliche sprechen über ihr Deutschlandgefühl, in: Das Parlament: Nr. 42 / 16.10.2006, Externer Link: http://www.das-parlament.de/2006/42 (19.5.2014).