[…] Als Brasilien im Oktober 2007 den Zuschlag für die Weltmeisterschaft 2014 bekam, schwappte eine Welle der Euphorie durch das Land. Die Fans hofften, dass ihr Team zu Hause den Titel holen würde; die Bürger hofften, dass sich durch Investitionen die Lebensbedingungen für die rund 200 Millionen Einwohner verbessern würden. Der damalige Präsident Lula da Silva, der dazu beigetragen hatte, das einst als fast hoffnungslos abgeschriebene Brasilien unter anderem durch Rohstoffexporte zur mittlerweile siebtstärksten Wirtschaftsmacht der Welt zu machen und mit Sozialprogrammen Millionen aus der Armut zu führen, weinte vor Glück. Doch jetzt herrscht fast im ganzen Land Kater- statt Partystimmung.
Um Platz für WM-Bauten zu schaffen, wurden Tausende Menschen umgesiedelt. Oft gegen ihren Willen. Dennoch werden viele der angekündigten Bauvorhaben gar nicht oder erst in letzter Sekunde fertig werden. Nie zuvor ist ein WM-Land so in Verzug geraten. Die durch Spezialeinheiten der Militärpolizei angekündigte "Befriedung" der gefährlichen Armenviertel, in denen Drogengangster das Regiment übernommen hatten, gelang nur teilweise und unter Einsatz heftiger Gewalt. Auch Unschuldige wurden dabei getötet. Viele Favela-Bewohner, die die Aktionen zunächst begrüßten, klagen mittlerweile, dass die teilweise korrupten Polizisten oft erst schießen, dann fragen. Immer wieder wird den Sicherheitskräften Rassismus vorgeworfen, denn die Opfer sind meist junge, schwarze Männer.
Während der WM gelten die "FIFA-Gesetze"
Die Situation in vielen staatlichen Krankenhäusern ist katastrophal, in der internationalen Pisa-Studie belegt Brasilien den 58. von 65 Plätzen, immer wieder kommt es zu Stromausfällen, viele Arbeiter verbringen jeden Tag Stunden in überfüllten Bussen und Bahnen, um zur Arbeit zu kommen. Trotzdem wurden Verbesserungen im Gesundheits-, Bildungs- und Infrastrukturbereich gar nicht, verspätet oder nur halbherzig angegangen.
Weil die Regierung sich bemüht, die Forderungen der FIFA einzuhalten und dabei oft die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung vernachlässigt, unterstützt das evangelische Hilfswerk "Brot für die Welt" derzeit 49 Projekte in dem Schwellenland, aus dem sich viele Hilfsorganisationen bereits zurückgezogen haben. Gefördert werden neben der ländlichen Entwicklung unter anderem Programme gegen Gewalt, insbesondere gegenüber Frauen und Kindern. Gerade jetzt, vor der WM. "Die Regierung will auch die friedlichen Proteste gegen die WM schon im Keim ersticken. Wir unterstützen deshalb jene bei der Einforderung ihrer verfassungsmäßigen Rechte, die am stärksten darunter leiden, dass die versprochenen Verbesserungen in Gesundheits-, Bildungs-, Infrastruktur- und Sicherheitsbereich nicht eingehalten wurden", sagt Fátima Nascimento, Koordinatorin einer brasilianischen Partnerorganisation von "Brot für die Welt".
Der Protest der Brasilianer richtet sich nicht nur gegen die eigene Regierung, sondern auch gegen die FIFA. Viele empfinden die Funktionäre mit ihren teuren Anzügen und ihren rigorosen Vorschriften als moderne Kolonisatoren, die gekommen sind, um gewaltige Gewinne abzuschöpfen. Denn während der WM gelten in Brasilien die sogenannten Fifa-Gesetze, die dem Fußballverband und seinen Sponsoren unter anderem exklusive Verkaufszonen und die Befreiung von jeglichen Abgaben einräumen. Vor einem Jahr waren laut Meinungsforschungsinstitut Datafolha noch 65 Prozent der Befragten für die WM, im April lag die Zustimmung nur noch bei 48 Prozent. Mehr als die Hälfte der Befragten stimmt mittlerweile den Protesten im Land zu.
Regierung reagiert zunehmend dünnhäutig
Externer Link: http://www.rp-online.de/sport/fussball/wm/brasilien-wir-lieben-fussball-wir-hassen-die-wm-aid-1.4253798 (26.5.2014).
Arbeitsaufträge:
Welche Gründe führen einige Brasilianer dazu, gegen die WM zu protestieren? Erarbeitet Argumente aus der Sicht dieser Menschen gegen die WM.
Notiert Argumente für die WM.
Bereitet euch für die Talkshow vor, indem ihr euch mit den Argumenten für die Pro-Seite („Es wird die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten“) als auch für die Contra-Seite („Es wird keine Weltmeisterschaft in Brasilien geben“) kritisch auseinandersetzt.
Eine Druckversion des Arbeitsblatts steht als Interner Link: PDF-Datei zur Verfügung."es>