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Protest statt Party? | Sport und Politik | bpb.de

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Informationen zur politischen Bildung Nr. 357/2023

Protest statt Party? Sozial- und Menschenrechte als sportpolitische Herausforderungen

Jürgen Mittag

/ 14 Minuten zu lesen

Durch seine hohe Symbolkraft und Mobilisierungsfähigkeit wird Sport verstärkt zum Resonanzboden für Proteste. Diese umspannen gesellschaftliche Problemfelder sowie spezifische sportpolitische Themen.

Demonstrierende verteilen vor dem Spiel Deutschland gegen Ungarn während der Fußball-EM der Männer am 23. Juni 2021 in München Regenbogenfähnchen, um auf die prekäre Lage der LGBTQI+-Community in Ungarn aufmerksam zu machen (© picture-alliance, Pressebildagentur ULMER | ULMER)

Zu den grundlegenden Merkmalen von Protest gehört die Artikulation von Widerspruch, die mit der Forderung nach Wandel oder Veränderung verbunden wird, um einen Missstand zu beheben oder vor drohenden Fehlentwicklungen zu warnen. Der Protest geht in der Regel von der Zivilgesellschaft oder sozialen Bewegungen aus. Diese reagieren damit auf fehlende Aufmerksamkeit oder mangelnde Lösungskapazität der staatlichen Organe und der etablierten Repräsentationsorganisationen, vor allem der politischen Parteien. Die dabei zum Tragen kommenden Formen des Protestrepertoires variieren im Sport ebenso wie in anderen Politikfeldern. Bemerkenswert ist, dass Sportlerinnen und Sportler in den letzten Jahren selbst verstärkt zu Akteuren politischen Protests geworden sind.

Menschenrechtsproteste gegen racial segregation

Als wichtiges Beispiel für sportbezogene Menschenrechtsproteste gilt der mehrjährige Protest gegen die „Rassentrennung“ in Südafrika. Seit Beginn der sogenannten Apartheid 1948 wurde die nicht-weiße Bevölkerung in Südafrika in allen Lebensbereichen diskriminiert; auch in den Sportligen, auf Tribünen und an den Stadioneingängen wurde nach Hautfarbe getrennt. Diese Politik verstärkte den internationalen Druck auf Südafrika, der letztlich dazu beitrug, dass das Land Ende der 1960er-Jahre in fast allen Disziplinen von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen wurde.

Eine Ausnahme machte allein das International Rugby Board (seit 2014 World Rugby), das dadurch besonders vehemente Proteste provozierte. Deutlich wurde dies 1969/70, als die Springboks, die südafrikanische Rugby Nationalmannschaft, eine Tour durch England, Wales und Irland antraten. Protestdemonstrationen von Apartheidgegnerinnen und -gegnern vor den Stadien zählten ebenso zu den Praktiken wie Sitzblockaden und Platzstürme in den Stadien. Diese und zahlreiche weitere Protestaktionen führten zur fast vollständigen Isolation des südafrikanischen Sports. Der weltweite Sportprotest gegen Südafrika – 1976 wurde das Land auch aus der FIFA ausgeschlossen – trug letztlich einen Teil dazu bei, das Apartheid-Regime weltweit zu ächten. Erst nach dessen Ende durfte Südafrika 1992 wieder an Olympischen Spielen teilnehmen.

Sozialproteste im Zuge des brasilianischen Confed-Cup 2013

In Brasilien wurde im Juni 2013 der FIFA-Konföderationen-Pokal (Confed-Cup) ausgerichtet, der als Generalprobe für die ein Jahr später an gleicher Stelle stattfindende Fußball-Weltmeisterschaft der Männer diente. Der Gastgeber Brasilien hatte bereits Mexiko geschlagen und sollte am Ende das Finale gegen den amtierenden Welt- und Europameister Spanien gewinnen. Ungeachtet dieser Erfolge kam es am Abend des 20. Juni 2013 in über 400 Städten des Landes zu massiven Protesten mit insgesamt rund zwei Millionen Teilnehmenden. Allein in Rio de Janeiro gingen etwa 300.000 Menschen auf die Straße.

Den Ausgangspunkt der Proteste bildeten Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. Der Unmut über die soziale Lage Brasiliens hatte bereits seit längerem geschwelt, aber erst der Confed-Cup zündete den Funken, der das Pulverfass zur Explosion brachte. In den folgenden Tagen kam es zu Massenprotesten gegen zahlreiche Missstände im Land: von gestiegenen Mieten über erhöhte Preise für Lebensmittel bis hin zur grassierenden Korruption. Binnen kürzester Zeit breiteten sich die Proteste wie ein Flächenbrand über das ganze Land aus. In einigen Städten eskalierten die zunächst friedlichen Proteste und mündeten in regelrechten Straßenschlachten zwischen Demonstrierenden und Polizei. Erst nach erheblichen Beschwichtigungsversuchen und Zugeständnissen der brasilianischen Regierung ebbten die Proteste ab, die zu den größten seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 zählen.

Die Proteste in Brasilien dokumentieren, dass Sportgroßveranstaltungen selbst bei erfolgreichen Heimmannschaften nicht mehr nur im Sinne eines „Brot und Spiele“-Prinzips [durch staatlich organisierte Unterhaltung werden drängende gesellschaftliche Probleme vergessen, Anm. d. Red.] fröhlich entgegengefiebert wird. Es geht nicht nur darum, in diesem Rahmen ausgelassene Partys zu feiern oder sich für einige Wochen in einem kollektiven Rausch dem Fußballspektakel hinzugeben. Sportgroßereignisse sind nicht nur Massenunterhaltung, sondern in zunehmendem Maße auch eine Bühne für politischen Protest. Dieser kann sowohl nach innen wie auch nach außen gerichtet sein.

Bürgerproteste gegen Olympische Spiele

Am 29. November 2015 votierten 51,6 Prozent der sich beteiligenden Hamburger Bürgerinnen und Bürger gegen eine Bewerbung ihrer Stadt um die Sommerspiele 2024. Dieses Resultat markierte zugleich das Ende einer monatelangen Kontroverse in der Hansestadt über das Für und Wider von Olympischen Spielen. Unter dem Schlagwort „NOlympia-Hamburg“ riefen die örtlichen Olympia-Gegnerinnen und -Gegner zu einer Fülle von Aktivitäten auf, die im weitesten Sinn auffordernden Charakter hatten. Hierzu zählten insbesondere Unterschriftensammlungen und Petitionen.

Eine zentrale Rolle kam den Medien zu: Während die klassischen Medien, also Funk, Fernsehen und Printmedien, tendenziell für eine Bewerbung eintraten, stützte sich die Gegenpartei vor allem auf das Internet und die sozialen Medien. Von den sechs Fraktionen der Hamburger Bürgerschaft votierte nur die Partei Die Linke gegen die Bewerbung, während die anderen Parteien, unterstützt durch die Stadtspitze und den DOSB, mehrheitlich für eine Bewerbung eintraten. Die großangelegte „Feuer-und-Flamme“-Werbekampagne der „Bewerbungsgesellschaft Hamburg 2024“ wurde von den politischen Parteien mit zahlreichen Plakaten sowie einer Fülle von Informationsveranstaltungen unterstützt.

Der Protest in Hamburg stützte sich auf ein breites, aber heterogenes Bündnis von Olympia-Gegnerinnen und -Gegnern, zu dem Gewerkschaften und Naturschutzgruppen ebenso zählten wie Personen aus Stadtplanung und Wissenschaft. Ihren Ausdruck fanden die Protestaktivitäten neben einzelnen Straßenaktionen vor allem in umfassender Internetarbeit, die auf Facebook, Twitter sowie in Internet-Blogs und Seiten wie „NOlympia Hamburg – Etwas Besseres als Olympia“ und „fairspielen.de“ zum Tragen kam. Das digital vermittelte „NO“ neben den bunten olympischen Ringen avancierte dabei zum wichtigsten Symbol der Protestbewegung.

Von den Olympia-Gegnerinnen und -Gegnern wurden kritische wissenschaftliche Studien ebenso verbreitet wie Argumentationshilfen für die Debatte auf der Straße. Damit setzte die Protestbewegung sich primär das Ziel, auf das von der Stadtspitze anberaumte Referendum Einfluss zu nehmen. Eine ähnliche Zielsetzung verfolgte auch die Hamburger Initiative „Argumente für ein NEIN zu Olympia“. Demgegenüber zielte die Volksinitiative „Stop Olympia“ darauf, bis zum Referendum 13000 Unterschriften zusammenzubringen, um auf diesem Wege ein späteres Volksbegehren oder einen Volksentscheid anzustrengen. Der Erfolg der Olympia-Gegnerinnen und -Gegner wird zu einem erheblichen Teil der umfassenden Nutzung der sozialen Medien zugeschrieben.

Fanproteste gegen Kommerzialisierung im Fußball

Zu den dauerhaften Protestformen im Sport zählen mittlerweile die zahlreichen Aktionen gegen überzogene Kommerzialisierungstendenzen im Profisport. Während die Fans, vor allem im Fußball, lange Zeit nur im Stadion auf die Barrikaden gingen, um gegen überteuertes Bier oder unbeliebte Spieler aufzubegehren, sind die Protestziele und Protestformen im 21. Jahrhundert deutlich differenzierter geworden.

Zu den wirksamsten Protestformen im Sport gehört der TV-Boykott. Deutlich wurde dies, als am 27. August 2001 die 39. Bundesligasaison startete. Auf Betreiben des Medienmoguls Leo Kirch, der seinen Pay-TV-Sender „Premiere“ stärken wollte, begann die „ran“-Fußballshow des Privatsenders „Sat.1“ nicht mehr im samstäglichen Vorabendprogramm, sondern mehrere Stunden später um 20.15 Uhr. Die Zuschauenden quittierten die Verlagerung des vertrauten Sendeplatzes für den frei empfangbaren Fußball im Fernsehen mit einer bis dahin nicht gekannten Abstrafung und boykottierten die Fußballshow. Die seinerzeit nur 2,23 Millionen Fernsehzuschauenden machten deutlich, was sie vom neuen Sendeplatz hielten. In der Vorsaison hatten regelmäßig noch bis zu sieben Millionen Zuschauende „ran“ eingeschaltet. Drei Wochen später war der Tiefpunkt mit 1,68 Millionen TV-Zuschauenden erreicht. Nach nur wenigen Wochen wurde die Sendung wieder auf den früheren Sendeplatz verlegt.

Einige Monate zuvor hatten bereits andere Proteste für Furore gesorgt: Die Initiative „Pro 15.30 Uhr“ wendete sich mit Plakaten und T-Shirts – u.a. mit 20.000 Papptafeln am 27. Spieltag beim Spiel Bayern München gegen Werder Bremen – gegen die fortschreitende Entzerrung des Spieltags und forderte die Abschaffung des Sonntags als regulärem Spieltag sowie eine Festlegung auf 15.30 Uhr als reguläre Anstoßzeit. Getragen werden diese Protestformate bis heute oftmals von den Ultras. Dies sind besonders engagierte Fans, die ihren eigenen Verein lautstark und bedingungslos unterstützen, der Kommerzialisierung aber kritisch gegenüberstehen. Charakteristisch ist das hohe Maß an Kreativität und die subkulturelle Verankerung in den aktiven Fanszenen, die sich zudem zunehmend vernetzen. Zu den großen bundesweit und jenseits einzelner Vereinsstrukturen agierenden Fanorganisationen zählen Gruppierungen wie „Unsere Kurve“, „ProFans“, „Bündnis Aktiver Fußballfans (BAFF)“, „FC PlayFair!“ sowie das „Netzwerk Frauen im Fußball“.

Politischen Charakter hat auch die in jüngerer Zeit verstärkt praktizierte Strategie von Fans, Protest gegen Kommerzialisierung auf Mitgliederversammlungen zu artikulieren. Hatte Uli Hoeneß im Jahre 2007 kritische Fans noch unter großer Zustimmung hart angehen können („Wer glaubt ihr eigentlich alle, wer ihr seid?“), fand mehr als zehn Jahre später, im Jahre 2018, die Kritik eines Mitglieds aus Erding an den Alleingängen des Präsidenten und Aufsichtsratschefs große Zustimmung. Die zentrale Strategie bei diesen Aktivitäten, die auch bei den Protesten gegen das umstrittene Katar-Sponsoring von Bayern München zum Ausdruck kam, ist die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit, die sich gegen die offiziellen Stellungnahmen der Vereinsführungen richtet.

Demonstrative Proteste von Athletinnen und Athleten sowie Spielerinnen und Spielern

Die hier exemplarisch genannten Protestaktivitäten dokumentieren, welches Ausmaß im Sport mittlerweile zum Tragen kommt. Protest und Party müssen sich dabei nicht ausschließen. In Brasilien bildeten lachende, tanzende und singende junge Menschen das Gros der Demonstrierenden im Rahmen der Proteste des Confed-Cups.

Den über den Sport vermittelten Interessen und Anliegen sind thematisch keine Grenzen gesetzt. Damit kommt aber auch dem sportbezogenen Protest die Funktion eines politischen Frühwarnsystems zu, das sowohl für den Sport selbst als auch für andere über den Sport vermittelte Problemfelder Relevanz besitzt.

Die deutlichsten Veränderungen des Sportprotests der letzten Jahre spiegeln sich in den politischen Aktivitäten von Athletinnen und Athleten wider. Diese hatten lange Zeit eher eine Nebenrolle bei Protestaktionen inne oder verweigerten sich ebendiesen. So stellte der Protest des Arbeitersportlers und mehrfachen deutschen Meisters im Ringen Werner Seelenbinder, der bei der Siegerehrung der deutschen Ringermeisterschaft 1933 den Hitlergruß verweigerte, ebenso eine Ausnahme des Widerstands gegen die NS-Diktatur dar wie der Auftritt des aus einer Sinti-Familie stammenden Boxers Johann Wilhelm Trollmann. Im Kampf um den nationalen Titel im Weltergewicht war Trollmann als offensichtliche Karikatur eines „Ariers“ mit blondgefärbten Haaren und Puder bedeckter Haut angetreten. Im Ring ließ sich Trollmann ohne Gegenwehr k.o. schlagen. Seelenbinder wurde aufgrund seines Protests verhaftet, zeitweilig interniert und erhielt eine Wettbewerbssperre. 1944 wurde er aufgrund seiner Verbindung zum kommunistischen Widerstand hingerichtet. Trollmann verlor dauerhaft seine Lizenz und starb im Konzentrationslager.

Erst im 21. Jahrhundert, im Zuge verstärkter öffentlicher und medial vermittelter Debatten, hat sich die Erwartung gegenüber professionellen Sportlerinnen und Sportlern, politisch Position zu beziehen und gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen, deutlich erhöht. Diese Erwartung ist auf breite Resonanz gestoßen und äußert sich nicht allein in Interviews oder Social-Media-Posts der Profis, sondern zeigt sich auch bei Sportereignissen.

Die wichtigste Form des Protests von Athletinnen und Athleten im Sport stellt dabei der demonstrative Protest dar. In das kollektive Gedächtnis eingegangen sind die beiden afroamerikanischen Leichtathleten Tommie Smith und John Carlos, die beim 200-Meter-Finale der Olympischen Spiele 1968 den ersten und dritten Platz belegt hatten, Smith sogar in Weltrekordzeit. Beide erschienen ohne Schuhe, nur auf schwarzen Strümpfen zur Siegerehrung. Auf dem Podest senkten Smith und Carlos den Kopf und reckten eine jeweils mit einem schwarzen Handschuh bekleidete Faust in die Höhe, was als symbolische Unterstützung der Black-Power-Bewegung verstanden wurde. Beide hatten sich zudem den weißen Anstecker der Menschenrechtsinitiative Olympic Project for Human Rights angeheftet.

Die Resonanz war beträchtlich, von offizieller Seite dominierte aber die Kritik. Aufgrund der Androhung des IOC, das gesamte US-Leichtathletikteam von den Spielen auszuschließen, wurden die beiden Sprinter vom US-Verband aus dem olympischen Dorf verwiesen und aus dem Nationalkader verbannt; sie mussten auf Fördergelder verzichten und kämpften jahrelang um ihre Existenz. Erst Jahrzehnte später wurde ihr Protest als wichtiger Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung gewürdigt.

Nicht ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist hingegen der vier Jahre später praktizierte Protest der beiden afroamerikanischen 400 Meter-Läufer Vince Matthews und Wayne Collett bei den Olympischen Spielen in München. Als Erst- und Zweitplatzierte missbilligten sie das Zeremoniell der Siegerehrung durch gezieltes Zurschaustellen von Desinteresse. Vom IOC wurden sie dafür lebenslang für Olympische Spiele gesperrt. Da ihrem Protest jedoch die symbolträchtige Dimension fehlte, ist er weitgehend in Vergessenheit geraten.

QuellentextNeutralitätsgebot des IOC

Die Grundlage für den Ausschluss von Smith und Carlos bot Artikel 50.2. der IOC Charta: „Keine Art von Demonstration oder politischer, religiöser oder rassistischer Propaganda ist an olympischen Stätten, Austragungsorten oder in anderen Bereichen erlaubt.“ Mit dieser Regel verfolgt das IOC das Ziel, politische Neutralität zu wahren, um zu verhindern, dass im Zuge von Olympischen Spielen weltanschauliche Konflikte ausgetragen werden, die das eigentliche Sportereignis überlagern. Für das IOC ist vor allem von Bedeutung, dass der sportliche Wettkampf stets im Vordergrund steht; zugleich wollte das IOC aber auch vermeiden, entscheiden zu müssen, welche politischen Bekundungen richtig – oder besser zulässig – und welche falsch oder unzulässig sind.

Die Bestimmungen von Artikel 50.2 und der Ausschluss von Smith und Carlos hatten zur Folge, dass in den darauffolgenden Jahrzehnten nur eine begrenzte Anzahl von politischen Protestaktivitäten von Athletinnen und Athleten ausgeübt wurde. Eine der wenigen Ausnahmen markiert der Protest der Schweizer Nationalmannschaft („Nati“) gegen französische Atomtests 1995 auf dem Mururoa-Atoll. Beim EM-Qualifikationsspiel gegen Schweden zeigte die „Nati“ ein Banner mit der Forderung „Stop it Chirac“. Sanktionen wurden gegen die Spieler keine ausgesprochen, die UEFA verbot politische Kundgebungen in Stadien fortan aber ausdrücklich.

In der Folge tasteten sich Sportlerinnen und Sportler über verhaltene symbolische Aktivitäten stärker an den Sportprotest heran. So hatte sich die schwedische Weltklasse-Hochspringerin Emma Green bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Moskau im Sommer 2013 in der Qualifikation ihre Fingernägel in den Regenbogenfarben lackiert. Diese eher subtile Demonstration von Protest konnte als Kritik an der Diskriminierung von Homosexuellen in Russland verstanden werden, mit der die Schwedin auf das russische Anti-Homosexuellen-Gesetz im Austragungsland der bevorstehenden Olympischen Winterspiele aufmerksam machen wollte. Der internationale Leichtathletikverband vertrat zunächst die Meinung, eine freie Meinungsäußerung dürfe nicht untersagt werde, revidierte aber auf Druck der russischen Regierung diese Äußerung. Der Athletin wurde untersagt, im WM-Finale mit entsprechend lackierten Fingernägeln anzutreten. Green beugte sich dieser Vorgabe und absolvierte ihre weiteren Sprünge mit rotlackierten Fingernägeln.

Dieser Protest – und dessen Beilegung – kann als typisch für die gegenwärtigen Aktionsrepertoires im Sport gelten, denn er verdeutlicht, dass Sportlerinnen und Sportler sich angesichts veränderter Medienstrukturen und einer verstärkten Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bei Fragen der Menschenrechte zunehmend positionieren – auch im Sinne des Protests. Auf der anderen Seite erlauben die Sportverbände aber nur in einem sehr engen Rahmen die Artikulation dieses Protests, sodass hier nur ein schmaler Grat zwischen zulässiger freier Meinungsbekundung und den Grenzen von Artikel 50.2 der IOC Charta besteht. Bei der Leichtathletikweltmeisterschaft 2013 wurde dies sichtbar, als sich die beiden russischen Sprinterinnen Xenija Ryschowa und Tatjana Firowa bei der Siegerehrung küssten. Während die Medien diesen Akt als gezielten lesbischen Protestausdruck werteten, wiesen die Athletinnen dies zurück und sprachen von einer spontanen emotionalen Reaktion im Zuge der Siegesfreude.

Wie riskant es vor allem für Sportlerinnen und Sportler in autoritären System sein kann, symbolischen Protest zu äußern, zeigte sich, als sechs Nationalspieler des Irans im Jahr 2009 beim WM-Qualifikationsspiel gegen Südkorea grüne Schweißbänder trugen und damit Farbe für den Oppositionsführer Hossein Mussawi und die iranische Demokratiebewegung bekannten. Die protestierenden Spieler waren mit Sanktionen des eigenen Verbands und Nachteilen für die Profikarriere konfrontiert. Für Spieler wie den auch in der Bundesliga tätigen Mehdi Mahdavikia war dies der letzte Einsatz im Nationalkader, andere, wie Ali Karimi, wurden längere Zeit nicht berufen.

Den vorläufigen Höhepunkt der Protestbewegung im Sport markierten die Aktivitäten US-amerikanischer Sportlerinnen und Sportler im Rahmen der Black Lives Matter-Bewegung, die sich gegen Polizeigewalt gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung richtet. Zum Gesicht der Proteste wurde der NFL-Profi Colin Kaepernick, der als Quarterback der San Francisco 49ers im August 2016 begann, gegen Polizeigewalt und Rassismus zu protestieren. Er kniete beim Abspielen der Nationalhymne vor dem Match nieder und sang auch die Nationalhymne nicht mit. Dem Protest schlossen sich andere Footballspieler an, in der Folge auch Athletinnen und Athleten aus anderen Sportarten. Die Fußballnationalspielerin Megan Rapinoe war eine der ersten, die sich mit Colin Kaepernick solidarisierte. Die Sportlerinnen und Sportler sorgten mit ihrem Protest in den USA für emotionsgeladene Debatten. Zur Symbolfigur wurde Kaepernick, als er nach der Saison keinen weiteren Vertrag in San Francisco erhielt und in der Folge auch von keinem anderen Team verpflichtet wurde.

Zunächst in den USA und später auch in anderen Ländern übernahmen zahlreiche Sportlerinnen und Sportler die Kniefall-Geste. In Europa war dies insbesondere in Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Portugal der Fall, in denen die koloniale Vergangenheit und der Umgang mit Rassismus Gegenstand öffentlicher Debatten ist. Der Höhepunkt dieser Kontroverse war im September 2017 erreicht, als US-Präsident Donald Trump eine Einladung für erfolgreiche Major League-Teams ins Weiße Haus zurücknahm. Als Reaktion darauf solidarisierten sich zahlreiche weitere Sportprofis und schlossen sich der Kniefall-Geste an. Die Debatten zogen sich in der Folge weiter fort: Während einige US-Ligen den Kniefall während der Hymne offiziell verboten haben, wurde ein entsprechendes Verbot von anderen Verbänden wieder aufgehoben.

„Regenbogenproteste“ im Rahmen der EURO 2021 und der WM 2022

Wie schmal der Grat ist, auf dem der Sportprotest mittlerweile verläuft, und welche Schwierigkeiten Spitzenorganisationen im Sport haben, sich in den verschiedenen „Stellvertreterkonflikten“ zu positionieren, zeigte die Debatte um Menschenrechtsthemen und Regenbogenflaggen bei der EURO 2021 und der WM 2022. Im Rahmen der transnationalen EURO 2021 wurde vom Münchner Stadtrat – unterstützt vom Deutschen Fußballbund (DFB) – der Vorschlag eingebracht, das Münchner Fußballstadion beim Spiel Deutschland gegen Ungarn in den Regenbogenfarben zu beleuchten. Gesendet werden sollte damit ein Signal für Vielfalt und Solidarität mit der LGBTQI+-Community; zugleich sollte ein Protestzeichen gegen die rechtsnationale Regierung Ungarns unter Ministerpräsident Viktor Orban und dessen Fidesz-Partei gesetzt werden, die wenige Tage zuvor die Informationsrechte von Jugendlichen in diesem Bereich beschränkt hatte.

Während die UEFA zuvor zugestimmt hatte, dass der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft Manuel Neuer für die Dauer des Turniers eine Kapitänsbinde in den Regenbogenfarben tragen dürfe, lehnte sie die Anfrage aus München mit Verweis auf den konkreten politischen Kontext des Antrags ab. Regenbogenfahnen gab es rund um das Spiel dann aber doch: Von Menschenrechtsorganisationen wurden den Fans mehrere Zehntausend kleine Regenbogenfahnen zur Verfügung gestellt. Und die UEFA selbst färbte ihr ansonsten durch einen roten Kreis gekennzeichnetes Logo in den sozialen Medien in den Regenbogenfarben ein und erklärte: „Die UEFA ist stolz darauf, heute die Farben des Regenbogens zu tragen“.

Noch schwieriger präsentierte sich die Lage ein Jahr später, als die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar anstand. Nach anhaltender Kritik in Medien und Öffentlichkeit an der Vergabe der WM an Katar, wollten Deutschland und weitere westliche Länder ein Zeichen setzen. Um gegen die Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter und die Diskriminierung von Mitgliedern der LGBTQI+-Gemeinschaft im Emirat zu protestieren, beabsichtigten einige europäische Mannschaften mit einer abgewandelten One Love-Binde für Vielfalt einzutreten. Anders als zuvor die UEFA bei der EURO untersagte die FIFA diese Form von Protest jedoch unter Androhung von Sanktionen.

QuellentextProtest mit Blick auf die WM in Katar

Gewerkschafter Dietmar Schäfers über die Arbeitsbedingungen in Katar

Herr Schäfers, am WM-Ausrichter Qatar gibt es viel Kritik, insbesondere wegen der Arbeitsbedingungen auf den WM-Baustellen. Sie waren schon oft in Qatar […]. Wie ist Ihr Eindruck von der Lage vor Ort?

Ich war 2013 das erste Mal in Qatar und habe genau das gesehen, was in der Öffentlichkeit immer kritisiert wird: schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Unterkünfte, schlechte hygienische Verhältnisse. Wir haben dann mit dem qatarischen WM-Organisationskomitee, das für die Ausrichtung der Weltmeisterschaft und den Bau der Stadioninfrastruktur verantwortlich ist, eine Vereinbarung getroffen. Diese hat uns ermöglicht, immer wieder Arbeitsinspektionen zu machen. Und mein Eindruck ist, dass es den Wanderarbeitern auf den WM-Baustellen zuletzt viel besser ging. Die Arbeitsbedingungen entsprachen dank der Maßnahmen der vergangenen Jahre den deutschen oder amerikanischen Standards.

Lob von einem Gewerkschafter für die Arbeitsbedingungen in Qatar – das kommt unerwartet.

[…] In autokratischen Staaten wie Qatar können Sie die Situation aber nicht von jetzt auf gleich verändern. Wir haben in Deutschland 100 Jahre für den Standard gebraucht, den wir heute haben. Das entschuldigt nicht die Menschenrechtsverletzungen in Qatar, da möchte ich nicht falsch verstanden werden. […] Es ist [aber] unrealistisch zu glauben, dass sich die Lage dort von heute auf morgen verändert.

Sind die Gastarbeiter, die ja oft aus Südasien stammen, selbst auch der Ansicht, dass sich ihre Situation verbessert hat?

Ja. Allein bei meiner letzten Reise habe ich mit bestimmt 250, vielleicht 300 Wanderarbeitern gesprochen. Das sind zum Teil Baustellensprecher, aber auch ganz normale Bauarbeiter und Beschäftigte aus Sicherheitsdiensten. Die sagen mir: Nach der WM wird hier das Licht ausgehen, und man wird nicht mehr so viel über Qatar berichten. Aber bitte bleibt als internationale Gewerkschaft im Land, denn seit ihr da seid, geht es uns ein bisschen besser.

Sie sprechen von westlichen Standards. Unter welchen Bedingungen arbeiten und leben die Gastarbeiter denn in Qatar?

Auf den Baustellen, auf denen wir waren, sind sie in der Regel gut untergebracht. Nicht in kleinen Räumen mit zehn oder zwölf Arbeitern, sondern maximal zu viert. Bei der Essensversorgung werden die jeweiligen Gewohnheiten aus den Herkunftsländern berücksichtigt. […] Es gibt Schulungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Und dann sind da noch die sogenannten Community Leader, die ihre Landsleute vertreten und mit denen man sich austauschen kann, wenn zum Beispiel irgendwo mal der Lohn nicht gezahlt wird. Viermal im Jahr treffen diese Vertreter den qatarischen Arbeitsminister und besprechen, was gut läuft und was nicht. […]

[…] Amnesty International berichtet weiter von Menschenrechtsverletzungen in signifikantem Ausmaß.

Die Verbesserungen, die ich geschildert habe, gelten nicht für die Masse der über 2 Millionen Wanderarbeiter in Qatar, sondern nur für die in der Spitze rund 40.000 Arbeiter auf den WM-Baustellen. Also dort, wo Stadien, Straßen und Hotels entstehen […] Es ist noch ein weiter Weg. Aber es tut sich was.

Das Gespräch führte Britta Beeger, „Den Arbeitern auf den WM-Baustellen geht es viel besser“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. November 2022

Warum die Deutschen die WM in Katar boykottieren wollen

Eine Umfrage hat [...] ergeben, mehr als zwei Drittel der Deutschen hätten vor, die Spiele der eigenen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Qatar nicht anzuschauen. Dafür wurden drei Gründe angegeben. Protest gegen die Umstände der WM, Desinteresse am Fußball und Missvergnügen an der Kommerzialisierung des Fußballs.

Was den Protest angeht, so gibt es keinen verständigen Menschen, der ihn nicht teilt. Die FIFA ist korrupt, Qatar ist ein die Menschenrechte mit Füßen tretender Staat […].

[…] Ob der Protest etwas bringt, steht dahin. Sollten sich Massen von der WM abwenden, dürfte das die Unternehmen beeindrucken, die sich von Werbung etwas versprechen: Coca-Cola und dergleichen. Doch nur, wenn es Massen sind. Wir werden sehen, ob die Konsumenten sich zu einer Bewegung formen. […]

Kommen wir zum zweiten Argument, die WM nicht verfolgen zu wollen: Desinteresse am Fußball. Hier muss man unterscheiden. Es gibt seit jeher Leute, die sich überhaupt nicht für Fußball interessieren. Aber es gibt auch mehr und mehr Leute, die Fußball mögen, aber sich trotzdem nicht für den Fußball der Nationalmannschaften begeistern.

Dazu hat die Leistungssteigerung des Vereinsfußballs ebenso beigetragen wie seine mediale Präsenz. Denn wir können inzwischen fast jeden Tag erstklassige Begegnungen sehen, und natürlich verspricht Inter Mailand gegen Atalanta Bergamo oder Arsenal gegen Tottenham viel bessere Spiele als Qatar gegen Ecuador oder, horribile dictu, Deutschland gegen Japan. […]

Das führt zur dritten Begründung […] Der Fußball, heißt es, sei immer kommerzieller geworden. […] Tatsächlich beruhte die Entwicklung zum Leistungssport schon früh ganz darauf, dass die Spieler bezahlt wurden und einen Beruf aus ihrem Sport machen konnten.

Je mehr Geld im Spiel war, desto besser wurde der Fußball. Man schaue sich einmal Aufzeichnungen von Spielen aus den Siebzigerjahren an, selbst den damals als Thriller empfundenen Begegnungen: Deutschland gegen England 1970 oder Deutschland gegen die Sowjetunion 1972. Man wird das Spiel kaum wiedererkennen, so langsam war es damals. Die Kommerzialisierung hat es schneller, dynamischer, variantenreicher gemacht.

Das geschah zu einem Preis. Der Umgang mit dem Spiel wurde rationalisiert. Die Rekrutierung der Spieler erfolgt beispielsweise immer früher, weil man die Vielversprechendsten schon zu entdecken sucht, wenn sie noch günstig zu haben sind. […]

Das Geld, das zuströmte, führte auch sonst zur Professionalisierung, von der Sportmedizin über das Training bis zur Öffentlichkeitsarbeit. Es führt freilich auch zur Korruption, deren Name FIFA ist. Und also haben wir das Paradox, dass das Geld den Fußball zugleich besser und schlechter gemacht hat. […]

Jürgen Kaube, „Besser und korrupter“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. November 2022
Beide Texte © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Die deutsche Nationalmannschaft reagierte hierauf mit einer neuen Protestvariante: Als sich die Spieler vor ihrem WM-Auftaktspiel gegen Japan zum Teamfoto aufstellten, hielten sie demonstrativ ihre Hand vor den Mund, um nunmehr ein Zeichen gegen die Verbotspolitik der FIFA zu setzen. Die Resonanz auf diese Protestaktion fiel in Deutschland ebenso gespalten aus wie diejenige im Jahr zuvor, als die Nationalmannschaft beim Aufwärmen vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen Island Trikots mit der Aufschrift „Human Rights“ trug. Während die einen eine Überfrachtung des Fußballs mit der Vermittlung von politischen Botschaften sahen oder die Botschaft selbst im konkreten Zusammenhang nicht teilten, monierten andere den Inszenierungsgrat des Protests und fehlenden Mut, da man nicht konsequenter versucht habe, seine Werte gegen Widerstand zu vertreten.

Perspektiven

Der Bandbreite und Kreativität von Sportprotest scheinen kaum Grenzen gesetzt zu sein. Selbst wenn sich als Folge einer veränderten Vergabepolitik der internationalen Sportorganisationen weniger Anlass zu Protest in humanitären Fragen abzeichnet, werden Sportgroßereignisse auch künftig eine politische Dimension haben und dementsprechend eine Bühne für Protest bieten. Im Mittelpunkt werden dabei absehbar keine Boykotte, sondern demonstrative Formen des Protests stehen.

Diese Variante des Protests besitzt hohes symbolisches Potenzial, sie ist gut sichtbar und die Medien können sie gut vermitteln. Inwieweit die Protestrepertoires angesichts der Grenzen, die Verbände den Athleten und Spielerinnen setzen, dabei auf niederschwellige Proteste reduziert bleiben, ist hinsichtlich der beträchtlichen Erregung und Emotionalisierung im Zuge der EURO 2021 und der WM 2022 noch nicht abzusehen. Solange der Protest die Integrität des Sports nicht in Frage stellt oder gar nachhaltig verletzt, sondern der Welt des Sports vielmehr ein Spiegel vorgehalten oder im Sinne eines Lehrstückes auf Fehlentwicklungen hingewiesen wird, werden Sport und Protest auch weiterhin in einem Atemzug genannt werden.