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Ist Sport politisch? | Sport und Politik | bpb.de

Sport und Politik Editorial Ist Sport politisch? Welche Entwicklungen prägten das Zusammenwirken von Sport und Politik? Wer entscheidet in der Sportpolitik? Bühne für die Politik? Protest statt Party? Integrität und Good Governance im Sport? Beruf oder Berufung? Europäische Identität durch Sport? Sozialer Zusammenhalt durch Sport? Glossar Literatur- und Onlineverzeichnis Impressum
Informationen zur politischen Bildung Nr. 357/2023

Ist Sport politisch? Projektionsfläche und Politikfeld – zwei Dimensionen der Sportpolitik

Jürgen Mittag

/ 8 Minuten zu lesen

Es kann zwischen zwei sportpolitischen Dimensionen unterschieden werden: der Inanspruchnahme des Sports für allgemeine politische Interessen und der Förderung oder Regulierung des Sports selbst.

Im Vorfeld der Olympischen Spiele im russischen Sotschi gibt es Proteste gegen die Diskriminierung von LGBTQI+-Personen durch den russischen Staat. Demonstration des Lesben- und Schwulenverbands Hamburg vor der Russisch-Orthodoxen Kirche im Karolinenviertel in Hamburg am 1. Februar 2014 (© picture-alliance, dpa | Axel Heimken)

Sportpolitik – eine Standortbestimmung

7. Februar 2014: Im russischen Sotschi findet die Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele statt. Mit Blick auf die staatliche Diskriminierung von LGBTQI+-Personen in Russland ist in mehreren westlichen Staaten in den vorangegangenen Monaten eine Debatte über einen möglichen Boykott der Winterspiele geführt worden. Während US-Präsident Barack Obama eine Teilnahme der USA an den Spielen befürwortet, äußern viele deutsche Politikerinnen und Politiker scharfe Kritik an Russland und schließen nicht aus, dass deutsche Athletinnen und Athleten die Spiele boykottieren könnten. Letztendlich nehmen an den Winterspielen in Sotschi alle qualifizierten Aktiven teil. Zahlreiche westliche Staaten senden jedoch keine hochrangigen Regierungsvertreterinnen und -vertreter zu den Spielen.

12. Februar 2014: Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärt vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages, die Spitzensportförderung in Deutschland schlagkräftiger gestalten zu wollen. In enger Abstimmung mit dem Dachverband des deutschen Sports, dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), sei beabsichtigt, grundlegende Reformen in die Wege zu leiten. In der Folge erhält der Spitzensport einen Aufwuchs von acht Millionen Euro und auch die Nationale Anti Doping Agentur (NADA) wird mit zusätzlichen Mitteln des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) unterstützt.

Die zwei hier angeführten Beispiele vom Februar 2014 stehen exemplarisch für die verschiedenen Aktionsfelder der Sportpolitik. Zugleich zeigen sie aber auch, welche Bandbreite Sportpolitik umspannt. Sportpolitik ist derart vielfältig, dass bis heute keine allgemein verbreitete Definition des Begriffs vorliegt. Vielmehr werden Sport und Politik in höchst unterschiedlichen Zusammenhängen aufeinander bezogen. Gemeinsames Merkmal dieser Aktionsfelder ist die mittlerweile verbreitete Sichtweise, dass der Sport nicht unpolitisch ist. Angesichts der mit ihm verbundenen Herstellung von Öffentlichkeit kann er nicht unpolitisch sein.

Der Sport im Allgemeinen – und der Fußball im Besonderen – spielt eine wichtige Rolle in der Gesellschaft und ist ein bedeutender Bestandteil des kulturellen Lebens von Menschen auf der ganzen Welt. Vor allem als Spitzen- und Publikumssport verfügt er über ein beträchtliches Mobilisierungs- und Aufmerksamkeitspotenzial. Sport verbindet Menschen und ist Gegenstand öffentlicher Kommunikation. Er kann Identität stiften und Gemeinschaftsbildung fördern, aber auch Gewalt schüren und Konflikte hervorrufen. Sport wirkt in die unterschiedlichsten Lebenswelten hinein und ist mit anderen gesellschaftlichen Bereichen eng verflochten.

QuellentextDefinition Sport

Sport ist eine strukturierte körperliche Aktivität, die freiwillig in Form von Übungen, Spielen oder Wettkämpfen ausgeführt wird. Sport kann dazu dienen, die körperliche Fitness zu verbessern, Geschicklichkeit zu entwickeln, Wettbewerbsgeist und Gemeinschaftsgefühl zu fördern oder das persönliche Wohlbefinden zu stärken. Ausgeübt wird Sport sowohl individuell als auch in Gruppen. Das Spektrum reicht von zweckfreien Freizeitaktivitäten bis hin zu professionellen Wettkämpfen. Sportorganisationen spielen oftmals eine wichtige Rolle, da sie den Ort für sportliche Aktivitäten bereitstellen, sportartenspezifische Regelwerke koordinieren und die Interessen des Sports vertreten.

Die vor allem von Sportfunktionären nach dem Zweiten Weltkrieg angemahnte Forderung nach einer Trennung von Sport und Politik wird vor dem Hintergrund der dynamischen und öffentlichkeitswirksamen Entwicklung des Sports inzwischen kaum noch gestellt. Der langjährige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der US-Amerikaner Avery Brundage, der von 1952 bis 1972 an der Spitze der Organisation stand, hatte noch das Leitbild des unpolitischen Sports vehement vertreten. Demgegenüber bezeichnete Thomas Bach, der 2013 zum IOC-Präsidenten gewählt wurde, die Annahme, dass Sport nichts mit Politik zu tun habe, als eine der Lebenslügen des Sports.

Meinungsumfragen in der Bevölkerung dokumentieren ebenfalls Ambivalenz und Unbehagen sowie unterschiedliche Sichtweisen: Im Nachgang zur Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar befürworteten 46 Prozent der befragten Deutschen in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur, dass im Zuge von Sportgroßereignissen keine politischen Debatten ausgetragen werden, während 38 Prozent das Gegenteil vertraten. Weitere 16 Prozent der Befragten bezogen keine der beiden Positionen.

In Stellungnahmen wird zudem immer wieder kritisch hervorgehoben, dass nicht zwangsläufig alle Aspekte des Sports politisch sind. Der eigentliche Kern des Sports wird in der Freude an körperlicher Betätigung, im sportlichen Wettbewerb und in Werten wie Fairplay gesehen. Dennoch können auch diese Merkmale des Sports politisch überlagert werden und die Wahrnehmung sowie die Ausübung des Sports beeinflussen.

Dass der Zusammenhang von Sport und Politik vielfältigen Einflüssen unterliegt und die Ausgestaltung der Sportpolitik in einem System mit komplexen Strukturen erfolgt, dokumentieren zahlreiche Beispiele in diesem Heft. Besondere Beachtung wird dabei in weiten Teilen der internationalen Ebene der Sportpolitik und deren Besonderheiten gewidmet.

Den Ausführungen liegt dabei die Definition zugrunde, dass Sportpolitik ein auf den Interessen unterschiedlicher Akteure basierender Prozess der Formulierung, Herstellung, Umsetzung und Überwachung von politischen Entscheidungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit Sport und körperlicher Bewegung ist. Hilfreich zum näheren Verständnis sind dabei die beiden Kerndimensionen von Sportpolitik, die sich in den Ausprägungen „Sport als Projektionsfläche“ und „Sport als Politikfeld“ idealtypisch widerspiegeln.

Sportpolitische Projektionsfläche

Mit seinem hohen Mobilisierungspotenzial bildet der Sport eine Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Interessen. Die beträchtliche Aufmerksamkeit, die Sport weckt, hat dazu geführt, dass die unterschiedlichsten Akteure − von der Politik über die Medien und von der Kultur bis hin zur Wirtschaft − versuchen, ihn für sich in Anspruch zu nehmen. Der Sport ist damit kein Selbstzweck, sondern er wird genutzt, um bestimmte Ziele zu erreichen oder Botschaften zu vermitteln. Die Umwidmung eines Brötchens zum WM-Brötchen durch den Bäcker während einer Weltmeisterschaft gehört dazu ebenso wie der Auftritt einer Politikerin auf der Ehrentribüne eines Fußball-Länderspiels, um sich selbst in Szene zu setzen.

Stark öffentlichkeitswirksame Settings wie Sportgroßereignisse eignen sich in besonderem Maße als sportpolitische Projektionsfläche. Vor diesem Hintergrund findet die Metapher von den Olympischen Spielen oder den Fußball-Weltmeisterschaften als globaler Bühne mittlerweile weite Verbreitung. Dies umso mehr, weil Sportgroßereignisse einen der wenigen Bezugspunkte für Kommunikation bilden, der weite Teile der Gesellschaft noch verbindet. Gesellschaften sind zunehmend fragmentiert, Lebensstile und Freizeitaktivitäten differenzieren sich immer stärker aus. Sport und insbesondere Fußball bilden aber weiterhin einen tragfähigen Resonanzboden für gemeinschaftlichen Austausch.

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar 2022 liefert eine ganze Reihe von Belegen dafür, die jüngsten Entwicklungen als neuen Höhepunkt sportpolitischer Projektion auszumachen: Der Auftritt von Bundesinnenministerin Nancy Faeser beim Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft mit der gegen jede Form von Diskriminierung gerichteten One Love-Armbinde lässt sich hier ebenso anführen wie der Bischt, ein traditioneller arabischer Herrenumhang, der dem argentinischen Mannschaftskapitän Lionel Messi bei der Siegerehrung nach dem WM-Finale von Katars Staatsoberhaupt Emir Tamim bin Hamad Al Thani umgehängt wurde.

QuellentextVölkerverständigung vs. Systemwettbewerb

Sport ohne Politik! Das gibt es. Jeden Tag. Auf dem Bolzplatz, im kleinen Verein um die Ecke. Aber nicht auf der großen Bühne. Das wäre ein Traum: eine unpolitische Fußball-Weltmeisterschaft, unpolitische Olympische Spiele. Wer behauptet, dass es das gibt, ist ein Träumer oder ein als Romantiker getarnter Täuscher. […] Aber könnte das IOC eines Tages nicht doch bekommen, was es zu organisieren vorgibt: unpolitische Spiele? Versuchen wir es mit einem Sakrileg: mit der Entnationalisierung. Thomas Bach, der Präsident des IOC, glaubt, Sportler und Sportlerinnen aus Russland wären keine Russen, würden sie als neutrale Athleten antreten. Mit dem Entzug von Hymne und Flagge, von allen Zeichen, die ihre nationale „Abstammung“ symbolisieren, so die Logik des IOC, würde dem Regime Putins in Paris die Gelegenheit entzogen, sich als gleiche unter den Nationen der Welt zu präsentieren. Im Umkehrschluss bedeutet das: in Friedenszeiten ist der Nationalismus dem IOC recht und billig. Dabei bewirkt er das Gegenteil von dem, was die Spiele auslösen sollen: Völkerverständigung. Unter Athleten vieler Kulturen ist es hier und da zu Freundschaften gekommen im Lauf der Olympia-Geschichte. Für Staaten aber sind die Spiele seit der Neuzeit mehr oder weniger eine Art Systemwettbewerb, wenigstens ein symbolisches Muskelspiel als Ausdruck ihrer Leistungsfähigkeit. Abgelesen und bewertet wird das Ergebnis am Medaillenspiegel, dem Gradmesser für Sportverbände, Medien, Politiker, Sponsoren […].

[…] Warum ist der Wettkampf unter Nationen in der Arena so viel bedeutender als etwa beim Arthur-Rubinstein-Wettbewerb für Pianisten? Weil der Sport, mehr oder weniger laut, immer wieder als Stellvertreterkrieg betrachtet wird. Es ist nicht lange her, dass englische Medien von deutschen „Tanks“ fabulierten, als es um Fußball ging. […] Regierungen, Diktatoren, Medien, Fans, Athleten beim Treffen von Nationen, die teils eine grausame Geschichte verbindet, [erzeugen] eine Atmosphäre, die Sport als Grabenkriegsersatz erscheinen lässt. Das kennen nicht nur die Deutschen.

Die Ungarn erinnern sich an die blutigen Wasserballkämpfe gegen die Sowjetunion nach der Niederschlagung des Aufstands 1956. Als der Prager Frühling 1968 mit Panzern niedergewalzt worden war, entwickelten sich Eishockeyduelle zwischen der Tschechoslowakei und der UdSSR zur Schlacht. Bei der Basketball-Europameisterschaft 1995 in Athen kam es während der Siegerehrung auf Geheiß der Politik zu einer entsetzlichen Konfrontation zwischen Kroaten und Serben. Die Weigerung iranischer Sportler, gegen israelische anzutreten, findet kein Ende, weil die geistliche wie weltliche Führung es so will. Was, wenn den Akteuren hinter dieser den Sport korrumpierenden, teils vernichtenden Politik der nationale Bezug genommen würde? Keine Fahne, keine Hymne, kein Einmarsch der Nationen – für niemanden.

Was, wenn das IOC sich strikt an seiner Charta orientierte? „Die Olympischen Spiele sind Wettkämpfe zwischen Athleten in Einzel- oder Mannschaftswettbewerben, nicht zwischen Ländern.“ Die Antwort ist so simpel wie ernüchternd: Der olympische Sport würde zusammenbrechen. Warum? Im Gegensatz zu den Sportlern der großen Profisportarten wie Fußball sind die meisten Athleten der olympischen Disziplinen auf die Förderung durch ihre Regierungen angewiesen. Sei es durch Anstellungen bei Polizei oder Militär als sogenannte Staatsamateure oder durch Finanzspritzen von Institutionen wie der Sporthilfe. Das Maß der Abhängigkeit mag schwanken je nach Staatsform. Aber sie lässt sich nicht übersehen. Die vom Sport zu Recht beanspruchte Autonomie ist in vielen der 206 Nationalen Olympischen Komitees nur eine scheinbare. Das IOC verbittet sich zwar den Einfluss von Regierungen auf den Sport. Aber manche Präsidenten nationaler olympischer Komitees sind Staatspräsidenten, sitzen in Regierungen oder sind von ihnen eingesetzt. Sport ist, mehr in anderen Ländern als in Deutschland, ein Machtfaktor wie einst die panem-et-circenses-Strategie. Sehr frei übersetzt: Das Brot für die Spiele kommt von den Machthabern, egal welcher Couleur. Das ist die Krux. Staaten finanzieren die Hauptdarsteller der Spiele, nicht das IOC. In den seltensten Fällen steckt allein eine humanistische Bildungspolitik zur Entfaltung junger Menschen dahinter.

Das Staatsamateur-Modell führt zu der Frage, was im Sport ohne Staatsfinanzierung geschieht. In einigen selbstfinanzierten Profisportarten hat Nationalismus schleichend an Bedeutung verloren. Im globalen Radsport zum Beispiel mit seinen multikulturellen Teams, in der Formel 1, wo nur noch Ferrari mit der Nationalfarbe rot kreist. Auch im Golf oder Tennis jenseits der Mannschaftswettbewerbe wie dem Davis Cup interessieren vorwiegend Spiel, Dynamik, Eleganz, nicht die Herkunft. […]

Wenn eine Entnationalisierung also eine schöne Träumerei ist, […] was bleibt dann zu tun, um Olympia zu retten? Auf Neutralität schalten? Das IOC sieht sich als neutrale Instanz des Weltsports und versichert, Russen und Belarussen diesen Status verleihen zu können, wenn es sie nur in seine Fahne einwickelt. Den Nationalitätsentzug für zwei Wochen, den Bach vorschlägt, kann es de facto nicht geben, weil das IOC nicht das Recht besitzt, irgendeinem Menschen auf diesem Globus den Pass zu entziehen. Russen bei Olympia bleiben, was sie sind, Flaggen-, Uniform- und Hymnen-Entzug hin oder her: Staatsbürger eines Landes, dessen von der Mehrheit der Russen gewählte Führung alles versucht, die Ukraine, nicht nur den ukrainischen Sport, zu vernichten. […]

Anno Hecker, „Schluss mit dieser Neutralität!“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juni 2023. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Die Inanspruchnahme des Sports als Projektionsfläche ist nicht nur durch gesellschaftliche Veränderungen, sondern auch durch den Wandel der medialen Landschaft erheblich befördert worden. Insbesondere die sozialen Medien, denen sich immer weniger Menschen entziehen können, üben wesentlichen Einfluss auf Willensbildungsprozesse aus, die über den Sport vermittelt werden. Durch die direkte Form der Kommunikation ist hier alles öffentlich. Inwieweit diese Form von politischer Inanspruchnahme des Sports seitens der Gesellschaft als legitim betrachtet wird, ist indes noch nicht auszumachen. Vielmehr zeichnet sich gegenwärtig ab, dass das Zusammenspiel von Sport und Politik immer stärker diskutiert wird.

Entgegen der verbreiteten Annahme, dass vor allem der Sport für politische Zwecke in Anspruch genommen wird, sind im Verhältnis von Sport und Politik auch Wechselwirkungen auszumachen. So werden seitens des organisierten Sports die Bühnen der Politik ebenfalls als Einfallstor für eigene Interessen genutzt. Dies zeigte zum Beispiel der Auftritt von IOC-Präsident Thomas Bach beim G20-Gipfel im japanischen Osaka 2019, bei dem er die Initiative des IOC zur Bildung eines Flüchtlingsteams bei den Olympischen Spielen vorstellte. Gemeinsam mit Gianni Infantino, dem Präsidenten des Weltfußballverbandes FIFA, wohnte Bach auch dem G20-Gipfeltreffen im indonesischen Bali im Jahr 2022 bei. Hier trat Bach für die Mitwirkung aller Athletinnen und Athleten, auch derjenigen aus Russland und Belarus, bei den kommenden internationalen Sportwettkämpfen ein.

Das Politikfeld Sport

Als zentrales Strukturprinzip der Sportpolitik gilt die Autonomie des organisierten Sports. Mit Blick auf historische Traditionslinien, aber auch auf die Besonderheiten des Sports, erhebt der organisierte Sport für sich den Anspruch, zentrale Bereiche des Sportsystems selbst zu regulieren und zu verwalten. Damit unterscheidet sich die Sportpolitik grundlegend von anderen Politikfeldern, in denen vor allem staatliche Akteure Entscheidungen zur politischen Ausgestaltung des entsprechenden Politikfeldes treffen.

Die zunehmende Kommerzialisierung des Spitzensports und die hier erzielten, immer höheren Umsätze haben dazu geführt, dass sich die Handlungslogiken und Strukturen der Sportpolitik fortlaufend verändert haben. Zum Wandel beigetragen haben aber auch die immer größeren Erwartungen der Gesellschaft an den Sport, so etwa in den Bereichen Gesundheit und Integration. Entstanden ist so ein eigenes Politikfeld „Sport“, in dem eine zunehmend größere Anzahl von Akteuren um Einfluss und Beteiligung an sportpolitischen Entscheidungen ringt.

Zwar unterliegen weiterhin große Bereiche des Sports der verbandlichen Selbstregulierung, so zum Beispiel im Rahmen von Sportveranstaltungen. Diese verbandliche Autonomie wird jedoch durch den Wettbewerb mit anderen Akteuren und einen schleichenden Übergang zwischen dem Dritten Sektor (also dem breiten Spektrum nicht-gewinnorientierter Organisationen) und dem Markt in zunehmendem Maße herausgefordert.

Mittlerweile haben Ligen und professionelle Klubs, aber auch Spielerinnen und Spieler sowie Fans eigene Interessenorganisationen im Sport etabliert. Als Konsequenz dieser zunehmenden Pluralisierung der Interessensvertretung steigt das sportpolitische Konfliktpotenzial. Und es ist nicht zuletzt eine zunehmende Einflussnahme staatlicher Akteure auf die Willensbildung und Entscheidungsfindung im Sport auszumachen. Im internationalen Raum wird dies am deutlichsten bei Staaten wie Katar oder Saudi-Arabien sichtbar, die umfassende nationale Sportstrategien entwickelt haben.

In Deutschland und Europa hat die verstärkte Intervention der öffentlichen Hand bislang aber nicht so weit geführt, dass der selbstorganisierte Sport, das heißt die Sportselbstverwaltung, aus ihrer Stellung herausgedrängt wurde. Vielmehr hat sich im Politikfeld Sport eine erhebliche Bandbreite von Handlungsinstrumenten, Koordinationsformen und Politikzielen herausgebildet, die vielfach mit dem Begriff Governance beschrieben wird.

Im Gegensatz zur traditionellen Betrachtung des „Regierens“, das sich hauptsächlich auf die Rolle der Regierung oder staatlicher Institutionen konzentriert, erweitert die Governance-Perspektive den Fokus um die Beteiligung von privaten oder zivilgesellschaftlichen Akteuren. Maßgeblich sind dabei weniger formale staatliche Strukturen, sondern vielmehr informelle Prozesse und Netzwerke, die zu nicht-hierarchischen Entscheidungsprozessen führen.

Zur Beschreibung und Analyse des Politikfeldes Sport eignen sich Governance-Ansätze in besonderem Maße. Durch die Binnendifferenzierung des Politikfeldes Sport werden diese mit einem hohen Grad an Komplexität konfrontiert. Das Politikfeld Sport lässt sich in zahlreiche untergeordnete Systeme unterteilen, so etwa den Breiten- und den Spitzensport oder den olympischen und den nicht-olympischen Sport. Es kann hinsichtlich bestimmter Zielgruppen wie Jugend, Seniorinnen und Senioren oder Menschen mit Behinderung unterschieden werden. Es können spezifische institutionelle Settings wie Schule oder Betriebe zugrunde gelegt werden und es können einzelne Problemfelder wie Doping oder Glücksspiel als Rahmen herangezogen werden.

Jedes dieser Subsysteme des Sports unterliegt spezifischen Logiken, Handlungsmustern und Akteurskonstellationen, die vom Governance-Konzept zwar erfasst werden, die aber zugleich den Grad an Ausdifferenzierung erhöhen. Wird dann noch die vertikale Differenzierung durch die unterschiedlichen Handlungsebenen von Föderalstaaten berücksichtigt und darüber hinaus die europäische und internationale Ebene einbezogen, grenzt das Ausmaß an Komplexität im Politikfeld Sport schon an Unübersichtlichkeit.

Prof. Dr. Jürgen Mittag (geb. 1970); Universitätsprofessor für Politik und Sport an der Deutschen Sporthochschule Köln; Jean Monnet-Professor und Leiter des Instituts für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung. Forschungsthemen: Sportpolitik und -geschichte; Sportentwicklung zwischen kommunaler und internationaler Ebene; europäische Integration und politische Systeme in vergleichender Perspektive; Politische Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Vereine und soziale Bewegungen; Tourismus- und Freizeitforschung, Sozial- und Wohlfahrtspolitik.