Mehrebenensystem
Die Europäische Union umfasst 27 Mitgliedstaaten mit knapp 500 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Das ist der stärkste einheitliche Wirtschaftsraum in der Welt. Politisch-institutionell ist die Europäische Union ein eigentümliches Gebilde, das häufig als ein "Mehrebenensystem" beschrieben wird. Damit ist gemeint, dass sich auf den einzelnen Politikfeldern die Entscheidungskompetenzen und Gestaltungschancen auf supranationale Institutionen (vor allem Europäischer Rat, Europäische Kommission, Europäisches Parlament, Europäischer Gerichtshof) und die Mitgliedstaaten verteilen und in vielfältiger Weise miteinander verflochten sind. Somit lässt sich das Institutionengefüge der EU auch als eine föderale "Struktur staatlichen Handelns in mehreren Ebenen" charakterisieren (Pierson/Stephan 1998, S. 16). Die Politikentwicklung in der EU vollzieht sich in der Interaktion dieser Ebenen. Die nationalstaatliche Souveränität ist in diesem Mehrebenensystem nicht verschwunden, aber auf zahlreichen Feldern durchaus beschränkt (Pierson/Stephan 1998; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2003; Wallace/Wallace 2005). Auch die Gesundheitspolitik ist in dieses Mehrebenensystem eingebunden.
Entwicklungsetappen
Die europäische Integration geht zurück auf die 1950er-Jahre. Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahr 1957 gründeten die damals sechs Staaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande) die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Sozial- oder gesundheitspolitische Regelungen spielten in den Gründungsdokumenten nur eine untergeordnete Rolle. Lediglich zwei Aspekte waren in dieser Hinsicht von Bedeutung:
die Vereinbarung zum sozialen Schutz der Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer in der Gemeinschaft, also solcher Personen, die als Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft erwerbstätig waren;
das Recht der Kommission, Forschung und Kooperation der Mitgliedsstaaten auf dem Gebiet von Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit zu unterstützen.
Aber sozial- und gesundheitspolitische Kompetenzen blieben für viele Jahre auf diese Aspekte beschränkt. Bereits in der Geburtsstunde der Europäischen Gemeinschaft deutete sich also an, dass sich die Integration vorwiegend auf der ökonomischen, weniger auf der politischen Ebene vollziehen würde (zum Beispiel Platzer 1994, S. 50 f.).
Nach einer längeren Phase der Stagnation ("Eurosklerose") erhielt der europäische Integrationsprozess seit den 1980er-Jahren neuen Schwung. Dies kam in folgenden Entwicklungen zum Ausdruck:
Die Zahl der Mitgliedstaaten stieg von zunächst sechs im Jahr 1957 (Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande) auf 27 im Jahr 2008. Die wichtigsten Erweiterungsschritte waren:
die Aufnahme Dänemarks, des Vereinigten Königreichs und Irlands (1973);
die Aufnahme Griechenlands (1981), Portugals und Spaniens (1986, Süderweiterung);
die Aufnahme Österreichs, Finnlands und Schwedens (1995);
die Aufnahme von zehn Staaten vornehmlich aus Mittel- und Osteuropa, darunter Polen, Ungarn und Tschechien (2004, Osterweiterung).
Zum 1. Januar 1993 wurde der europäische Binnenmarkt mit dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften ("vier Freiheiten") geschaffen. Davon erhofften sich die Mitgliedstaaten neue Wachstumsimpulse und eine Verbesserung der europäischen Position in der globalen Standortkonkurrenz. Der Prozess der ökonomischen Integration wurde mit der Schaffung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) fortgesetzt, die in die Einführung des Euro als gemeinsame Währung am 1. Januar 2002 mündete.
Die Schaffung eines gemeinsamen Marktes wurde ergänzt durch den allmählichen Auf- und Ausbau von politischen Gestaltungskompetenzen auf EU-Ebene ("Vertiefung"). Dieser Auf- und Ausbau erfolgte vor allem mit der Schaffung einer Einheitlichen Europäischen Akte (1986) sowie mit der Neuformulierung des EWG-Vertrages auf den Regierungskonferenzen von Maastricht (1993), Amsterdam (1997), Nizza (2000) und Lissabon (2007). Auch einzelne Aspekte der Gesundheitspolitik sind davon betroffen.
Missverhältnis zwischen ökonomischer und (sozial)politischer Integration
Allerdings ist die europäische Integration bis in die Gegenwart in erster Linie ein ökonomisches Projekt geblieben. Die Integration besteht vor allem in der Beseitigung bisheriger Hindernisse für einen gemeinsamen Markt ("negative Integration"). Demgegenüber hinkt die gemeinsame politische Gestaltung der EU ("positive Integration") nach wie vor stark hinterher (Scharpf 1996; Scharpf 1999). Insbesondere auf dem Gebiet der Sozialpolitik (einschließlich der Gesundheitspolitik) sind die supranationalen Kompetenzen nur schwach ausgeprägt. Die EU ist also durch eine "konstitutionelle Asymmetrie" gekennzeichnet: Die Marktschaffung auf der supranationalen Ebene wird nicht von entsprechenden Kompetenzen zur Gestaltung des Sozialschutzes begleitet (Scharpf 1999).
Dieses Missverhältnis zwischen ökonomischer und (sozial)politischer Integration hat für die Mitgliedstaaten weitreichende Folgen. Die Produkte der Unternehmen haben sich nunmehr auf einem gemeinsamen Markt zu bewähren. Daher wächst für diese der Kostendruck und damit auch der Druck für die nationalen Regierungen, entsprechend günstige Standortbedingungen bereitzustellen, um eine Abwanderung von Kapital und Arbeitsplätzen zu verhindern. In diesem Zusammenhang geraten zunehmend auch die Sozialleistungen ins Visier. Da die Schaffung eines gemeinsamen Marktes nicht von einer synchronen Ausweitung gemeinsamer Sozialstandards auf europäischer Ebene begleitet wird, suchen die Mitgliedstaaten ihr Heil zumeist in dem Versuch, ihre Sozialausgaben zu begrenzen und möglichst zu senken. Auch in der Gesundheitspolitik wird dieser Druck spürbar.