In den ersten Nachkriegsjahrzehnten und insbesondere in der sozialliberalen Reformära zu Beginn der 1970er-Jahre war Gesundheitspolitik von einem Ausbau der Gesundheitsversorgung gekennzeichnet. Die expansive Ausgabenentwicklung galt überwiegend als nicht sonderlich problematisch, weil hohe wirtschaftliche Wachstumsraten zu einem starken Einnahmezuwachs bei den Krankenkassen führten. Dies änderte sich mit der 1973/74 einsetzenden Weltwirtschaftskrise: In deren Folgeprägten im Durchschnitt eher niedrige Wachstumsraten und hohe, in der Tendenz steigende Arbeitslosenzahlen die volkswirtschaftliche Entwicklung.
Nunmehr wurde die Kostendämpfung zu einem vordringlichen Ziel bundesdeutscher Gesundheitspolitik. Der Begriff Kostendämpfung steht dabei für die weit verbreitete aber wenig hinterfragte Vorstellung, dass die Gesundheitsversorgung "zu teuer" geworden sei. Dabei ist die Notwendigkeit einer solchen Zielorientierung keineswegs unumstritten. So lässt sich zum Beispiel darauf hinweisen, dass der Anteil der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung (BIP) seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, nur geringfügig gestiegen sind. Ihr Anteil bewegt sich seitdem bei nur schwach steigender Tendenz zwischen sechs und gut sieben Prozent des BIP.
Die Kostendämpfung ist seit etwa vier Jahrzehnten das übergreifende Ziel der Gesundheitspolitik. Bei der Verfolgung dieses Ziels lassen sich zwei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase, die den Zeitraum zwischen 1975 und 1992 umfasste, ließen die Reformen die historisch gewachsenen Strukturen der Gesundheitsversorgung im Wesentlichen unangetastet. Sie soll im Folgenden als traditionelle oder strukturkonservierende Kostendämpfungspolitik bezeichnet werden. In der zweiten Phase, die in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre begann und bis heute andauert, wurden zahlreiche neue Steuerungsinstrumente, vor allem Instrumente zu einer wettbewerblichen Steuerung des Gesundheitswesens, eingesetzt. Seitdem unterliegen die historisch gewachsenen Strukturen des deutschen Gesundheitswesens einem starken Veränderungsdruck. Diese Etappe lässt sich als eine Phase wettbewerbsorientierter Strukturreformen kennzeichnen.
Traditionelle (strukturkonservierende) Kostendämpfungspolitik (1975 bis 1992)
Die traditionelle Kostendämpfungspolitik lässt sich auf den Zeitraum zwischen Mitte der 1970er-Jahre und 1992 eingrenzen. Sie nahm nur geringfügige Veränderungen an den Finanzierungs-, Versorgungs- und Regulierungsstrukturen in der GKV vor.
Wichtige Gesetze, die in dieser Phase verabschiedet wurden, waren:
das Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz (KVKG) (1977),
das Haushaltsbegleitgesetz (1982),
das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz (1981),
das Krankenhaus-Neuordnungsgesetz (KHNG) (1984),
das Gesetz über die kassenärztliche Bedarfsplanung (1986),
das Gesundheits-Reformgesetz (GRG) (1988).
Diese Phase ist vor allem durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
Einnahmeorientierte Ausgabenpolitik
Das zentrale gesundheitspolitische Ziel bestand darin, die GKV-Ausgaben den Einnahmen anzupassen. Damit wurde die Beitragssatzstabilität, ohne dass dieser Begriff zunächst in den Gesetzesbestimmungen auftauchte, zu einem zentralen Ziel der Gesundheitspolitik. Allerdings wurden Mehrausgaben nicht strikt unterbunden. Wenn es – was immer wieder geschah – dennoch zu einem überproportionalen Anstieg der Leistungsmenge kam, griffen die Parteien der gemeinsamen Selbstverwaltung häufig zum Mittel der sogenannten Nachverhandlungen. Dabei gelang es den Leistungsanbietern (vor allem den Vertragsärzten und den Krankenhäusern) häufig, gegenüber den Krankenkassen nachträglich eine Erhöhung der Vergütung durchzusetzen. Diese Praxis trug dazu bei, dass die GKV-Ausgaben und damit zumeist ebenso die Beitragssätze auch in dieser Phase anstiegen. Allerdings war die einnahmeorientierte Ausgabenpolitik insofern nicht erfolglos, als dieser Ausgabenanstieg im Vergleich zur ersten Hälfte der 1970er-Jahre deutlich gebremst wurde.
Einbindung der Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung
Die einnahmeorientierte Ausgabenpolitik setzte stark auf Empfehlungen und Appelle. Sie war generell darum bemüht, die Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung in die Kostendämpfungspolitik einzubinden. Dies geschah zum einen durch die Übertragung von Steuerungskompetenzen an die Verbände der Krankenkassen und der Leistungsanbieter (siehe nachfolgende Abschnitte), zum anderen durch die Einrichtung der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen. Dabei handelte es sich um ein Gremium gesundheitspolitischer Akteure, das Empfehlungen zur Kostendämpfung in der GKV abgeben sollte. Die Übertragung von Steuerungskompetenzen an die Verbände der gemeinsamen Selbstverwaltung kann man als Korporatisierung bezeichnen.
Stärkung der Kassen gegenüber den Leistungsanbietern
Der Gesetzgeber war bestrebt, die Verhandlungsposition der Krankenkassen gegenüber den Leistungsanbietern – insbesondere gegenüber den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) als Kollektivorganisationen der Vertragsärzte – vorsichtig, aber doch spürbar zu stärken. Diese Zielsetzung ging davon aus, dass die Krankenkassen den KVen in der gemeinsamen Selbstverwaltung strukturell unterlegen waren. Diese Unterlegenheit ergab sich vor allem aus der organisatorischen Zersplitterung (sieben Kassenarten, diverse regionale Gliederungen). Darüber hinaus bestanden Unterschiede im Leistungsrecht und im Vergütungssystem. Die KVen verfügten hingegen über das Verhandlungsmonopol gegenüber den Krankenkassen, weil sie den staatlichen Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung von gesetzlich Krankenversicherten innehatten. Diese ungleiche Machtverteilung zulasten der Kassen hatte den KVen die Möglichkeit gegeben, ausgabenwirksame Zugeständnisse der Kassen zu erreichen und auf diese Weise das globale Ziel der einnahmeorientierten Ausgabepolitik zu unterlaufen.
Die Stärkung der Krankenkassen durch die Interventionen des Gesetzgebers erfolgte vor allem auf dem Wege der Angleichung und Zentralisierung der zwischen den Kassen und Kassenarten zum Teil sehr unterschiedlichen Handlungskompetenzen und -bedingungen (siehe Abschnitt
Korrekturen von Handlungsanreizen bei den Leistungsanbietern
Der weitaus größte Teil der Ausgaben für die Krankenversorgung wird durch die Anbieter hervorgerufen ("anbieterinduzierte Nachfrage"). Daher versuchte der Gesetzgeber bei seinen Kostendämpfungsbemühungen, solche Strukturen und Anreize zu korrigieren, die eine medizinisch nicht indizierte Leistungsausweitung durch die Anbieter begünstigten. Dazu zählten insbesondere folgende Maßnahmen:
Die Einführung einer vertragsärztlichen Bedarfsplanung. Sie sollte den Anstieg der Arztzahlen und die dadurch hervorgerufene Nachfrage nach Gesundheitsleistungen begrenzen.
Die Reform der Gebührenordnung für Kassenärzte und des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für die vertragsärztlichen Leistungen (EBM). Damit sollte zum einen die Ausweitung von technisch-apparativen Leistungen zurückgeführt werden. Zum anderen sollte das Honorar gerechter unter den Vertragsärzten verteilt werden.
Modifizierungen des Vergütungssystems in der stationären Versorgung. Flexible Budgets und die Einführung einer prospektiven Selbstkostendeckung sollten Anreize zur Verlängerung der Verweildauer verringern.
Maßnahmen zur Großgeräteplanung. Ziel war hier, das Angebot medizinisch-technischer Großgeräte und damit die starke Zunahme technisch-apparativer Leistungen zu begrenzen.
Privatisierung von Behandlungskosten
Für verschiedene Leistungen wurden individuelle Zuzahlungen eingeführt und sukzessive erhöht; vereinzelt wurden Leistungen auch von der Erstattungspflicht der Kassen ausgenommen (zum Beispiel die sogenannten Bagatellarzneimittel).
Die erste Phase der Kostendämpfungspolitik war – nimmt man die Ausgabenentwicklung in den Blick – nicht erfolglos, aber dennoch blieben die Wirkungen begrenzt. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass unter dem Dach der einnahmeorientierten Ausgabenpolitik die bisherigen Anreize für die Akteure im Kern unverändert blieben. Entweder wiesen sie in Richtung auf eine Ausweitung der Leistungsmenge oder waren zumindest nicht so beschaffen, dass sie die Akteure veranlasst hätten, aus finanziellem Eigeninteresse die Erbringung, Finanzierung oder Inanspruchnahme von Leistungen nachhaltig einzuschränken. Insofern war für die traditionelle Kostendämpfungspolitik der Widerspruch zwischen dem globalen Ziel der Beitragssatzstabilität und den finanziellen Anreizen für die Individualakteure kennzeichnend:
Auf Seiten der Leistungserbringer waren es die geltenden Vergütungs- und Finanzierungsformen, insbesondere das Selbstkostendeckungsprinzip in der stationären Versorgung und die Einzelleistungsvergütung im ambulanten Sektor, von denen ein starker Anreiz zur Mengenausweitung ausging.
Die Kassen genossen durch das System der weitgehend starren Mitgliederzuweisung de facto einen Bestandsschutz. Ihre Konkurrenz um Mitglieder beschränkte sich auf das Segment der Pflichtversicherten mit Wahlfreiheit (also vor allem der Angestellten) sowie auf die freiwillig Versicherten. Zwar waren die Finanzierungsträger auch unter diesen Bedingungen bemüht, Beitragssatzanhebungen zu vermeiden. Jedoch blieben absehbare Erhöhungen in ihren negativen Auswirkungen auf die Kasse begrenzt und überschaubar.
Auf Seiten der Versicherten war das erreichte Zuzahlungsvolumen wohl zu gering, um sie in nennenswertem Umfang zu einer Reduzierung der Leistungsinanspruchnahme zu veranlassen. Zuzahlungen der GKV-Versicherten hatten Ende der 1980er- beziehungsweise Anfang der 1990er-Jahre ein aus heutiger Sicht noch recht geringes Niveau (siehe Abschnitt
Interner Link: "Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung" )