Mit Hilfe der Rollentheorie lassen sich die statischen Momente von sozialen Beziehungen und Sozialisation, wo es keinen Spielraum und nichts zu diskutieren gibt, genauer untersuchen und hervorheben. Der Symbolische Interaktionismus schärft den Blick für interaktive und dynamische Aushandlungsprozesse und ihre Bedeutung für die Konstruktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Das Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjektes lenkt das Augenmerk auf die Prozesse der experimentellen Erprobung, Selbsterfindung und kreativen Gestaltung von Entwicklungsaufgaben in der Gesellschaft. Das Konzept der Beziehungspraxis macht auf die in den Alltagspraxen vorhandenen Handlungsrationalitäten aufmerksam, wenn es darum geht, die Handlungsbefähigung der Akteure zu erkennen und zu fördern, zumal dann, wenn Kinder und Jugendliche als "soziale Alleskönner" (Bühler-Niederberger) ansatzweise bereit und in der Lage sind, Regeln der Interaktion auszuhandeln und zu beurteilen. Diese vier Ansätze können nun zur Analyse der vier Fälle eingesetzt werden. Dabei lässt sich zeigen, dass die vier Konzepte und Elemente der Urteilsbildung im jeweiligen Fall gleichzeitig, aber unterschiedlich intensiv "vorkommen" können.
Hinweise zur Analyse der Geschichte von F. Grün
Der Fall Grün ist gekennzeichnet durch eine äußerst extreme existentielle soziale Situation: die Vertreibung einer Familie aus den deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Situation war so katastrophal, wie wir uns das heute kaum noch vorstellen können. Drei Zitate mögen das Elend der Menschen verdeutlichen. Die wilde und völlig ungeordneten Vertreibung der Deutschen aus Pommern und anderen Ostgebieten durch einige Polen und marodierende Soldaten führte zu solch katastrophalen Zuständen, dass der US-amerikanische Europaexperte, der Standford Historiker David Harris damals in sehr scharfer Form davor warnte, die Anstrengungen der Vereinigten Staaten, Demokratie in Deutschland wieder aufzubauen, werde keine "nützlichen und dauerhaften Resultate haben, wenn wir uns für die Untaten Obszönitäten hergeben, die wir bekämpft haben" (zit. nach Douglas S. 164) Auch das US-Außenministerium formulierte damals eine der schärfsten Verurteilungen, die je von einer Regierungsbehörde formuliert wurde: "Die überwiegende Mehrzahl der Menschen, die aus Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie nach Deutschland kommen, sind Frauen, Kinder, Alte, die in unterschiedlichen Zuständen von Erschöpfung und Krankheit ankommen. Ihr Leiden vermittelt den Eindruck, als seien sie mit größter Rücksichtslosigkeit und Nichtachtung humanitärer Prinzipien behandelt worden." (zit. nach Douglas S. 164) Die Horrormeldungen über die Situation der deutschen Vertriebenen aus den Ostgebieten und auf der Flucht nahmen deutlich zu. Auch der Beamte des britischen Außenministerium wählte drastische Worte: "Die umgesiedelte Bevölkerung war weitgehend menschliches Treibgut" (ebd. S. 250). Die menschlichen Tragödien und sicher auch der damit verbundene Imageschaden der britischen Regierung führten letztlich dazu, dass die britische Besatzungsmacht die Umsiedlungsaktion, die unter dem Stichwort Operation Swallow lief, im Juli 1946 wenn nicht stoppte, so doch auslaufen ließ. (vgl. Douglas S. 246f)
Vor diesem Hintergrund lassen sich die Erzählungen von F. Grün einordnen als existentielle Bedrohung der Familie und der einzelnen Personen, verbunden mit großen Gefahrensituationen und lebensbedrohlichen Extremsituationen. Daher dürfte aus soziologischer Sicht von Interesse sein, das Lebensschicksal nachzuzeichnen und zu klären, wie F. Grün und seine Familie viele gefährliche Situationen überlebt und existentielle Krisen bewältigt haben. Die soziale Situation der Familie war bestimmt durch klare und verbindliche Rollenstrukturen: Der Vater hatte es zu sagen, folglich bestimmte er – ohne Diskussion und Widerspruch – dass die Familie angesichts der Gefahren den heimischen Hof verließ und sich auf die Flucht begab. Er sorgte auf der Flucht und dann auch in der Kaserne in Rantum (Sylt) für Ordnung, begleitete die Kinder bei den Hamsterfahrten aufs Festland. Er wählte auch den neuen Wohnort in Süddeutschland aus. Ein erfahrener Soldat in der Familie gab Frauen und Kindern genaue Anweisungen, wie sie sich bei Beschuss in der Flucht über das Feld zu bewegen und wie sie sich bei einer Schein-Erschießung zu verhalten hatten. Alle taten, was er sagte. Das autoritäre Rollenkorsett hat allen in der Familie einen enormen Halt vermittelt und ihr Überleben letztlich ermöglicht. Das so erlernte Denken in vorgegebenen Rollenstrukturen wurde auch im Rückblick als richtig und überlebensnotwendig eingeschätzt. Dies Denken hat F. Grün später problemlos fortgeführt und auch bei der Berufswahl im neuen Wohnort so angewandt, als er die Lehre eines Zimmermanns absolvieren musste (wegen fehlender Alternativen) und später dann auch zur Polizei ging. Durch gekonnte Rollenübernahme hat er viele Herausforderungen und Krisen erfolgreich bewältigt. Die Erfolge haben ihm Sicherheit und Zufriedenheit vermittelt, die bis ins hohe Alter, als er in seinen Erzählungen auf sein Leben zurückblickte, anhielten. An einer Stelle hat er freilich in seinem Beruf als Polizist in sympathischer Weise die Orientierung an strikten Rollenvorschriften etwas verlassen und aus pädagogisch-moralischen Gründen den straffällig gewordenen Jugendlichen eine "zweite Chance" eingeräumt, nachdem er mit diesen eine "Vereinbarung" (Wiedergutmachung) getroffen hatte, was den Jugendlichen eine erfolgreiche berufliche Zukunft nicht verbaute sondern ermöglichte. Bei einer rigiden Dienstauffassung mit Dienst nach Vorschrift hätte er das nicht machen müssen. Diese Vorgehensweise, mit den Betroffenen im Rahmen des Möglichen eine Lösung auszuhandeln, ist typisch für den Symbolischen Interaktionismus und geprägt durch ein hohes Berufsethos, das sich der christlich-humanen Tradition verpflichtet fühlt (Elemente der moralischen Urteilsbildung). Die Orientierung an der Religion hat der Familie von F. Grün und ihm geholfen, schwierige Situationen (auf der Flucht, im Lager und beim Neubeginn) zu durchstehen und soziale Kontakte in der Fremde aufzubauen. Wertorientierung beim Aufbau sozialer Beziehungspraxis zeigt sich in unterschiedlichen Formen und Manifestationen. In seinen gelegentlichen Urteilen zeigt Grün, dass er eine hohe Sensibilität für Gerechtigkeit und Fairnes verfügt, so in seinem Urteil, sie als Familie müssten nun für die Gräueltaten der Deutschen im Osten büßen, in der Bemerkung über die Bäuerin, die ihnen als bettelnde Kinder immer etwas gegeben hat und die feste Überzeugung, den Jugendlichen eine zweite Chance geben zu müssen.
Hinweise zu Analyse der Geschichte von Frau Dazer
Das totalitäre Regime der DDR regierte mit rigiden Rollenvorschriften bis in die Schule und Jugendfreizeit (Jugendweihe, Junge Pioniere, FDJ) hinein. Die Lehrpersonen waren gehalten, fast militärisch in Kategorien von Befehl und Gehorsam zu denken und geringste Abweichungen der Jugendlichen von der Norm rigoros zu sanktionieren. So wollte man staatskonforme Menschen erziehen. Frau Dazer hat als Schülerin erfahren, was es heißt, gegen die Rollenvorschriften aufzumucken, eigene Vorstellungen zu entwickeln und dann auch noch eigene Meinungen zu äußern. Sie wurde von der Klassenlehrerin permanent zur Ordnung gerufen, auch wenn andere Lehrer das nicht so streng sahen. Im Sinne des Symbolischen Interaktionismus hätte man vielleicht auch in "Tauwetterphasen" viele Verhaltensweisen pragmatisch zwischen Lehrern und Schülern aushandeln können. Aber die Schülerin Dazer hatte Pech: Ihre Eigenständigkeit und ihr Mut, abweichende Meinungen in der Schule zu artikulieren, wurden ihr zum Verhängnis. Obwohl sie in den Fächern gute Leistungen erbrachte, wurde sie nicht zum Abitur zugelassen und sie durfte nicht studieren. Als Krankenschwester wurde sie ebenfalls wegen ihrer geringen "Linientreue" deutlich benachteiligt. Der soziale Druck (Verhaftung des Schwagers, Schikanen am Arbeitsplatz, Bespitzelung) war für sie und ihre Familie letztlich nicht mehr auszuhalten. Daher stellte sie als junge Frau zur Rettung ihrer eigenen Identität und der Zukunft ihrer Familie einen Ausreiseantrag in den Westen, was aus der Sicht der SED schon Landesverrat nahe kam. Einige Zeit vor der Wende schaffte sie den Umzug und den Neustart im Westen, wo sie sich auch unter erschwerten Bedingungen (z.B. Wohnungssuche) rasch einleben konnte. Den Gestaltungsspielraum, den ihr die Gesellschaft im Sinne des Symbolischen Interaktionismus ließ, nutze sie für sich und ihre Familie für einen erfolgreichen beruflichen Neuanfang. Nach der Wende zog es sie wieder zurück in ihre alte Heimatstadt. Die Chance, dort ein Haus zu kaufen und sicher auch emotionale und soziale Bindungen an die "alte Heimat" sind bisweilen ausschlaggebend für einen Ortswechsel. Der allgemeinen Kritik der "Ossis" an den "Wessis" vermag sie nicht zu folgen, auch hier zeigt sie wieder Selbstständigkeit und Mut zur eigenen Meinungsbildung, die die schon als junges Mädchen ausgezeichnet hatte. Diese hohe Selbstständigkeit und die Bereitschaft zu einem Wechsel verbunden mit der Fähigkeit, immer wieder neue soziale Beziehungen aufzubauen und auf fairen Umgang zu achten (moralische Komponente des Verhaltens), kennzeichnen ihre Art, im Alltag die soziale Beziehungspraxis zu pflegen und ihre Vorstellungen von humanen und sozialen Beziehungen in das gemeinsame Miteinander einzubringen. Den Spielraum, sich als Person neu zu erfinden und eine völlig andere Existenzform aufzubauen, wie das vom "produktiv realitätsverarbeitenden Subjekt" erwartet wird, nutzte sie, als sie zusammen mit einer Freundin die Leitung eines Fachgeschäftes am neuen/alten Wohnort übernahm und auch ihr Mann sich dort selbstständig machte. Ihre Entscheidung, einen Ausreiseantrag in den Westen zu stellen (statt eine innere Emigration zu wählen) war gut begründet und ist auch heute noch nachvollziehbar – trotz der damit verbundenen enormen sozialen Kosten. Auch die Entscheidung, nach der Wende wieder zurück nach Thüringen zu ziehen, zeigt bis heute, dass Frau Dazer in beachtenswerter Weise wichtige Entscheidungen ihres Lebens und ihrer Familie mit guten Gründen abzusichern versucht.
Hinweise zur Analyse der Geschichte von Erol dem Rapper
Erol hat die restriktiven Bedingungen einer unglücklichen Kindheit erlebt und schon früh das kriminelle Milieu kennengelernt – mit rigiden Rollenvorschriften und harten Sanktionen. Die Liebe zu seiner Mutter, der wichtigste Bezugsperson in seiner Jugend, hat ihn wie ein Rettungsring durch die schlimmsten Krisen seines Lebens getragen. Über sie lernte sie den Stiefvater kennen, der selbst aus der Kriminalität ausgestiegen ist, ihn vor ein Absinken in die Kriminalität bewahrt hat. Die harten bis brutalen Spielregeln dieses sozialen Umfeldes haben ihn daher nicht "kleingekriegt". Handlungsspielräume, die es im Sinne des Symbolischen Interaktionismus hätten gestaltet werden können, waren dort nicht anzutreffen, wohl aber im Bereich der Schule, da er mit seinen Lehrern weitgehend positive Erinnerungen verbindet, da sie seine Talente schon früh erkannt haben. Seine wichtige Entwicklungsaufgabe, aus seinem Leben etwas entsprechend seinen Möglichkeiten zu machen, hat er konsequent ergriffen, indem er die verrückt klingende Idee, Rapper zu werden, mit Unterstützung der Mutter ("Gib Gas!") durch harte Arbeit an sich selbst in die Tat umgesetzt hat. Als produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt hat Erol sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf gezogen und sich als Rapper selbst neu erfunden. Sehr hilfreich war es, dass seine Mutter als wichtige Bezugsperson ihm vertraute und ihm immer Mut zugesprochen, vor gefährlichen Bekanntschaften erfolgreich gewarnt und auf seine Stärken gesetzt hat. Die emotional-sozial guten Beziehungen zu seiner Mutter und zu seinem Stiefvater ("Wenn irgendetwas ist – Du bist nicht alleine!") haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass eine neue und stabile soziale Beziehungspraxis sich entwickeln konnte, die dann letztlich auch für seine bundesweiten Erfolge in der Musikkultur tragfähig war. In Absetzung zum kriminellen Milieu seines Vaters lernte Erol sehr früh und deutlich zu erkennen, welche Menschen ihm gut tun und welche nicht, was sozial akzeptabel ist und was nicht – eine hart erworbene Basissozialisation in der sozial-moralischen Orientierung. Hier zeigt sich deutlich, dass auch in schwierigen Verhältnissen – bei minimaler Unterstützung – verantwortliches Urteilen als soziale Praxis möglich ist und dass Identitätsbildung auch immer etwas mit moralischen Entscheidungen zu tun hat.
Hinweise zu Analyse der Geschichte von D. Panic
Die aufopfernde Haltung seiner Eltern im Kampf um das Ankommen in der Fremde und gegen die strukturellen Restriktionen haben Erol tief beeindruckt, obwohl die Eltern ihn nie in seinem Berufswunsch, Profifußballer zu werden, unterstützt haben. Umso erstaunlicher ist es, dass er (als produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt) bei der Suche nach Lösungen dieser wichtigen Entwicklungsaufgabe der "Berufsfindung" den riskanteren Weg des Fußballspielens gewählt hat, worin ihn offensichtlich seine Lehrer und Freunde unterstützt haben. Er war sich der mit dieser Entscheidung verbundenen harten Trainingsauflagen (harte Sozialisation ohne Wenn und Aber) sehr wohl bewusst und hat diese Zeit positiv für sich verarbeitet, wenn er erinnert: "Fußball hat mich charakterlich sehr stark geprägt… hat meinen Charakter gebildet." Die große Lebenskrise, die mit dem verletzungsbedingten plötzlichen Ende der Fußballkariere bei der U17 des BVB verbunden war, konnte er aus dieser inneren Stärke heraus überwinden, und weil er zudem Unterstützung durch fähige Lehrer erhielt, die zusammen mit ihm einen Plan B entwickelten (anknüpfend an seine Fähigkeit, anderen etwas beizubringen), über das Berufskolleg den Beruf des Lehrer anzustreben. Identitätsbildung hat, so dieses Beispiel, auch immer etwas mit moralischer Verantwortung gegenüber sich selbst zu tun. Seinen Traumberuf wird dann vielleicht sein Bruder erreichen. Sein Leben lang hat Erol mit engen Verhältnissen und ökonomischen Restriktionen klarkommen müssen, das hat ihn stark gemacht, auch in Krisen die Beziehung zu wohlwollenden Menschen zu pflegen, sich auf das Wesentliche zu beschränken, ein bescheidenes Leben zu führen, sein Selbstwertgefühl nicht zu verlieren und in der Not (gemeinsam) nach Auswegen zu suchen – typische Merkmale der von ihm gelebten und erfahrenen sozialen Beziehungspraxis, die von gegenseitiger Verantwortung getragen ist.
Wolfgang Sander (9/2016) Die Literaturhinweise finden sich in der Langfassung der Sachanalyse (pdf-Datei)