Lernziele
Inhaltlich
Die Schülerinnen und Schüler …
artikulieren ihre Vorkenntnisse und Meinungen zu der Frage „Wie bewältigen Menschen Krisensituationen in ihrem Leben, wenn sie z.B. Flucht und Vertreibung oder Ausgestoßen werden zu bewältigen haben?“
rufen die grundlegenden Begriffe zum Thema Sozialisation und Integration (s. Baustein 2) in Erinnerung, die in diesem Kapitel als Werkzeuge zur Analyse der Fälle eingesetzt werden können,
bearbeiten in einer Gruppe einen Fall zur Krisenbewältigung und wenden die zentralen Begriffe (wie Sozialisation, Norm, Abweichendes Verhalten, Bezugsperson, Stigmatisierung, Identität, Identitätskrise, Entwicklungsaufgaben, Schule, Arbeit etc.) bei der Analyse des jeweiligen Falles an,
erstellen zu ihrem Fall jeweils eine eher optimistische und eine eher pessimistische Version der Krisenbewältigung („Was wäre, wenn …“),
formulieren Thesen über Möglichkeiten, wie sie sich vorstellen können, Krisen zu bewältigen und wie man jungen Menschen bei der Krisenbewältigung helfen kann.
Methodisch
Die Schülerinnen und Schüler …
führen ein Planungsgespräch durch,
einigen sich darauf, an Hand welcher Fälle (Lebensverläufe) sie diese Frage nach der Krisenbewältigung untersuchen wollen,
werden sich ihrer eigenen Einstellungen und ihres eigenen Wissens über Krisenbewältigung in der Jugend bewusst,
strukturieren die Untersuchungsergebnisse ihrer Arbeitsgruppe mit Hilfe der Auswertungshilfen bzw. des Auswertungsplakates,
präsentieren die Ergebnisse ihrer Arbeitsgruppe,
diskutieren die Ergebnisse der anderen Arbeitsgruppen, vergleichen die unterschiedlichen Strategien und Maßnahmen der Krisenbewältigung in unterschiedlichen Situationen.
Einstieg und didaktische Idee des Bausteins
Um das Thema dieses Bausteins „Wie bewältigen Menschen Krisensituationen in ihrem Leben?“ an Hand von Fällen zu präzisieren und schülernah bearbeitbar zu machen, bietet es sich zunächst an, spontane Antworten der Schülerinnen und Schüler zu dieser Frage zu provozieren, zu sammeln und ohne großen Aufwand nach internen und externen Sozialisationsfaktoren zu sortieren. Der Impuls unterscheidet sich nun deutlich von den Eingangsfragen im
Eine allgemeine soziologische Diskussion der Strategien zur Krisenbewältigung würde die Schülerinnen und Schüler überfordern und möglicherweise Vorurteile verstärken, daher wird hier der Weg vorgeschlagen, das Basiswissen zur Sozialisation exemplarisch zur Analyse von vier konkreten Fällen (Lebensverläufen) zu nutzen und die konkreten Berichte der interviewten Personen als Herausforderungen für das erworbene theoretische Wissen anzusehen. Durch die schrittweise Auseinandersetzung mit dem Lebenslauf einzelner Menschen wird deutlich, wie unterschiedlich sich die Eingliederung in die Gesellschaft (über die Familie, soziale Gruppe, Schule und Freundeskreis) vollzieht und wie Krisen bewältigt werden. So können im Wechselspiel Anschauungen strukturiert und Begriffe anschaulich werden.
Auf diese Weise wird, wie in den Rahmenvorgaben für die politische Bildung in NRW gefordert, das relevante Inhaltsfeld 6 „Identität und Lebensgestaltung im Wandel der modernen Gesellschaft“ (S. 20) aufgegriffen und untersucht, wie die Entwicklung „personaler Identität und persönlicher Lebensgestaltung im Spannungsfeld von Selbstverwirklichung und sozialen Erwartungen“ steht. Ähnlich fordert der „Lehrplan Sozialkunde Jahrgangsstufe 8“ (Gymnasium Bayern) die „Bedeutung von Sozialisation und Sozialisationsinstanzen und Merkmale der Jugend als Lebensphase“ zu untersuchen und dabei besonders auf den „Einfluss von Sozialisationsinstanzen und Bezugsgruppen“ zu achten. Die Auswertung biographischer Berichte wird wegen des deutlichen Bezuges zur Lebenswirklichkeit der Jugendlichen besonders hervorgehoben. Der Kernlehrplan in NRW für die Gesamtschule (Sekundarstufe I) sieht im Inhaltsfeld 6 des Faches Gesellschaftslehre (Erdkunde, Geschichte, Politik) den Schwerpunkt „Identität, Lebensgestaltung und Lebenswirklichkeit“ (S. 18f) vor und regt - ganz wie hier intendiert – die Untersuchungsfrage an, „welche innergesellschaftlichen und demographischen Einflussgrößen das Leben und die Identitätsbildung von Menschen in unterschiedlichen Zeiten, Räumen und sozioökonomischen Konstellationen beeinflusst haben bzw. beeinflussen.“ (ebd.)
Die hier ausgewählten vier biographischen Fälle setzen unterschiedliche Akzente, die Jugendphase wird aber überall berücksichtigt:
Im Fall Grün wird die historische Dimension von Sozialisation besonders deutlich, da entlang des Lebenslaufes einer Person (von der Kindheit bis zur Pensionierung) offensichtlich wird, wie ein junger Mensch auch unter dramatischen Bedingungen wie Vertreibung und Flucht nach dem zweiten Weltkrieg zahlreiche Krisen bewältigen und in der neuen Heimat „Fuß fassen“ konnte.
Am Fall Dazer lassen sich der Einfluss staatlicher Institutionen aber auch der Familie auf den Sozialisationsprozess veranschaulichen. Bereits in jungen Jahren begehrte sie gegen das politische System der DDR auf. In ihrem weiteren Lebensverlauf verschärften sich die Restriktionen gegen sie und ihre Familie soweit, dass sie mit allen Mitteln versuchte, das Land zu verlassen. Dies gelang schließlich 1989. 1999 kehrte sie in ihre alte Heimat zurück. Während beider Umzüge musste sie sich an Veränderungen im "Sozialen Raum" anpassen.
Der Fall Panić besitzt einen besonderen Gegenwartsbezug. Dabei steht ein junger Mensch, der mit seinen Eltern während des Jugoslawienkrieges nach Deutschland emigrierte, im Mittelpunkt. Schon in seiner frühsten Kindheit sah er sich mit verschiedensten Lebenskrisen konfrontiert. Seine Jugend war vom Wunsch geprägt, eine Karriere als Profifußballer einzuschlagen. Als dieser aufgrund einer schweren Sportverletzung scheiterte, musste sich er sich vollkommen neu orientieren.
Der Fall Erol (Credibil) setzt sich vor allem mit Sozialisationskrisen im familiären Kontext auseinander. Hierbei geht es um den bekannten Rapper "Credibil". Als Sohn türkisch-kurdischer Eltern war seine Kindheit von finanziellen Notlagen und interfamiliären Beziehungskrisen geprägt. Seine Jugend verbrachte er in Frankfurt am Main und konnte sich durch familiäre Unterstützung und eigene Resilienzstrategien den Traum von der Musikerkarriere erfüllen.
Die Schülerinnen und Schüler sind mit Hilfe der zur Verfügung gestellten authentischen biographischen Interviews der vier Personen (
Intendiert ist, dass die Schülerinnen und Schüler nach diesen konkreten Fallanalysen in der Lage sind, a) zunächst jeweils für ihren Fall die konkreten Ergebnisse zu präsentieren und b) danach in der Plenumsdiskussion die Verbindung mit den anderen Fällen herzustellen und c) nun (etwas) besser begründete Urteile über Möglichkeiten und Grenzen der Krisenbewältigung im Jugendalter zu bilden und dabei auch Beziehungen zur eigenen Lebenswelt aufzuzeigen. So sollte auch diskutiert werden, wie manche Identitätskrisen durch Veränderungen der Randbedingungen (externen Sozialisationsfaktoren) besser gelöst werden könnten. Mit der Einbindung des Themengebietes „Flucht und Vertreibung“ in den Sozialisationskontext wird erreicht, dass nicht die Außenperspektive (Mit welchen Vorurteilen und Diskriminierungen haben die Betroffenen zu kämpfen?) in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, sondern welche z.T. existentielle Krisen die Betroffenen (infolge von Krieg, Vertreibung, Flucht, Neuanfang, Unfall, Verlust, finanzieller Not oder auch von krimineller Umwelt u.a.) zu bewältigen hatten und wie sie das geschafft haben. Diese Innenperspektive kann jeder einnehmen, wenn er selbst einmal im Laufe seines Werdeganges (Lebens) in eine Krise gerät und nach Hilfe bei sich und anderen Ausschau hält. So kann an jedem einzelnen der vier Fälle deutlich werden, dass Sozialisation und Selbstsozialisation besonders in Krisensituationen immer auch auf soziale Unterstützung durch andere sowie äußere Rahmenbedingungen (wie soziale Institutionen, ökonomische Bedingungen und Kultur) angewiesen sind und wie das Zusammenspiel gelingen kann. Der biographische Ansatz bringt den großen Vorteil für die politische Bildung mit sich, dass das Persönliche politisch und das Politische persönlich werden kann.
Zur Einführung in die Arbeitsgruppen sollte die Lehrperson die vier Personen/Fälle motivierend und lebendig vorstellen - wozu jeweils auf die Angaben zur jeweiligen Person zurückgegriffen werden kann (Erol
Der Schwierigkeitsgrad und der Zeitaufwand für die Bearbeitung der Fälle sind unterschiedlich. Die Fälle Erol und Panić dürften die Jugendlichen wegen ihrer großen Nähe zu ihrer Lebenswelt unmittelbar ansprechen. Die Fälle Dazer und Grün besitzen im Hinblick auf die deutsche Geschichte hohe Relevanz und bedürfen für das bessere Verständnis der Personen und der Zeitumstände wichtiger Hintergrundinformationen. Für diese, ebenso wir für den Fall Erol, werden daher noch ergänzende Materialien mit Hintergrundinformationen bereitgestellt (zum Fall Erol
Der erste Fall befasst sich mit der Lebensgeschichte des Rappers "Credibil" (mit bürgerlichem Namen Erol Peker) und ist für die Schülerinnen und Schüler von besonderem Interesse, da die Person im Fokus der Öffentlichkeit steht und der Fall einen enormen Bezug zur Lebensrealität junger Menschen aufweist. Bei diesem Beispiel rückt die Sozialisationsinstanz Familie besonders in den Vordergrund. Daher behandeln gleich zwei Materialien das Thema Familie. Das Material
Der zweite Fall beleuchtet das Leben von Dejan Panić . Hier liegt der Fokus auf der Sozialisationsinstanz "Institutionen". Im Konkreten wird die Bedeutung der Schule (
Der Fall Cornelia Dazer weist die Besonderheit auf, dass in der ehemaligen DDR der Staat eine allgegenwärtige Rolle besaß. Dieses äußert sich dadurch, dass staatliche/ institutionelle Sozialisationsinstanzen bereits in frühester Kindheit, aber auch darüber hinaus, Einfluss auf die Entwicklung der Menschen nahmen (
Zu den Fällen 1 bis 3 liegen Interpretationshinweise vor, die aufzeigen, an welchen Stellen im Text Scharnierstellen und Sozialisationsinstanzen zum Tragen kommen (in tabellarischer Form für die Lehrperson in
F. Grün als Gehilfe beim Bauern (1951) (© Sander/Grün)
F. Grün als Gehilfe beim Bauern (1951) (© Sander/Grün)
Der Fall Grün stellt – insbesondere wegen seiner Länge und Thematik – eine Besonderheit dar, der eher für lesefreudige Schülerinnen und Schüler mit besonderem Interesse an der deutschen Nachkriegsgeschichte geeignet ist. Der Fall zeichnet den Lebensverlauf eines vertriebenen Jungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit (von der Kindheit bis zur Pension) nach: Er wird von dieser Person lebendig und anschaulich erzählt und dürfte daher jede Schülerin und jeden Schüler interessieren, die am Lesen einer spannenden Lebensgeschichte Spaß haben. Der Fall ist anders als die anderen drei Fälle diesmal chronologisch in verschiedene Lebensabschnitte – und nicht nach Sozialisationsinstanzen - aufgeteilt. Erleichtert wird die Bearbeitung der vier Lebensabschnitte durch die Bereitstellung von Auswertungsblättern (Kindheit
Die Anwendung von systematischem Wissen über Sozialisation (s.