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Nordpoldämmerung - Essay | Arktischer Raum | bpb.de

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Nordpoldämmerung - Essay

Arved Fuchs

/ 10 Minuten zu lesen

Der Expeditionsleiter Arved Fuchs beschreibt die gravierenden Auswirkungen des Klimawandels auf die Lebensbedingungen in der Arktis. Innerhalb weniger Jahre werden die charakteristischen Merkmale dieser Region verloren sein.

Einleitung

Die "Nordostpassage", jener legendäre Seeweg entlang der Nordküste Sibiriens ohne nennenswerte Eisfelder - das war eine Vorstellung, die nicht in mein Bild von der Arktis passte. Dreimal waren wir in den 1990er Jahren mit unserem Segelschiff "Dagmar Aaen" am Eis gescheitert. Drei Sommer, in denen wir auf ziemlich drastische Art und Weise lernten, dass Hochmut vor dem Fall kommt. Trotzdem versuchten wir es im Jahre 2002 ein viertes Mal, wenn auch ein wenig kleinlauter. Es gelang auf Anhieb. Dort, wo uns in den Jahren zuvor Eisfelder den Weg versperrt hatten, gab es offenes Wasser. Die Passage lag nahezu eisfrei vor uns. Wir kamen aus dem Staunen kaum heraus. Alles nur Zufall? Eine Laune der Natur, die uns gewähren ließ? Oder waren das bereits Anzeichen eines sich immer deutlicher abzeichnenden Klimawandels in der Arktis, vor dem damals nur mit leisen Tönen von einigen Wissenschaftlern und Gremien gewarnt wurde? Ich war jedenfalls misstrauisch geworden und beschloss, intensiver zu recherchieren.

Die altgedienten Eismeerkapitäne der Moskauer "Hauptverwaltung des Nördlichen Seeweges" waren sich einig: "Alles nur Panikmache, Ihr habt einfach Glück gehabt. Wartet mal ab, in den nächsten Jahren wird alles wieder so, wie es früher war!" Aber sie sollten sich irren. Das Jahr 2002 war kein "Einreißer", keine Laune der Natur. Es zeichnete sich deutlich eine Tendenz ab. Natürlich ist die Eisbildung jährlichen Schwankungen unterworfen, aber die sich abzeichnende Entwicklung war unmissverständlich in ihrer Aussage: Das arktische Meereis nahm im Sommer sowohl in der Ausdehnung wie auch in der Mächtigkeit ab. Und zwar in einer Geschwindigkeit, mit der offenbar keiner gerechnet hatte. Auswirkungen auf die küstennahen Anrainer wie Alaska, Sibirien, Grönland und Kanada waren inzwischen unverkennbar. Während man sich in Europa eher zaghaft des Problems annahm, waren die Folgen des Klimawandels in der Lebenswirklichkeit zahlreicher indigener Völker längst angekommen.

Sensibilisiert durch die Erfahrungen der "Nordostpassage", entschlossen wir uns 2003, durch die "Nordwestpassage" zu fahren. Bereits 1993 hatten wir sie im Verlauf einer Expedition kennengelernt, als noch kaum jemand von "Klimawandel" gesprochen hatte. Die "Nordwestpassage" ist gewissermaßen das Pendant zur russischen "Nordostpassage". Sie führt nördlich der amerikanischen und kanadischen Küste entlang. 100 Jahre nach ihrer Erstbefahrung durch den Norweger Roald Amundsen (1872-1928) und zehn Jahre nach unserer eigenen Fahrt wollten wir Vergleiche anstellen, ob sich für uns feststellbar etwas verändert hatte. Sollten wir vorher noch Zweifel an den Auswirkungen des Klimawandels gehabt haben, dann wurden diese im Sommer 2003 gründlich ausgeräumt. Unsere Eindrücke mögen nach wissenschaftlichen Maßstäben zwar nicht repräsentativ gewesen sein, aber wir waren Beobachter mit einem fast 30-jährigen Erfahrungshorizont im arktischen Raum. Dieser Zeitraum ist erd- oder klimageschichtlich nicht einmal ein Wimpernschlag - doch umso erschreckender war die Klarheit, mit der wir die Veränderungen wahrnahmen.

Auswirkungen des Tauwetters

Die Auswirkungen des Klimawandels lassen sich sehr plastisch am Beispiel der kleinen Siedlungen an der Küste Alaskas darstellen. Die Menschen dort kämpfen verzweifelt um die Existenz ihrer Dörfer. Der Permafrostboden taut auf und verwandelt den Untergrund in einen breiigen Morast. Gleichzeitig bildet sich das Eis auf dem Meer viel später im Jahr, bricht im Frühjahr eher auf und erreicht nicht mehr seine gewohnte Stärke. Über dem eisfreien Meer baut sich bei Stürmen Seegang auf, der als Brandung auf die aufgetauten Küsten prallt. Eine erhebliche Erosion der Küsten ist die Folge. Die Siedlungen Shismareff und Kivalina müssen bereits umgesiedelt werden, andere werden folgen. In Barrow bemüht man sich verzweifelt, mit Sandsäcken die schwindende Steilküste zu befestigen - eine Art Donquichotterie, aber was sollen die Menschen machen? An einigen Küstenabschnitten wandert die Küstenlinie durch die Erosion um über zehn Meter pro Jahr landeinwärts. Weil sie sich auf immer dünnerem Eis bewegen müssen, geraten die im Umgang mit dem Packeis erfahrenen Jäger immer häufiger in lebensbedrohliche Situationen.

In der Arktis dämmert ein neues Zeitalter heran. Sie erwärmt sich derzeit etwa doppelt so stark wie der Rest der Welt. Die Auswirkungen des Klimawandels auf die kleinen arktischen Siedlungen lassen erahnen, wie die weltweiten Folgen im großen Stile aussehen könnten. Laut einer Studie des World Wide Fund for Nature (WWF) und der Allianz-Versicherung sind 136 Millionenstädte mit Vermögenswerten von insgesamt rund 19 Billionen Euro vom Meeresspiegelanstieg bedroht.

Aber während nahezu unbeachtet von der Weltöffentlichkeit die Inupiat, die Ureinwohner Alaskas, um ihre Dörfer und um ihre Lebensgrundlage kämpfen, führt man in den reichen Industriegesellschaften eine eher akademische und bisweilen recht abgehobene Diskussion über die erforderlichen Maßnahmen. Da wird der UN-Weltklimagipfel von Cancún im Dezember 2010 gar als ein Erfolg gefeiert. Dabei ist an rechtsverbindlichen Klimaschutzvereinbarungen nur wenig herausgekommen. Es gibt lediglich wohlklingende Absichtserklärungen. Man hat sich auf Durban in einem Jahr vertagt - wieder einmal. Immerhin stimmten alle Teilnehmer in Cancún dem Ziel einer Begrenzung des Temperaturanstiegs auf maximal zwei Grad Celsius zu.

Aber schon eine Erwärmung um zwei Grad hätte gravierende Auswirkungen auf den arktischen Raum. Die Arktis stellt so etwas wie ein Frühwarnsystem der Erde dar. Was dort passiert, wird mit einer gewissen Verzögerung auch die anderen Regionen der Erde erreichen. Die Signale sind alarmierend: Das Schelfeis im Norden der kanadischen Ellesmere Insel - eine Art schwimmender Gletscher - bricht auf und treibt ins offene Meer hinaus. Etwas, was Jahrtausende Bestand hatte, löst sich in nur wenigen Jahren auf. Neuesten Schätzungen des National Snow and Ice Data Center in Boulder, Colorado, zufolge, wird das Sommereis des Arktischen Ozeans in 20 bis 30 Jahren komplett verschwunden sein. Die Sommereisbedeckung ist in den vergangenen Jahren um eine bis zu viermal so große Fläche wie Deutschland geschrumpft. Was einige bejubeln, weil es Zugang zu Bodenschätzen schafft und neue Schifffahrtsrouten öffnet, ist nicht nur für viele Menschen, die dort leben, sondern auch für die Tierwelt eine Katastrophe, denn Eis ist ein Lebensraum für zahlreiche Tierarten. Auf Grönland haben einige der großen Gletscherströme ihre Fließgeschwindigkeit nahezu verdoppelt. Dadurch verliert das grönländische Inlandeis an Masse, und es erhöht sich der Frischwassereintrag in das Meer, mit der Folge, dass der Meeresspiegel steigt.

Im Sommer 2009 erzählten uns die Jäger der kleinen Siedlung Siorapaluk im äußersten Nordwesten Grönlands, dass das Meereis inzwischen zwei Monate später komme und zwei Monate früher gehe. Aber selbst wenn sich das Eis endlich gebildet habe, könnten sie nicht mehr zu ihren angestammten Jagdrevieren fahren, da das Eis zu dünn und tückisch geworden sei. In anderen Dörfern weiter im Süden entledigt man sich frustriert seiner Hunde. Es lohnt sich nicht mehr, sie zu halten. Ein Gespann besteht aus zehn oder zwölf Hunden. Die Tiere ein ganzes Jahr lang durchzufüttern und sie dann letztlich nicht einsetzen zu können, wird schlichtweg zu teuer. Die einheimischen Jäger verzeichnen in den vergangenen Jahren ein anderes Wettergeschehen, als sie es gewohnt sind. Außerdem gibt es plötzlich Insekten, die ihre luftgetrockneten Nahrungsmittelvorräte zerstören.

In Sibirien hören wir, dass es die Fischarten, welche die Tschuktschen früher gefangen haben, dort nicht mehr gibt. Dafür fangen sie heute eine andere Art. "Die können wir zwar auch essen, aber eigenartig ist es schon", erzählte uns ein Jäger.

Was geht uns das an?

In der Vorstellungswelt vieler Europäer scheint die Arktis weit entfernt von uns zu liegen - als gingen uns die Vorgänge dort oben gar nichts an. Aber das ist ein Trugschluss. Der Nordpol ist nur ein paar Flugstunden von uns entfernt. Die Kinder, die heute das Licht der Welt erblicken, werden wohl nicht nur wohlwollend auf ihre Erzeuger und Ahnen zurückblicken. Was wir heute an Maßnahmen versäumen, wird die nächste Generation auszubaden haben.

2007 erregte der vierte Bericht UN-Weltklimarates UNPCC die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Wohlgemerkt - dies war der vierte seiner Art, die ersten drei waren zwar in der wissenschaftlichen Welt eifrig und kontrovers diskutiert worden, den Weg in eine breitere Öffentlichkeit schafften sie aber kaum. Sie verkümmerten zu einer Randnotiz in der Medienlandschaft. Dabei gibt es wohl kaum ein anderes Thema, das weltweit alle Menschen gleichermaßen angeht wie der Klimawandel. Mit Ausnahme einiger namhafter Klimaforscher, die sich immer wieder unverdrossen an die Öffentlichkeit wendeten und sich mahnend in den Medien zur Sache äußerten, wachten andere Wissenschaftler und Forschungseinrichtungen geradezu eifersüchtig darüber, dass dieses Thema auf rein akademischer Ebene diskutiert wird. Einmischungsversuche wurden energisch als "unqualifiziert" abgeschmettert.

So kam es zu einer Art Lagerbildung, und die Menschen in den betroffenen Regionen rümpften die Nasen über die "Theoretiker". Einige Wissenschaftler hingegen übten sich darin, Formulierungen zum Klimawandel derart butterweich zu formulieren, dass anschließend niemand mehr wusste, was man eigentlich glauben kann. Den Mut, es klar auszusprechen, hatten anfangs nur wenige. Das hat sich zwar geändert, aber in der Öffentlichkeit verdichtete sich lange Zeit der Eindruck, dass die Experten selbst nicht sicher sind, ob es einen Klimawandel gibt und ob er von uns Menschen verursacht ist. Dies resultierte in der Haltung: "Wenn sich selbst die Wissenschaftler nicht einig sind, dann brauchen wir uns auch keine Gedanken zu machen oder gar unser Verhalten zu ändern."

Der Titel von Al Gores Buch "Eine unbequeme Wahrheit" (2006) traf, trotz einiger inhaltlicher Fehler, den Nagel auf den Kopf. Von den "Klimaskeptikern", die versuchten, mit nebulösen Argumentationen die Diskussion im Keime zu ersticken, wurde Gore als Selbstdarsteller abgestempelt und sein Buch als populistisches Machwerk gegeißelt. Dabei war es genau das, was die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt brauchte. Das Buch und der gleichnamige Film übersetzten nämlich die komplexen Vorgänge in eine Sprache, die auch von Nichtakademikern und besonders auch von Kindern und Jugendlichen verstanden wird; beide machen betroffen, wecken Emotionen. Auch wenn Emotionen in der Arbeitswelt von Forschungseinrichtungen nichts zu suchen haben mögen - gesellschaftliche Veränderungen lassen sich nicht allein durch Publikationen in Fachzeitschriften erzielen. Denn es ist für den Bürger, der sich nicht ständig mit der Klimathematik auseinandersetzt, schwer zu verstehen, warum eine Erwärmung von mehr als zwei Grad Celsius im globalen Mittel so gravierende Auswirkungen haben soll.

Ein bisschen wärmer ist doch gut, so das allgemeine Credo. Das haben mir selbst Grönländer gesagt, denen die Auswirkungen des Klimawandels täglich vor Augen stehen. "Wir können jetzt länger zum Fischen herausfahren, und selbst Landwirtschaft ist im südlichen Teil Grönlands möglich." Auch für den Tourismus wirkt sich ein milderes Klima positiv aus. Grönland braucht dringend Devisen. Steigende Touristenzahlen und der Abbau von Rohstoffen versprechen endlich schwarze Zahlen. Selbst für die archaischen Jägergemeinschaften im hohen Norden Grönlands empfindet man wenig Empathie. "Die sterben sowieso bald aus." Wenn ein moderner Grönländer von seinen Landsleuten als "den Eskimos dort oben" spricht, spürt man, dass ein Riss durch das Land geht. Der Klimawandel ist das trennende Element zwischen den Völkern - und auch in der eigenen Bevölkerung. Es wird immer Gewinner und Verlierer geben - aber langfristig verlieren wir alle.

Profiteure und Verlierer

Es gibt genügend Konzerne, die vom Klimawandel profitieren können. Es wird vermutet, dass rund ein Viertel der noch verbliebenen fossilen Brennstoffe im Arktischen Ozean lagern. Das weckt Begehrlichkeiten. Vor diesem Hintergrund muss auch die im September 2010 in Moskau abgehaltene Arktis-Konferenz der Anrainerstaaten gesehen werden. Auf dieser ging es weniger um die negativen Auswirkungen des Klimawandels als vielmehr um die geopolitische Abgrenzung. Wem gehört was? Wie verlaufen die Grenzziehungen zwischen den Nationen? Ein neuer Gold Rush zieht herauf. Das wiederum enthält politischen Sprengstoff. Jede Nation versucht, für sich einen möglichst großen Claim mit entsprechenden Nutzungsrechten abzustecken.

Über die ökologischen Auswirkungen zu lamentieren, die eine Ölförderung im Arktischen Ozean nach sich ziehen kann, hilft wenig. Die indigene Bevölkerung der Arktis wird wieder einmal keinen Anteil an der vermeintlichen Erfolgsgeschichte haben. Sie wird bemüht sein, ihre kulturelle Identität in einer sich veränderten Welt zu erhalten - und ansonsten versuchen, irgendwie klar zu kommen. Schon jetzt ist die Suizidrate unter der indigenen Bevölkerung ungewöhnlich hoch.

Den Begriff "Klimaflüchtling" gibt es zwar in der internationalen Rechtsprechung nicht, de facto gibt es jedoch schon heute viele Menschen, die aufgrund der klimatischen Veränderungen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Wie wird unsere Gesellschaft mit einem anwachsenden Flüchtlingsstrom umgehen? Ich behaupte, dass wir überhaupt nicht darauf vorbereitet sind. Wir dürfen es deshalb gar nicht erst so weit kommen lassen. Wir müssen handeln, indem den betroffenen Menschen vor Ort geholfen wird. Das schließt mit aller gebotenen Dringlichkeit Maßnahmen ein, die zur Verringerung der weltweiten Treibhausgasemissionen führen. Der Klimawandel verursacht Konfliktsituationen, auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind.

Im Fall der Siedlung Kivalina in Alaska, die wegen der Küstenerosionen umgesiedelt werden muss, gibt es erste juristische Aktivitäten, verbunden mit enormen Schadenersatzforderungen. Angeklagt sind Konzerne, die - so der Vorwurf - aufgrund ihrer Emissionen den Klimawandel beschleunigen und um dessen Auswirkungen sie sehr wohl wissen. Wenn solche Prozesse für den Kläger erfolgreich enden, wird das eine ganze Prozesslawine lostreten. Die Opfer des Klimawandels werden sich formieren und versuchen, ihr Recht juristisch durchzusetzen.

In den insgesamt 31 Jahren, in denen ich in der Arktis unterwegs bin, sind die vergangenen zehn Jahre die prägendsten für mich gewesen. Ich hätte es früher nie für möglich gehalten, dass wir die Arktis in einem solchen Maße verändern können, wie es derzeit geschieht. Wir verlieren durch den Klimawandel innerhalb weniger Jahre die charakteristischen Merkmale einer ganzen Region.

Geb. 1953; Expeditionsleiter und Publizist; unternimmt seit 1977 Expeditionen, erreichte unter anderem 1989 als erster Mensch auf Skiern den Süd- und Nordpol in einem Jahr; Reiherstieg 2, 24576 Bad Bramstedt. E-Mail Link: mail@arved-fuchs.de