Im Mittelpunkt der Sektion stand die Frage, ob die neuen und alten Formen direkter Demokratie zu mehr Gerechtigkeit und einer höheren Legitimation des politischen Systems beitragen. Es diskutierten der Münsteraner Politikwissenschaftler Externer Link: Prof. Dr. Norbert Kersting; sein Kollege Externer Link: Prof. Dr. Everhard Holtmann von der Universität Halle; die Vorstandssprecherin des Vereins Externer Link: "Mehr Demokratie!" Externer Link: Claudine Nierth; die SPD-Bundestagsabgeordneten Externer Link: Ute Kumpf; sowie Externer Link: Prof. Dr. Martin Haase, Romanist und Mitglied der Piratenpartei.
Zum Einstieg in das Sektionsthema referierten die anwesenden Expertinnen und Experten in kurzen Impulsreferaten die bekannten Argumente eines Für und Wider direktdemokratischer Elemente.
Claudine Nierth forderte mehr direkte Demokratie, zeigte sich überzeugt von der Weisheit der Massen und hielt grundsätzlich jede Frage für eine Volksabstimmung geeignet – auch so komplexe Sachverhalte wie den Euro-Rettungsschirm. Würden die Bürgerinnen und Bürger direkt gefragt, so Nierth, bestünde auch ein Anreiz sich zu informieren, zu diskutieren und letztlich ein Urteil zu fällen. Die SPD-Politikerin Ute Kumpf legte Wert auf die Feststellung, dass repräsentative und direkte Demokratie keine Gegensätze seien. Sie forderte eine "Kultur der Beteiligung", die Bürgerinnen und Bürger frühzeitig in Planungs- und Entscheidungsprozesse einbezieht. Dadurch würden die Transparenz und die Akzeptanz von Entscheidungen erhöht und das Verantwortungsgefühl der Menschen für ihre Umwelt gestärkt. Seit Willy Brandts Reformen unter dem Motto "Mehr Demokratie wagen" sei viel geschehen, so Kumpf, nun sei es aber an der Zeit Bürgerentscheide auch auf Bundesebene einzuführen. Allerdings sieht der entsprechende Gesetzesentwurf ihrer Partei Mindestquoren und Einschränkungen bei Haushaltsfragen vor – eine Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm wäre also auch nach dem Willen der SPD nicht möglich. Einigkeit herrschte zwischen den beiden Expertinnen aber darüber, dass auch Einwohner ohne deutsche Staatsbürgerschaft die Möglichkeit erhalten müssten, sich an Abstimmungen zu beteiligen.
Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann vertrat eine gänzlich andere Auffassung. Es sei fraglich, ob die "erweiterte Möglichkeit volksunmittelbarer Beteiligung der Demokratie in Deutschland mehr Legitimation zuführen und die Politik gerechter machen würde." Vielmehr sei es empirisch nachweisbar, dass sich vor allem die überdurchschnittlich gebildeten und besser verdienenden Bürgerinnen und Bürger an Volksabstimmungen beteiligen würden. Eine Einschätzung die Tags zuvor bereits Prof. Dr. Merkel im Rahmen der Externer Link: Podiumsdiskussion vertrat. Merkel sprach den bisher in Deutschland durchgeführten Beteiligungsprojekten zu, vor allem "Mittelschichtsveranstaltungen" zu sein. Holtmann nannte die Hamburger Volksabstimmung vom Juli 2010 als ein Beispiel für den Effekt sozialer Verzerrung, den direktdemokratische Entscheidungen entfalten könnten. Damals wurde die sechsjährige Grundschule durch das Hamburger Bürgertum gekippt – obwohl insbesondere sozial benachteiligte und bildungsferne Schichten von einem längeren gemeinsamen Lernen profitiert hätten. Holtmann schlug vor, die repräsentative Demokratie zu stärken und eine allgemeine Wahlpflicht einzuführen, denn bei Wahlen sei die Beteiligung wesentlich höher als bei Bürgerentscheiden und der soziale Verzerrungseffekt damit vergleichsweise gering. Claudine Nierth vom Verein "Mehr Demokratie" hielt dem entgegen, dass Inklusion ein generelles gesellschaftliches Problem sei und nicht als Argument gegen mehr Bürgerbeteiligung ins Feld geführt werden dürfe.
Der Pirat Martin Haase glaubte mit dem Internet ein Instrument gefunden zu haben, um repräsentative und direkte Demokratie miteinander zu vereinen. Auch er zeigte sich eher skeptisch gegenüber den klassischen Formen der Bürgerbeteiligung wie Volksentscheiden. Denn viele Themen seien zu komplex als das sie sich auf einfache Ja- oder Nein-Fragen für einen Volksentscheid herunterbrechen ließen. Er plädierte vielmehr dafür, die "Parlamentsarbeit auf mehr Schultern zu verteilen". Das geeignete Mittel hierfür sei Externer Link: Liquid Feedback, eine freie Software der Piratenpartei, die es allen Parteimitgliedern ermöglichen soll an der innerparteilichen Meinungsbildung mitzuwirken. Jede/r könne mit diskutieren, über Vorschläge abstimmen oder Alternativen einreichen. Dabei setze Liquid Feedback gerade nicht auf die sogenannte "Schwarmintelligenz", also jene Theorie, wonach die Summe der individuellen Voten zur besten Entscheidung führe. Stattdessen können die Mitglieder entscheiden, ob sie über ein Thema selbst abstimmen wollen oder ihre Stimme für einen Themenbereich an eine Expertin oder einen Experten delegieren möchten. So vereint Martin Haase als Experte zum Thema Bildung mehr als 100 Stimmen auf sich – die ihm die Mitglieder aber jederzeit wieder entziehen können. Liquid Feedback, so Haase, sei ein guter "Kompromiss zwischen Basisdemokratie und repräsentativer Demokratie".
Moderiert wurde die Sektion von Ansgar Klein - Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (© Christian Plähn)
Moderiert wurde die Sektion von Ansgar Klein - Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (© Christian Plähn)
Bedeuten nun also mehr direktdemokratische Beteiligungsformen, sei es digital oder analog, auch ein mehr an Legitimation politischer Entscheidungsprozesse? Eine endgültige Antwort darauf blieben die Expertinnen und Experten schuldig. Nur eins wurde klar: Es lässt sich weiterhin vortrefflich über das Für und Wider diskutieren. Ein erster Schritt Richtung Lösung des Dilemmas könnte das von der Piratenpartei entwickelte Liquid Feedback-System sein, dass zumindest teilweise ermöglicht, bekannten Problemen direktdemokratischer Beteiligungsformen entgegen zu wirken. Hier werden direktdemokratische mit repräsentativen Elementen der Entscheidungsfindung gekoppelt. Allerdings – und hier liegt zurzeit das Kernproblem – führt das Liquid Feedback-System nicht nur zur Exklusion bildungsferner Schichten, sondern auch zur Exklusion des Teils der Bevölkerung, der noch nicht in der Digitalen Gesellschaft angekommen ist.