Der folgende Aufsatz ist dem Buch "Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer" aus dem Jahr 1993 entnommen. Verfasst von der polnischen Historikerin Ruta Sakowska. Publikation der Externer Link: Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
"Die Liquidierung des jüdischen Warschau" (Auszüge)
15. November 1942, Warschau, Ghetto
Bericht der vereinigten Untergrundorganisationen des Ghettos für die polnische Exilregierung in London und die Regierungen der Alliierten
Im Glanz des unvergleichlichen, goldenen polnischen Herbstes funkelt und leuchtet eine Schicht Schnee. Dieser Schnee ist nichts anderes als die Federn und Daunen aus dem Bettzeug der Juden, das mit dem ganzen Besitz, von den Schränken und Koffern voller Wäsche und Kleidung bis zu den Schüsseln, Töpfen, Tellern und anderen Haushaltsgegenständen der nach "Osten" evakuierten 500.000 Juden zurückgeblieben ist. Diese Sachen, die niemandem mehr gehören, die Tischtücher, Mäntel, Federbetten, Pullover, Bücher, Wiegen, Dokumente und Photographien, sie liegen durcheinander in den Wohnungen, auf den Höfen, auf den Plätzen, in Haufen zusammengefegt und mit jenem Schnee bedeckt aus der Zeit des tausendfachen deutschen Mordes an den Juden Warschaus, den aufgeschlitzten Eingeweiden ihres Bettzeugs.
Die unheimliche Stille unterbrechen Revolverschüsse, das Rattern der Maschinenpistolen, das Dröhnen der Kraftfahrzeugmotoren und der Motorräder der deutschen Patrouillen, das Krachen der Türen und Möbel, die eingeschlagen werden, und die rauhen Schreie "Alle Juden raus", der entsetzliche Zug der zum Tode verurteilten jüdischen Opfer und der rhythmische Tritt der Stiefel der internationalen faschistischen Bande, der Litauer, Letten, Ukrainer
[...]
Der folgende Bericht beschreibt den Verlauf der sogenannten Aussiedlungsaktion unter Berücksichtigung der Haltung und der Reaktionen der jüdischen Massen, ihren geistigen Zustand wie ihre Hoffnungen und Enttäuschungen, sowie den ganzen strategischen Plan der Deutschen, der mit Hilfe eines meisterhaft ausgeführten Betrugs und moderner Technik die schnellstmögliche physische Vernichtung von 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung zum Ziel hat. [...]
Die zur "Aussiedlung" bestimmten Juden wurden zum Umschlagplatz gebracht. Der Sammelpunkt, wo die "Umsiedler" konzentriert wurden, war das in unmittelbarer Nachbarschaft zum Umschlagplatz bei der Transferstelle gelegene jüdische Krankenhaus "Czyste" in der Stawki-Straße, das eigens zu diesem Zweck in die Leszno-Straße 2 verlegt worden war. Auf dem Umschlagplatz befindet sich ein Eisenbahnanschluß. Während die Aktion andauerte, gingen von diesen Gleisen die mit den jüdischen Opfern beladenen Viehwaggons ab.
Jeden Tag ging ein Transport mit durchschnittlich fünf- bis sechstausend "Ausgesiedelten" ab. In den Nachmittagsstunden, gegen 16-17 Uhr, fand die Verladung in die Waggons statt. Aus dem Gebäude des Krankenhauses wurden alle Menschen herausgetrieben und dabei brutal mit Gewehrkolben und Knüppeln geschlagen. Auf dem ersten Platz (der Umschlagplatz besteht aus zwei Plätzen; der erste ist auf der einen Seite mit dem Büro des Umschlagplatzes verbunden und führt auf der anderen Seite durch ein Tor auf den zweiten Platz, der direkt an den Eisenbahnanschluß grenzt) fand die sogenannte Selektion der Menschen statt. Der Strom der Menschen, Mütter mit Säuglingen auf dem Arm, Menschen mit schweren Bündeln auf den Schultern, Angehörige ganz verschiedener Gesellschaftsschichten, ging an zwei oder mehr SS-Offizieren vorbei, die auf beiden Seiten des Stroms standen. Ein Teil der zu körperlicher Arbeit fähigen Männer wurde in ein Dulag (Durchgangslager) gebracht, aus dem sie in verschiedene Arbeitslager geschickt wurden. Die Besitzer von gültigen Ausweisen ließ man frei, zumeist erst nach energischer Intervention der Direktoren der Shops
Im Schnitt wurden in die Waggons jeweils einhundert Personen geladen. Die Richtung der Transporte war immer die gleiche – die Mordstätte in Treblinka.
Wie bereits dargelegt, wurde die wirtschaftliche Lage von Zehntausenden ihrer Arbeitsstätten beraubten Juden katastrophal; es ist also nicht verwunderlich, daß die Aussicht, drei Kilogramm Brot und ein Kilogramm Marmelade pro Person zu bekommen, einen Menschen dazu bringen konnte, sich freiwillig auf dem Umschlagplatz zu stellen. Hinzu kommt noch die Wirkung der "authentischen" Briefe von "Umgesiedelten"
Es dringt allmählich ins Bewußtsein der übriggebliebenen Juden, daß die Deutschen alle "Ausgesiedelten" nach Treblinka schicken, wo sie ihr Leben in schrecklichen Qualen beenden; dies um so mehr, als zuerst ängstlich ins Ohr geflüstert, aber dann immer öffentlicher Nachrichten aus Treblinka im Umlauf sind. Dutzende Menschen, die dieser gigantischen Mordstätte entkamen, erzählen über ihre tragischen Erlebnisse. [...]
Der Umschlagplatz wird zum Synonym des Todes. Keiner meldet sich mehr freiwillig zur "Umsiedlung". Die Bevölkerung versteckt sich, wo es nur geht: in den Kellern, in Schlupfwinkeln, in den verlassenen Häusern, in den Ruinen. [...]
Die zweite Periode der "Aussiedlung" besteht aus drei Phasen. Die erste Phase, das sind die Blockaden der Häuser und Straßen durch Deutsche, Junaken
Die Arbeit auf dem Umschlagplatz änderte völlig ihren Charakter. Jeglicher Schein einer Selektion verschwand. Mit wenigen Ausnahmen wurden alle in die Waggons geladen.
Ende August schien die Aktion abzuflauen. Das jüdische Krankenhaus erhält den Befehl, wieder in die Stawki-Straße zurückzukehren. Abgesehen davon, wie die unmenschliche Behandlung der schwerkranken Menschen aussah, muß hier betont werden, daß auch damit die Juden wieder betrogen wurden. "Belegte" dies doch, daß die Aktion abgeschlossen sei. Die Phase der "Registrierung" vom 6. bis 10. September, als mit den Tausenden Opfern ausnahmslos alle Kranken in die Waggons geladen wurden, die im Krankenhaus waren, etwa eintausend Menschen, und dazu das ganze ärztliche und technische Personal, zeigte jedoch, wie trügerisch die Hoffnungen auf ein Ende der "Aussiedlung" waren. [...]
Der letzte Akkord des Massenmords und der Vernichtung der Warschauer Juden verklang am 21. September, am Versöhnungstag Jom Kippur. An diesem Tag führten die Deutschen die Blockade der Wohnhäuser des Ordnungsdienstes in der Ostrowska-Straße und der Wolyńska-Straße durch. Abgeholt wurden die Ordnungsdienst-Männer, die nach der Reduzierung nicht mehr beim Ordnungsdienst angestellt waren (die Stärke der Ghetto-Polizei wurde auf 380 Personen verringert). Mit Hilfe der Männer des Jüdischen Ordnungsdienstes, unter Leitung der Ordnungsdienst-Offiziere Jakub Lejkin und Szmerling, von einigen Deutschen vom Vernichtungskommando begleitet, wurden an diesem Tag zweihundert junge Burschen mit ihren Ehefrauen zur Vernichtung nach Treblinka geschickt. So sah die deutsche Dankbarkeit, die teutonische Treue für die Verräter am eigenen Volke aus. [...]
Das noch am Leben gebliebene polnische Judentum fordert von der Regierung der Polnischen Republik und den Regierungen der alliierten Staaten:
1. Sofort nach Treblinka eine internationale neutrale Kommission zu entsenden, die die Aufgabe erhält, die Richtigkeit der in diesem Rapport dargestellten Fakten zu untersuchen und zu bestätigen.
2. Sofortige Vergeltungsmaßnahmen gegen diejenigen zu treffen, welche die Schuld an der Tragödie der polnischen Juden tragen.
3. Sofortige Vergeltungsmaßnahmen gegen die Deutschen zu ergreifen, welche im Gebiet der alliierten Staaten wohnen.
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AŻIH: Ring II, Nr.192, Typoskript (Durchschlag) im Archiv des Ghettos.