Mit dem Dossier "Geheimsache Ghettofilm" veröffentlicht die bpb den Film der Regisseurin Yael Hersonski und ergänzt diesen um weitere Informationen.
In "Geheimsache Ghettofilm" zeigt Hersonski erstmals den im Bundesarchiv aufbewahrten Rohschnitt eines Nazi-Propagandafilms aus dem Warschauer Ghetto von 1942: 60 Minuten unvertontes Filmmaterial, nur teilweise geschnitten. Auftraggeber und genauer Auftrag sind unbekannt. Ausschnitte aus dem Material wurden später in Dokumentarfilmen eher illustrativ genutzt, als authentisches Archivmaterial, ohne den Entstehungszusammenhang darzustellen.
Mit "Geheimsache Ghettofilm" zeigt Hersonski das Leben und Sterben im Warschauer Ghetto. Sie zeigt die Inszenierung durch das Filmteam und demaskiert so die propagandistischen Aufnahmen. Dafür werden in "Geheimsache Ghettofilm" auch schriftliche Dokumente aus dem Ghetto zitiert; Überlebende schauen sich das Filmmaterial von 1942 an und schildern eindrucksvoll ihre Erinnerungen an die Zeit im Ghetto; außerdem wird ein Verhörprotokoll aus den 1970-er Jahren mit einem der Kameramänner nachinszeniert, der 1942 in Warschau mit dabei war.
"Geheimsache Ghettofilm" fand in den Medien international Lob und Anerkennung; der Film wurde mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem beim Sundance Filmfestival mit dem "World Cinema Documentary Editing Award" und dem "Best International Feature Award" des HotDocs Canadian International Documentary Festival. Zuletzt wurde der Film für einen Emmy® Award 2012 in der Reihe Outstanding Historical Programming nominiert. Die News & Documentary Emmy® Awards zählen in den USA zu den wichtigsten nationalen Film- und Fernsehwettbewerben.
bpb.de: Ihre Großmutter überlebte das Warschauer Ghetto. Ihr Tod im Jahr 2005 war für Sie der Beginn, mehr über das Ghetto erfahren zu wollen. Welche Fragen bewegten Sie damals?
Yael Hersonski: Nach dem Tod meiner Großmutter erinnerte ich mich wieder daran, dass sie als Überlebende der Judenvernichtung dem Holocaust Museum Yad Vashem ein Zeugnis als Überlebende übergegeben hatte. Das war im Jahr 1961, wenige Jahre nach ihrer Immigration nach Israel. Yad Vashem befragte damals alle Holocaustüberlebenden, die nach Israel kamen. Meine Großmutter gab zwar damals ihren Bericht als Überlebende ab, doch sie sprach nie über dessen Inhalt – nicht mit meiner Mutter und auch nicht mit meinem Großvater.
Ein Monat nach ihrem Tod besuchte ich zum ersten Mal in meinem Leben Yad Vashem, da war ich schon 28 Jahre alt – das ist ungewöhnlich spät für Israelis. Als ich dann den Bericht meiner Großmutter las, war ich sehr überrascht. Sie hatte nur wenige Informationen hinterlassen. Und was sie notiert hatte, wusste ich bereits.
Daraufhin begann ich, über Archive und ihre Arbeit generell nachzudenken. Insbesondere darüber, dass Archive immer nur bruchstückhaft, eine Sammlung von Fragmenten sind. Als Absolventin einer Filmschule galt mein besonderes Interesse dem Filmmaterial in Archiven. Anders als bei schriftlichen Berichten, in denen Menschen ihre eigene Geschichte erzählen, haben Bilder eine ganz andere Qualität: Sie lassen sehr viel mehr Raum für Interpretationen. Sie sind immer abhängig vom historischen Kontext und der Perspektive des Betrachters. Zum Beispiel werden ein Palästinenser und ein Israeli, die sich ein und dasselbe Bild anschauen, es möglicherweise ganz anders interpretieren, etwas anderes darin sehen.
Bezogen auf die Zeit des Holocaust habe ich mich gefragt, was passiert mit dem Filmmaterial, wenn die Überlebenden aufgrund ihres Alters nun nach und nach sterben. Wir, die zurück bleiben, haben dann nur noch die Archive.
Ihr Interesse an Archiven und an der Bedeutung von Zeitzeugen, war dann der Ausgangspunkt für ein eigenes Filmprojekt – daraus entstand ihr Film "Geheimsache Ghettofilm". Wie lange haben Sie an dem Film gearbeitet, und wie sah Ihre Arbeit aus?
Zunächst habe ich sehr viel Filmmaterial aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gesichtet und intensive Recherchen betrieben. Noemi Schory, die spätere Produzentin meines Films, gab mir eine Fülle an Filmaufnahmen. Schory hat selbst mehr als 100 Kurzfilme mit Archivmaterial für das neu gegründete Visuelle Zentrum von Yad Vashem produziert, das sie mit aufgebaut hat. Sie besitzt ein unglaubliches Wissen über Archivmaterial aus dem Zweiten Weltkrieg.
Unter den vielen Filmen, die mir Schory empfohlen hatte anzusehen, war auch der unvollendete Nazi-Propagandafilm aus dem Warschauer Ghetto. Es war schrecklich: 60 Minuten, grob geschnitten, weder mit Tonspur noch mit Zwischentiteln. Ich war total geschockt von diesen unfassbaren Szenen und von der Tatsache, dass ich nichts davon gewusst hatte. Aber vor allem war ich schockiert, dass man in diesem Film den Sadismus spüren konnte, mit dem die Szenen produziert worden waren. Dass der reale Horror nicht allein in den Augen der Opfer existiert, sondern wie sie zugleich als Filmstatisten gedemütigt wurden – Menschen, die buchstäblich kurz vor ihrer Exekution standen. Nachdem ich tief Luft geholt hatte, beschloss ich, dass ich mich mit diesem Material auseinandersetzen wollte.
Ich ging nach Berlin, um meine Arbeit weiter voranzutreiben. Ronny Loewy, ein deutscher Filmhistoriker aus Frankfurt am Main, half mir sehr viel, um mit dem Bundesfilmarchiv den Kontakt herzustellen. Felicitas Piwaronas, eine wundervolle Filmrechercheurin, war zuständig für die Recherche in Deutschland. Aber ohne die Hilfe und Unterstützung durch die Archivare des Bundesfilmarchivs selbst, wäre es uns nicht gelungen mit dem Projekt voran zu kommen. Alle waren sehr engagiert und hilfreich.
Wir arbeiteten fast zweieinhalb Jahre an der weiteren Recherche. Während dieser Zeit fanden wir zum Beispiel Verhörprotokolle aus den 1970-er Jahren von Willy Wist, einem der Kameramänner, der an den Dreharbeiten im Warschauer Ghetto 1942 beteiligt war. Er wurde als Zeuge im Zusammenhang mit dem Prozess gegen einen deutschen Anwalt vernommen, der im Jahr 1942 Kommissar im Warschauer Ghetto war, also während der Dreharbeiten zum Filmfragment "Das Ghetto".
Ich erfuhr von dem Restmaterial des Ghetto-Films: Das waren Ausschnitte aus dem Filmmaterial von 1942, die separat davon im Jahr 1998 im US-Bundesstaat Ohio in einem Filmlager in einem Luftwaffenstützpunkt gefunden wurden [Anmerk. d. Red.: Teile des "Library of Congress Motion Picture Conservation Center" (Externer Link: http://www.loc.gov/rr/mopic/mpcc.html) lagern dort; vor allem schnell entflammbare Zelluloidfilme]. Ebenso erfuhr ich von zwei Amateurfilmen, die ebenso den Filmarbeiten im Warschauer Ghetto zugeordnet werden können. Diese tauchten in der ehemaligen Sowjetunion auf, und wurden wahrscheinlich von einem der Kameramänner gedreht, die im Ghetto gefilmt hatten. Nach und nach wurde mir klar, wie kompliziert die Geschichte rund um den Ghetto-Film ist.
Das klingt fast nach Detektivarbeit?
Ja, absolut. Aber es ging mir nicht nur um das Aufspüren von Informationen und Hintergründen zum Film. Für mich war auch die Suche nach Details in den Bildern selbst entscheidend. Ich hatte immer eine Kopie des Filmmaterials bei mir. Sobald sich eine neue Spur ergab, habe ich mir das Material wieder angeschaut und es quasi erneut befragt.
Als Kameramann möchte man mit einer Einstellung ein bestimmtes Detail, eine bestimmte Aussage abbilden. Doch die Kamera selbst hält sehr viel mehr Einzelheiten fest als es der Kameramann möglicherweise beabsichtigte. Untersucht man später die Bilder, finden sich darin häufig sehr viel mehr Details als der Kameramann festhalten wollte.
Dieses ständige Überprüfen des Filmmaterials erklärt auch die Besonderheit an diesem Film: Üblicherweise kennt eine Regisseurin ihr Material sehr genau, jede einzelne Szene. Aber bei diesem Film war das anders. Dieses Gefühl, das Material durch und durch zu kennen und quasi zu kontrollieren, stellte sich nicht ein. Das machte die Arbeit an dem Film noch faszinierender.
Ihr Film arbeitet mit verschiedenen Elementen. Zu sehen sind die Propaganda-Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto von 1942; aus dem Off wird aus Aufzeichnungen von Menschen im Ghetto zitiert; das Verhör des Kameramanns Willy Wist wird mit Schauspielern nachinszeniert; außerdem gibt es Filmszenen mit Zeitzeugen, die sich das Material von 1942 in einem Kinosaal anschauen. Wieso haben Sie sich für dieses Zusammenspiel an Elementen entschieden?
Jedes Element in diesem Film steht für ein unterschiedliches Zeugnis. Indem ich die verschiedenen Zeugen und ihre Aussagen benutze, schaffe ich für den Betrachter einen mehrdimensionalen Blick auf das Filmmaterial aus dem Jahr 1942. Dabei war ich natürlich besorgt, dass zum Beispiel Aufnahmen von den Zeitzeugen und das Verhör von Willy Wist sich vermischen und für das Publikum nicht immer eindeutig voneinander zu unterscheiden sein könnten. Deshalb habe ich für jedes Element einen eigenen kinematographischen Stil entwickelt.
In "Geheimsache Ghettofilm" wird die Verhörsituation mit Willy Wist nachgestellt. Er war einer der Kameramänner des Filmteams von 1942. Rüdiger Vogler übernimmt die Rolle Willy Wists. (© Belfilms; Kamera: Itai Neeman und Yossi Aviram)
In "Geheimsache Ghettofilm" wird die Verhörsituation mit Willy Wist nachgestellt. Er war einer der Kameramänner des Filmteams von 1942. Rüdiger Vogler übernimmt die Rolle Willy Wists. (© Belfilms; Kamera: Itai Neeman und Yossi Aviram)
Für meine Arbeit waren die Verhörprotokolle des deutschen Kameramanns Willy Wist wichtig. Entscheidend ist hierbei, dass sein Zeugnis, seine Aussage nicht während der Dreharbeit entstanden ist, sondern rund 30 Jahre später. Hier erzählt nicht ein Kameramann während er filmt, sondern ein Kameramann, der sich daran erinnert, was er damals gedreht hat. Es ist wichtig zu zeigen, wie sehr unser Zeugnis von unseren Erinnerungen abhängt.
Was haben Sie bei Ihren Recherchen über die Filmarbeiten im Warschauer Ghetto 1942 herausgefunden? Wie sah die Arbeit des Filmteams aus, und welchen Auftrag verfolgten sie?
Alle Informationen, die ich sammeln konnte, haben mich zu Spekulationen über die Hintergründe des Films angeregt. Aber es blieben Spekulationen. Es gibt, soweit ich weiß, keine Aufzeichnungen zu den Filmarbeiten – nicht eine einzige Notiz. Auftraggeber und genauer Auftrag sind unbekannt. Wir waren in so vielen Archiven in ganz Deutschland und wir haben nichts gefunden – mit Ausnahme der Protokolle von Willy Wist.
Die Tatsache, dass wir keinen einzigen Hinweis über die Filmproduktion finden konnten ist doch recht erstaunlich. Denn der Film war das Ergebnis einer großen und aufwendigen Produktion, die mindestens 30 Tage dauerte. Sowohl die Tagebucheinträge von Juden im Warschauer Ghetto als auch die Outtakes des Films zeigen, dass das Filmteam gut ausgestattet war. Sie hatten Equipment für die Ausleuchtung, Schienen für einen Dolly [Anm. d. Red.: eine Art Kamerawagen für Kamerafahrten], eine Vielzahl an Kameras und so weiter. Insgesamt recht beeindruckend.
Dennoch bleibt die Frage: Wieso gibt es keine Aufzeichnungen über die Produktion, und wieso wurde der Film nie fertiggestellt, sondern blieb ein Rohschnitt. Ich weiß es nicht. Vielleicht war der Krieg zu weit vorangeschritten, oder die Bilder trafen nicht die Erwartungen. Eine weitere Spekulation ist, dass der Film als Archivmaterial angedacht war, um für nachfolgende Generationen jüdisches Leben festzuhalten. Für diese Annahme spricht, dass Joseph Goebbels wenige Tage vor Beginn der Dreharbeiten in Warschau in seinem Tagebuch vermerkte, dass Himmler die Umsiedlung der deutschen Juden nach Osteuropa vorantreibe. Und dass er, Goebbels, deshalb Filmaufnahmen beauftragt habe, um Dokumentarmaterial zur Erziehung der nächsten Generation im Dritten Reich zu haben.
Der Rohschnitt "Ghetto"-Film aus dem Warschauer Ghetto wurde 1954 in der DDR gefunden. Später wurden Ausschnitte daraus in verschiedenen Dokumentationen benutzt, auch Museen bedienten sich der Bilder. Mit den Aufnahmen wollte man das Leben im Warschauer Ghetto abbilden, dabei wurde der Entstehungszusammenhang selten ausführlich benannt. Ihr Film will etwas anderes: Nämlich die Inszenierung des Materials offenlegen. Wieso hat es so lange gedauert bis jemand diese wichtige Arbeit angepackt hat, nämlich die Propagandazwecke der Bilder zu verdeutlichen?
Der Großteil der Dokumentationen aus dem Dritten Reich wurde von den Nazis selbst angefertigt. Jeder visuelle Beweis, den wir aus dieser Zeit haben, ist zumeist von den Tätern aufgenommen.
Nach Ende des Krieges war es lange Zeit wichtig, diese Bilder zu zeigen, diese komplexen Beweise, anstatt über ihre wahre Natur und über die Grenzen des visuellen Beweises nachzudenken. Viel dringlicher war es, zu zeigen, dass diese beispiellosen Gräueltaten tatsächlich geschehen waren. Sobald man die Aufnahmen sieht, ahnt man, dass es sich um Propagandamaterial handelt, dennoch ist es nicht leicht sich von den Bildern zu lösen und zu reflektieren, was "außerhalb" dieser Aufnahmen passiert ist.
In absehbarer Zeit werden die Überlebenden des Holocausts aufgrund ihres hohen Alters sterben. Uns bleiben dann nur die Dokumente, Bilder und Filme, die in den Archiven lagern. Wie sollten Archive und auch Filmmacher mit dem Bildmaterial umgehen?
Archive sind Institutionen, deren Bestände nicht in vollem Umfang frei zugänglich sind. Es kostet Mühe, die Materialien zu sichten und das Recht zu erhalten, sie zu nutzen. Zugleich ist gerade das die Aufgabe von Archiven, nämlich die Bestände zu bewahren. Wenn jeder kommen und alles Material frei nutzen dürfte, dann wäre es sicherlich schwierig, die Bestände so zu schützen, wie es zurzeit geschieht.
Ein echtes Problem ist, dass die Digitalisierung der Filmarchive sehr zeitaufwendig und auch sehr teuer ist. Wenn das geschafft ist, dann – da bin ich mir sicher – wird die Recherchearbeit in den Filmarchiven sehr viel nutzerfreundlicher sein.
Ich glaube, dass wir einen Dialog brauchen zwischen Filmemachern, Wissenschaftlern und den Archivaren, die ja übrigens auch Wissenschaftler sind. Hier brauchen wir einen engeren und lebendigeren Austausch.
Wie sollten Filmemacher mit Archivmaterial umgehen? Sollten sie das Material, das sie nutzen, stärker kontextualisieren?
Für mich ist es unvorstellbar, Archivmaterial in meinen Filmen zu nutzen, ohne zu verstehen, wie die Aufnahmen entstanden sind und wer gedreht hat.
Archivmaterial lediglich zur Bebilderung, quasi als Illustration zu nutzen, ist für mich eine Art Sünde. Regisseure tragen die Verantwortung dafür, wie sie und mit welchem Material sie Geschichten erzählen. Der Kontext, in dem Archivmaterial entstanden ist, sollte immer auch den Zuschauern vermittelt werden.
Das Interview führte Sonja Ernst.