Der Film "Geheimsache Ghettofilm" wurde von zahlreichen Medien international gelobt, auch wurde das Werk mehrfach ausgezeichnet. Zugleich gab es auch Kritik an dem Film. Um eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Werk "Geheimsache Ghettofilm" zu ermöglichen und um die Diskussion in ihrer Gänze abzubilden, bietet das Dossier zwei Kommentare zum Film. Dabei kommen der Medienwissenschaftler Rainer Rother und der Historiker Dirk Rupnow zu sehr gegensätzlichen Bewertungen des Films.
Nationalsozialistische Filmpropaganda – filmisch dekonstruiert Untertitel: Ein Kommentar zu Yael Hersonskis Film „Geheimsache Ghettofilm“
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Rainer Rother sieht in Hersonskis Arbeit die Re-Lektüre der Aufnahmen im Warschauer Ghetto von 1942. Diese Aufnahmen machte sie zum Material einer filmischen Untersuchung. Dafür wählte die Regisseurin neue Perspektiven, wie zum Beispiel die Kommentierung des Filmmaterials durch Zeitzeugen. "Geheimsache Ghettofilm" liefere eine definitive Veränderung der Haltung zu jenen Bildern aus dem Jahr 1942, so Rother.
Jeglicher Verwendung von Filmbildern, die im Nationalsozialismus und im Auftrag der Nationalsozialisten entstanden, stellt sich das Problem, dass dieses "Material" alles andere als neutral ist. In vielfältiger Hinsicht ist es mit Bedeutung aufgeladen, in spezifischer Weise geformt, durchaus kein simples Dokument.
Für Regisseure, die auf das im Bundesarchiv überlieferte Material aus dem Warschauer Ghetto aus dem Mai 1942 zurückgriffen und -greifen, lautete die Frage, ob mit dem in der eigenen Arbeit hergestellten Kontext, der neuen Montage, mit Kommentar und unterlegter Tonspur den Bildern aus nationalsozialistischer Produktion eine Bedeutung abgerungen werden könnte, die diesen im ursprünglichen Zusammenhang der eingesetzten filmischen Strategien (Einstellungswahl, Montage, Kommentar etc.) gerade nicht zugedacht wurde. Schließlich, ob diese Täterbilder in einer Weise lesbar gemacht werden könnten, die den abgebildeten Opfern nicht erneut stereotypen und hetzerischen Zuschreibungen unterwirft.
Der 2010 von Yael Hersonski realisierte Film "Shtikat Haarchion" (hebräischer Originaltitel, der deutsche Titel lautet "Geheimsache Ghettofilm", der US-amerikanische "A Film Unfinished") wählt angesichts der Bilder aus dem "Ghetto"-Film
Erste Aufführungen des Films fanden im Programm internationaler Festivals statt – zunächst im Januar 2010 auf dem Sundance Film Festival, im Februar dann bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin, in der Sektion "Panorama". Das Besondere an diesem Film wurde von der Filmkritik erkannt, so schrieb die New York Times: "The director Yael Hersonski, using generous clips from the Nazi movie and excerpts from diaries written by ghetto inhabitants, illustrates how the original footage was carefully staged, as evident by multiple takes of some scenes. In one section a healthy-looking woman walks past two pitiful waifs with apparent indifference, and then she does so again."
Einige Preise begleiten die Festivalkarriere des Films. Beim Sundance Filmfestival wurde 2010 die Cutterin Joëlle Alexis mit dem Preis für den besten Schnitt in der Kategorie "World Cinema Documentary Editing Award" ausgezeichnet. Ebenfalls 2010 erhielt Yael Hersonski den "Best International Feature Award" des International Documentary Film Festival in Toronto und die Writers Guild of America zeichnete die Regisseurin mit dem "Silverdocs Documentary Screenplay Award". Nach den Einladungen zu Festivals folgten Kinostarts in den USA (18. August 2010) und Großbritannien (30. Oktober 2010)
"Mich interessierte die Essenz der Realität in diesen Bildern"
Yael Hersonski stieß eher zufällig auf das "Ghetto"-Material, jedoch mit einem spezifischen Interesse. "Ich suchte nach einem Beispiel von existierendem Filmmaterial, weil mir ein Projekt vorschwebte, in dem ich Found Footage in neuer Weise analysieren und überprüfen wollte", so Hersonski.
Auf den Film beziehungsweise das Material von 1942 wurde sie dann von der Produzentin Noemi Schory hingewiesen. "Ich war wie elektrisiert davon. Etwas über das Filmemachen selbst darin bestürzte mich; es handelte sich nicht nur um das Aufsetzen der Kamera auf ein Stativ, um dann mit den Aufnahmen zu beginnen. Eine filmische Konzeption war sichtbar, ein Konzept, wie Großaufnahmen, Totalen und wie der Schnitt eingesetzt wurden."
Dieses Material provozierte Fragen, vor allem die nach der Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktion. "Mich interessierte die Essenz der Realität in diesen Bildern. Zum Beispiel: der Blick der gefilmten Menschen. So oft schauen sie in die Kamera. Und man hatte ihnen gesagt, wie sie sich verhalten, was sie tun sollten. Aber trotzdem: Diese Bilder zeigen, dass da noch etwas anderes ist, etwas, das allein ihnen gehört." Anders formuliert: Wo traditionell Kompilationen seit den ersten Werken dieses Genres (wie Esfir Shubs "Padenije dinastii Romanowych" – deutscher Titel "Der Fall der Dynastie Romanow", SU 1927, oder Leo Laskos zweiteiliger "Der Weltkrieg", D 1926/27) dem Material eine andere Bedeutung gaben, sucht Heronski nach "echten" Zeichen, die sich entgegen den Absichten der nationalsozialistischen Produktion in den Einstellungen niedergeschlagen hatten. Und sie macht die Inszenierung, in dem die Bilder 1942 einen vermeintlich eindeutigen Sinn erhielten, wieder nachvollziehbar.
Ihr Thema ist daher in erster Linie der Film – oder das nicht vollendete Material – aus dem Jahre 1942. Die ersten Kommentarsätze in "Geheimsache Ghettofilm" lauten: "Dies ist die Geschichte eines Films, der nie fertiggestellt wurde. Ein Film, der dem Dritten Reich als Propagandamaterial dienen sollte." Anhand der Fragen an diesen Film erschließt die Regisseurin die vermutlichen Intentionen der damals im Ghetto agierenden Filmemacher ebenso wie deren Blick auf die darin Gefangenen. Hersonski untersucht das Material.
Hersonskis Film ist ein Essay über die Aussagekraft propagandistischer Filmbilder, insofern kein Film über ein historisches Ereignis. Schon seine Gliederung setzt auf filmische Zeichen, nämlich Startband-Einzeichnungen, die jeweils den Anfang von Filmrollen identifizieren.
Spurensuche zu einem unvollendeten Film
Hersonskis Film beginnt mit einer Fahrt in einem Kellergang, aufgenommen im Bundesarchiv. Darauf folgen ältere Aufnahmen eines Filmlagers mit vielen gestapelten Filmbüchsen, wobei die Kamera die Räume durchstreift und auf einer Rolle mit dem Stempel "Geheim" endet. Der Kommentar erzählt dazu nach den Anfangssätzen die Geschichte vom Fund des "Ghetto"-Films, der in den 1950er Jahren in der DDR zusammen mit anderen vor 1945 eingelagerten Filmen entdeckt wurde. Der "Ghetto"-Film war ohne Tonspur, Anfangstitel oder Abspann: ein Geheimnis.
"Geheimsache Ghettofilm" schafft in der Exposition zu Beginn eine bestimmte Spannung, eine Erwartung. Es wird von einem unvollendeten Film berichtet, bevor daraus erste Bilder zu sehen sind. Dann folgen Aufnahmen aus dem Rohschnitt von 1942, die Aufsicht auf eine belebte Straße, die, wie ein Schwenk zeigt, durch eine Mauer abgetrennt zu sein scheint. Zehn weitere Einstellungen aus dem "Ghetto"-Material schließen sich an – alle abgefilmt von einem Schneidetisch.
Diesen folgen Fahrten in einem modernen Filmlager, aufgenommen wiederum im Bundesarchiv – sie zeigen den Transport von Filmrollen mit einer Sackkarre. Schließlich beginnt der Vorspann mit den Credits und dem Filmtitel, dazwischengeschnitten sind Aufnahmen eines Projektors, der anläuft. Die Titel "Achtung" und "Geheime Kommandosache!" werden sichtbar. Erneut sieht man das Bild der Straße und der trennenden Mauer, diesmal nicht vom Schneidetisch abgefilmt, daher in veränderter Färbung und besserer Auflösung.
Damit verwenden Exposition und Beginn des ersten Teils Material unterschiedlicher Herkunft: Archiv-Aufnahmen, sowohl aus dem "Ghetto"-Film wie aus dem "Restmaterial" (aus letzterem stammen die beiden Titel "Achtung" und "Geheime Kommandosache!") und eigens im Bundesarchiv gedrehte Szenen. Man könnte sagen, der Anfang erscheint als solcher hervorgehoben. Der Kommentar thematisiert in diesen ersten Filmminuten den Status der Aufnahmen von 1942. In dem Moment, in dem die Zuschauer die damals gedrehten Einstellungen sehen, erfahren sie auch in Grundzügen deren Geschichte. "Es ist die Rohfassung des einzigen nationalsozialistischen Films aus dem größten von den Deutschen errichteten Ghetto: dem Ghetto von Warschau. […] Überliefert sind nur diese stummen, über 60 Minuten langen Sequenzen. Sie zeigen überraschend gut gekleidete, scheinbar wohlgenährte Juden kontrastiert mit nacktem Elend und Sterbenden auf den Straßen."
Hersonskis Montage legt großen Wert darauf, einerseits eine bestimmte Spannung zu erzeugen – nicht zuletzt dazu dienen die Vorspann-Einzeichnungen "Achtung" und "Geheime Kommandosache!". Andererseits gewinnt die Inszenierung von Erwartung, wobei das Hinführen des Zuschauers zu den alten Filmbildern transparent gehalten wird, deutlich den Charakter einer Narration. Dieser Beginn stellt seine ästhetische Formung, seine Inszenierung aus. Die Befragung des Materials, die fortan das Thema sein wird, verträgt sich nicht mit einem scheinbar naiven Vorgehen. Dass hier zudem mit einer nicht auflösbaren Unsicherheit über die Intentionen der NS-Filmmacher zu rechnen ist, verzeichnet der Kommentar: Nämlich, dass nicht eindeutig zu belegen ist, wieso im Ghetto gedreht wurde und wieso der Film nie zu Ende produziert wurde.
Schließlich wird der entscheidende Unterschied zu anderen Filmen, die auf die berühmt-berüchtigten überlieferten Bilder zurückgriffen, im Filmkommentar benannt: "Nach ihrer Entdeckung wurden die Filmsequenzen [von 1942] als Abbild des wahren Lebens im Ghetto verstanden. Wurden so in Dokumentationen verwendet, in Museen archiviert. Aus dem Propagandamaterial wurde historische Wahrheit. Doch was zeigen diese Bilder wirklich? Und was zeigen sie nicht?”
Hersonskis Film ist eine Re-Lektüre der Aufnahmen von 1942
Damit ist implizit das Ziel der Filmemacherin formuliert, denn in ihrem Film geht es nicht darum, die Geschichte des Warschauer Ghettos zu erzählen. Eher könnte man sagen, "Geheimsache Ghettofilm" versuche, in den im Mai 1942 mit eindeutiger Absicht aufgenommenen Filmbildern die Schichten der damaligen Realität wieder erkennbar zu machen.
Neben den überlieferten Aufnahmen – der Rohschnitt ebenso wie die "Outtakes-Rolle", also das Restmaterial, sowie die parallel entstandenen Amateuraufnahmen von Mitgliedern des Produktionsteams – sind es vor allem folgende Quellen, die Yael Hersonski in ihrer Re-Lektüre des "Ghetto"-Films einsetzt: Zunächst im Off von verschiedenen Sprechern zitierte Zeugnisse von Zeitzeugen, wie die Tagebücher Adam Czerniakóws, der zur Zeit der Dreharbeiten Vorsitzender des Judenrats im Warschauer Ghetto war, und Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv (siehe hierzu das Interview mit Samuel Kassow zum Archiv:
Hinzu kommen Aktenvermerke der NS-Behörden, zum Beispiel über die Versorgungslage im Ghetto oder das Eintreffen der Filmcrew. Außerdem werden die Aussagen des Kameramanns Willy Wist, des einzigen durch ein Dokument namentlich identifizierten Mitwirkenden an den Filmarbeiten 1942, als nachinszenierte Spielszenen eingefügt. Willy Wist wurde in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit Untersuchungen gegen deutsche Amtsträger in Warschau befragt. Schließlich bat Yael Hersonski Überlebende des Ghettos, die sich an die damaligen Dreharbeiten erinnern konnten, sich der Vorführung des überlieferten Materials auszusetzen und filmte dabei ihre Reaktionen.
Hersonskis filmische Untersuchung des unvollendeten Films bezieht sich also ausschließlich auf das überlieferte Material oder darauf bezogene Quellen und Erinnerungen. Der damals gedrehte Film ist das Geschehen, das Yael Hersonski verstehen will.
Befragung des Materials: Auflösung seiner Eindeutigkeit
In einer groben Unterscheidung können die vier von Hersonski im Film deutlich voneinander abgesetzten Teile so charakterisiert werden: Das erste Kapitel präsentiert zunächst sehr knapp Informationen zum Warschauer Ghetto und über das Filmprojekt von 1942. Mit Czerniakóws Tagebuch wird zum ersten Mal die Perspektive der Opfer auf die Dreharbeiten eingeführt. Erstes Beispiel für die Konfrontation von Filmbildern und Zeugnissen sind die mit Czerniaków inszenierten Aufnahmen in seinem Büro, wo er vermeintlich eine Gruppe von Rabbinern empfängt.
Weitere Einträge aus seinen Tagebüchern und korrespondierendes Filmmaterial folgen dem gleichen Prinzip, mit dem die scheinbare Evidenz der Filmbilder unterlaufen wird. Zu Czerniakóws Berichten treten schon hier die heutigen Erinnerungen der Überlebenden beim Betrachten der Ghetto-Filmaufnahmen. Zudem wird aus dem Wochenbericht vom Mai 1942 von Heinz Auerswald, Kommissar für den "Jüdischen Wohnbezirk" und zuständig für die Belange im Ghetto, eine Passage über den Beginn der Dreharbeiten aus dem Off zitiert.
Im zweiten Teil tritt der Akt der Filmproduktion mit den Aussagen Willy Wists, der in einer Nach-Inszenierung von Rüdiger Vogler gespielt wird, selbst in den Vordergrund. Seine Aussagen vor einem Untersuchungsbeamten sind sehr zurückhaltend inszeniert. Es bleibt jederzeit erkennbar, dass es sich um die Inszenierung mit einem bekannten Darsteller handelt. Solch ein Re-enactment in historischen Dokumentationen ist ein zweischneidiges Mittel und in der Regel Ersatz für fehlende Bilder und/oder schriftliche Dokumente.
Das Nachstellen von Situationen wird vor allem eingesetzt, wenn es gilt, "Atmosphäre" zu schaffen. Entsprechend hat Hersonskis Inszenierung Kritik auf sich gezogen. Alllerdings ist nicht zu übersehen, dass sich Wists Aussagen in zweierlei Hinsicht von anderen Quellen unterscheiden, die jeweils im Off zitiert werden. Letztere stammen aus der Zeit der Dreharbeiten – sowohl die Berichte und Tagebucheintragungen der Opfer sowie die Vermerke der deutschen Besatzer. Zudem sind Wists Aussagen spätere Rechtfertigungen. Die Regisseurin wählte die Form des Re-enactments, weil sie die Person Willy Wist ambivalent halten, nicht zum Abziehbild des Bösen machen wollte.
Der dritte Teil des Films rückt historische Dokumente der Ghettobewohner in den Vordergrund. Die aus dem Ringelblum-Archiv ausgewählten Zeugnisse verweisen auf die Intentionen der Filmaufnahmen und sind erneut geeignet, das vermeintlich Dokumentarische der Einstellungen fraglich werden zu lassen. Zugleich werden Einstellungen aus dem Restmaterial zitiert, aus denen sich die mehrfachen "Takes", also die mehrfache Inszenierung von Situationen und damit die konsequente Inszenierung von "Alltäglichkeit" durch das Filmteam erweisen.
Der letzte Teil des Films zieht eine Art Resümee. Aus dem Amateurmaterial werden Szenen aus den Farbaufnahmen verwendet. Beginnend mit einer Begräbniszeremonie ist dieser Teil fast ganz dem Sterben im Ghetto gewidmet. Am Ende des Films (so auch im Rohschnitt) zeigt Hersonski abschließend Sequenzen von nebeneinander stehenden "reichen" und "zerlumpten" Juden. Mit dem Titel "Ende 4" folgt der Schluss – die letzten Bilder zeigen den Rücktransport der Filmrollen ins Archiv.
Die Auseinandersetzung der Überlebenden mit dem „Ghetto“-Film
Auch die Bilder vom Sterben sahen sich die Überlebenden an. Yael Hersonski sagt über ihre Arbeit mit den Zeitzeugen und deren Bereitschaft zu dieser Konfrontation mit der Vergangenheit: "Ich habe Überlebende gesucht, die sich an die Filmaufnahmen von 1942 erinnern konnten. Und wir haben einige Zeugen gefunden – mehr, als wir nun im Film haben. Ich habe mit allen von ihnen gesprochen. Ihnen beschrieben, was wir tun würden und sie gefragt, ob sie am Film teilhaben könnten und wollten." Einige der Überlebenden wollten sich, so Hersonski, den Bildern von 1942 stellen, andere waren unsicher. Die Filmemacherin bat schließlich nur wenige um ihre Mitarbeit; nur jene, die sagten, sie wollten es nicht für Hersonski, sondern für sich selbst tun.
"Wir führten ihnen den Film vor, teilweise in Jerusalem, teilweise in Tel Aviv, jeweils in der dortigen Kinemathek." Der Drehort richtete sich nach dem Wohnort. Die Filmsäle schufen eine für Zeitzeugeninterviews untypische Situation. "Wenn man für eine historische Dokumentation mit Augenzeugen oder Zeitzeugen zusammenarbeitet, dann führt man normalerweise die Interviews in ihrem Haus oder dergleichen. Ich wollte die Konzentration auf den Film von 1942 legen. Deshalb kamen sie ins Kino. Sie setzten sich diesen Bildern außerhalb ihrer gewohnten Räume aus, in einem dunklen Raum, allein auf die Bilder aus der Vergangenheit blickend. Wir führten immer eine Rolle vor, unterbrachen dann und ich fragte, ob sie oder er weitermachen wollte oder lieber abbrechen. Wir filmten sie während der Vorführung der Rollen, aber hörten in den Pausen dazwischen auf. Was man in meinem Film schließlich sieht, sind die Reaktionen der Überlebenden im Kino auf die Aufnahmen von 1942; und in jeder Sequenz mit den Überlebenden sind die Bilder, die die Zuschauer meines Films sehen, die gleichen, die die Zeitzeugen sahen."
Zur Zeit der Filmaufnahmen waren die Überlebenden, die den Ghettofilm betrachten, noch Kinder. Sie kamen herum im Ghetto, suchten in den Abfällen nach Essbarem, schmuggelten Nahrungsmittel. Sie sahen das Leid, den Hunger und das Sterben. Diese Erinnerungen geben den Aufnahmen einen Kontext, in dem sie nie zuvor standen. Von den Tätern als Denunziation konzipiert, in späteren Kompilationen als Beweis für die verbrecherischen Taten eingesetzt, werden die Bilder von den Überlebenden im Lichte ihrer Erfahrungen bewertet, werden neu lesbar.
Die Überlebenden entreißen die Opfer ihrer Anonymität
Die Überlebenden stellen sich, konfrontiert mit den Bilder aus der Vergangenheit vor allem eine Frage: "Was ist, wenn ich jemand sehe, den ich kenne?" Die dem Ghetto Entkommenen sehen und erkennen in den Abgebildeten, die in filmischen Zuschreibungen immer wieder de-individualisiert werden, ihre Mitmenschen, ihre Leidensgenossen im alltäglichen Überlebenskampf. In einzelnen Fällen können sie sich an sie erinnern und sie, die Namenlosen, identifizieren. Ein Zeitzeuge ruft beim Anblick einer im "Ghetto"-Film oft zitierten Einstellung, in der eine abgemagerte Frau, ihr Kind auf dem Arm, eine belebte Straße auf- und abgeht: "Oh, ich erinnere mich an diese Frau. Immer ging sie mit ihrem Baby auf dem Arm hin und her und schrie. Bettelte um ein Stückchen Brot." Der Blick der Überlebenden auf den Ghettofilm ist der Versuch, die Ghettoinsassen den Zuschreibungen durch die NS-Filmemacher zu entwinden – nicht als namenlose Opfer, sondern als Mitgefangene.
Die Bedeutung der Identifikation geht über ein zufälliges Wiedererkennen hinaus. Sie ist das Resultat einer Rezeption, die einen völlig anderen Blick auf die Bilder darstellt als es ihre Verwendung in Kompilationsfilmen nahelegt. Ganz zu schweigen von der Rezeption, die dem Täterblick entsprach und die Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, vermutlich nach einer Sichtung des Rohschnitts, in seinem Tagebuch im August 1942 so zusammenfasste: „Einige grauenhafte Filmstreifen werden mir aus dem Ghetto in Warschau gezeigt. Dort herrschen Zustände, die überhaupt nicht beschrieben werden können. Das Judentum zeigt sich hier in aller Deutlichkeit als eine Pestbeule am Körper der Menschheit. Diese Pestbeule muß beseitigt werden, gleichgültig, mit welchen Mitteln, wenn die Menschheit nicht daran zugrunde gehen will.“
Der Unterschied der Perspektive schafft die filmische Dekonstruktion
Die Reaktionen der Überlebenden sowie die nachinszenierten Aussagen Wists tragen als zwei grundsätzlich verschiedene Perspektiven zur Dekonstruktion des überlieferten Materials auf besondere und durchaus neue Weise bei. Nicht obwohl, sondern weil sie kontradiktorisch sind, wird durch sie die filmische Konstruktion des "Ghetto"-Materials demontiert.
Die Aussagen von Willy Wist, der von einem sozusagen professionellen Gesichtspunkt aus und zugleich in der Verteidigungsposition gegenüber dem Verhörenden argumentiert, prägen noch etwas anderes. Auffallend ist das Streben, die Verantwortung abzuschieben. Er stellt sich als bloßen Auftragsempfänger dar, der von einem "Goldfasan" seine Anweisungen bekam und dem die aufzunehmenden Motive von Angehörigen der Schutzstaffel (SS) zugewiesen oder in Person zugeführt wurden. Sein Sprachduktus – er beantwortet Fragen gelegentlich mit knappem "jawohl" – untermauert diese Annahme.
Wists Klage über unzureichende Arbeitsbedingungen – "Wir hatten keine Möglichkeit, uns frei zu entfalten" – führt zu einer irritierten Nachfrage des Beamten. In dieser Anmaßung aber, seine Tätigkeit mit dem Hinweis auf mangelnde Entfaltungsmöglichkeiten zu charakterisieren, liegt das Furchtbare seines Selbstverständnisses. Die Bemerkung, oft seien die Drehbedingungen unzureichend gewesen, es habe an Licht gefehlt, ist in Anbetracht dessen, was da gedreht wurde, von einer beängstigenden Verengung der Perspektive gekennzeichnet. Die Aufnahmen aus dem Ghetto, in denen in der Tat die "unzureichenden Drehbedingungen" augenfällig werden, weil die Szenerie von einem einzigen, die Kamerabewegungen mit vollziehenden Scheinwerfer ausgeleuchtet werden, gehören zu den schrecklichsten Dokumenten der Existenzbedingungen im Ghetto. Zeigen diese doch in unbeleuchteten Räumen zusammengepferchte Menschen, die geschwächt in Behelfsbetten dem Tode entgegensehen.
Wist hat in seinen Aussagen aber auch, vielleicht gegen seinen Willen, die Täterbilder, die zum Teil von ihm stammten, in anderer Weise definiert. Mit der Wendung "ich erinnere mich" während des Verhörs beschreibt er seine Tätigkeit als Kameramann nicht allein in der vorweggenommenen Abwehr von Anklagen. Ihm war die Propagandaabsicht des geplanten Films schon deswegen klar, weil die hergestellten Kontraste so offensichtlich waren. In zwei Fällen sind die Formulierungen, die er für seine Erinnerungen an die Dreharbeiten findet, von einer gewissen Ehrlichkeit. Zum einen Szenen in einem Ritualbad.
Zum anderen handelt es sich um eine im "Ghetto"-Film vergleichsweise lange Sequenz, die das Einsammeln von Leichen, ihren Transport zu einer Sammelstelle und schließlich ein tief ausgeschachtetes Massengrab zeigt, in das die Toten über eine Rutsche hinein geschmissen werden. Die Aufnahmen dienten sehr häufig als Material für Kompilationen. Yael Hersonski zeigt diese Aufnahmen, indem sie einerseits Reaktionen der Überlebenden einschneidet, andererseits die Perspektive von Wist zitiert: "Ich erinnere mich, dass ich ein Massengrab zu filmen hatte. In diesem Grabe war eine große Anzahl von Leichen aufgeschichtet. Ich kann nicht sagen, in wie vielen Schichten schon Leichen in dem Grabe waren, die sich unter der für mich sichtbaren Schicht befanden. Ich habe die Erinnerung, dass die Leichen auf einer Rutsche in das Grab befördert wurden." Er fügt hinzu, er habe die "bestimmte Erinnerung", dass "die Menschen nur noch Haut und Knochen waren", dass sie "einfach verhungert sind".
Einstellungen aus den Outtakes ergänzen, was Wist verschweigt: Jene Bilder des Massengrabs, die im Rohschnitt zu sehen sind, verlangten nach mindestens zwei Kamerapostionen. Eine, die das Grab, die Rutsche und die herangebrachten Rabbiner am Rand der Grube zeigt – hier stand die Kamera ebenerdig, außerhalb des Grabes. Von hier ließen sich auch die die Rutsche hinabgleitenden Leichen zeigen, von hier war der Blick ins Massengrab möglich. Nicht aber Nahaufnahmen, in denen die Stapelung der Leichen und das Bestreuen mit Kalk im Grab selbst festgehalten wurden. Diese Kameraposition befand sich im Massengrab: Der Kameramann stand für diese Bilder, die für eine reibungslose "continuity" sorgen sollten, auf den bereits verscharrten Toten. Er wurde übrigens wiederum aus einer (dritten) Kamerapostion im Massengrab von einem Stabmitglied gefilmt. Wist ging auf diese Situation im Verhör nicht ein. Und doch ist für seine Aussage diesmal weniger Verdrängung oder ein Gestus der Abwehr kennzeichnend als etwas anderes: die Macht der Erinnerung. In den Worten des Verhörs: "Die Ereignisse haben mich damals sehr beeindruckt, trotzdem ich ja viel zu sehen bekommen hatte. Sie haben mich noch eine ganze Zeitlang beschäftigt", so Wist.
Den Opfern blieb der Blick zurück
Eine besondere Bedeutung haben die Blicke der im Mai 1942 Abgebildeten in die Kamera. Die Einstellungen legen einerseits die Sicherheit, mit der das Team agierte, offen. Diese Bilder sind nicht heimlich aufgenommen, sondern von Eindringlingen, die über die Macht verfügten, erwünschte Aufnahmen herzustellen – ohne Eile, auch entdeckten sie die Filmsituationen nicht zufällig. Willy Wists Klage über unzureichende Lichtbedingungen verrät implizit, dass andere Einschränkungen nicht galten. Dem Team wurden die Ghettobewohner von der SS zugeführt; es agierte nach einem, ihm vielleicht unbekannten, Drehbuch, welches die arrangierten Szenen und die Kontraste der Montage in Sinne der Verdeutlichung jener nationalsozialistischen Konstruktion des "Jüdischen" enthielt.
Und doch konnte das Team nicht verhindern, dass die zu Objekten ihres Filmes gemachten Opfer sich auf ihre Weise in die Bilder einschrieben. Die zahlreichen Blicke in die Kamera sind Akte, in denen sich etwas nicht Kontrollierbares vollzieht, in denen sich die vermeintlichen Objekte der Aufnahmen in einem kurzen Moment der Kontrolle der Täter entziehen, sich als Subjekte behaupten, indem sie die Kamera fixieren: verstohlen manchmal, fast heimlich und wie zufällig, ein anderes Mal ganz offen und unverhohlen, selbstbewusst und herausfordernd.
Den Opfern blieb der Blick zurück, die Weigerung, die unsichtbare Grenze zu respektieren, jenseits derer erst die Inszenierung vollkommen und das Team als "unsichtbarer Beobachter" anerkannt ist. Darin besteht die Subversion der Blicke in die Kamera: Sie verweisen auf das Filmen selbst, das Arrangierte der Szenen, auf die von den Abgebildeten notgedrungen eingenommenen Rollen. Und indem die Blicke in die Kamera gerichtet werden, treffen sie den Betrachter des Films: Die Opfer blicken auf ihre Zuschauer, adressieren sie, zwingen sie, sich ihnen gegenüber zu verhalten.
Die sozialen Gegensätze sollten im Fokus stehen – so der Auftrag
Derartige "Blicke in die Kamera" fehlen in jenen Szenen, in denen "Reichtum" ins Bild gesetzt wurde, und in denen teils Darsteller herangebracht und ausstaffiert wurden oder Situationen arrangiert wurden. Sie fehlen in Czerniakóws Büro, beim Empfang in der gutbürgerlichen Wohnung, im Restaurant oder im Theater. Aber sie sind präsent in den Straßenszenen, bei Passanten, auf dem Markt, selbst in der mit beträchtlichem Aufwand ins Bild gesetzten Szene vom Auseinandertreiben einer Menschenmenge durch jüdische Ordnungskräfte. Diese Blicke wiederum kündigen die Verfügbarkeit auf.
Indem Yael Hesonski die Zeitzeugen den Filmbildern aussetzt, lässt sie auch alle demonstrativ Wohlstand präsentierenden Szenen fraglich werden. Dass auch im Ghetto wenige Menschen die Muße hatten, ein Sonnenbad zu nehmen, dass es auch dort wenige Reiche gab, das räumen die Überlebenden ein. Aber sie bestätigen nicht die den Bildern von den Tätern gegebene Bedeutung. Ergänzend zu einer Szene mit einem Metzger, der an einem Straßenstand Fleisch anbietet, erinnert sich ein Überlebender: "Menschen, die noch Wertsachen hatten oder Essen, konnten sich auch Essen kaufen. Zu überhöhten Preisen zwar, aber sie konnten sich etwas kaufen. Bis zu ihrem letzten Tag. Davon gab es vielleicht 20 oder 50. Aber die meisten Menschen hatten nichts zu essen oder anzuziehen." Und angesichts der Sonnenbadenden resümiert eine andere Zeitzeugin: "Was wollten die damit zeigen? Unterschiede? Natürlich gab es Unterschiede im Ghetto." Bitter vermerkt sie: Es habe viele Kontraste im Ghetto gegeben, die Menschen hätten getan, was sie konnten, um ihre Würde zu bewahren. Das sei der schreckliche Kontrast und das Paradox gewesen, geschaffen von den Deutschen.
Einige Aussagen der Überlebenden wurden von Kritikern als problematisch bezeichnet. Die Erinnerungen an Schmutz, Elend, an Leichen auf den Straßen, auch an die eigene Abstumpfung den Toten gegenüber, erschien manchen Kritikern als vom Film nicht genügend kontextualisiert und möglicherweise Missdeutungen Vorschub leistend.
Yael Hersonski erreicht mit diversen filmischen Verfahren eine definitive Veränderung der Haltung zu jenen Bildern aus dem Jahr 1942. Sie findet dafür ihren Halt in den Blicken der Passanten, ihre Perspektive in den Erinnerungen der Überlebenden. Sie rekonstruiert die Filmarbeiten und dekonstruiert deren Produkt, den unvollendeten nationalsozialistischen Propagandafilm.
Weitere Inhalte
Der Filmwissenschaftler Dr. Rainer Rother ist seit 2006 Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und Leiter der Retrospektive der Berlinale. Zuvor leitete Rainer Rother in den Jahren 1991 bis 2006 die Kinemathek des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Der Filmexperte ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zu Themen der Film- und Mediengeschichte, unter anderem: Rainer Rother und Judith Prokasky (Hrsg.): Die Kamera als Waffe: Propagandabilder des Zweiten Weltkrieges, Edition Text und Kritik, München, 2010. Sowie: Rainer Rother, Leni Riefenstahl - Die Verführung des Talents, Henschel Verlag, Berlin, 2000.
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