Der Film "Geheimsache Ghettofilm" wurde von zahlreichen Medien international gelobt, auch wurde das Werk mehrfach ausgezeichnet. Zugleich gab es auch Kritik an dem Film. Um eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Werk "Geheimsache Ghettofilm" zu ermöglichen und um die Diskussion in ihrer Gänze abzubilden, bietet das Dossier zwei Kommentare zum Film. Dabei kommen der Historiker Dirk Rupnow und der Medienwissenschaftler Rainer Rother zu sehr gegensätzlichen Bewertungen des Films.
Unser Umgang mit den Bildern der Täter Die Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik – ein Kommentar zu Yael Hersonskis Film "Geheimsache Ghettofilm"
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Für den Historiker Dirk Rupnow löst der Film "Geheimsache Ghettofilm" nicht das Versprechen ein, die Täterbilder zu durchbrechen. Die Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto würden erneut benutzt, aber ohne neue Erkenntnisse oder Einsichten zu liefern. Ebenso kritisiert Rupnow das Werk für seine mangelnde Differenzierung und Genauigkeit. Der Historiker fordert zugleich eine breite Diskussion über den angemessenen Umgang mit Film- und Bildmaterial: Was muss tatsächlich gezeigt werden, und wie sollten Täterbilder kontextualisiert werden, um sie tatsächlich zu brechen und die Opfer nicht noch einmal zu erniedrigen.
Yael Hersonskis Film "Geheimsache Ghettofilm" ist mit Preisen renommierter internationaler Filmfestivals geradezu überhäuft worden: mit dem "World Cinema Documentary Editing Award" des Sundance Film Festival, dem "Writers Guild of America Documentary Screenplay Award" des Silverdocs Documentary Festival und dem "Best International Feature Award" des HotDocs Canadian International Documentary Festival (jeweils 2010). Der englische Filmtitel ist unspezifisch, geradezu kryptisch: "A Film Unfinished". Der deutsche Titel wird da schon deutlicher. Die Berichte in Zeitungen und auf Websites machen schließlich klar, worum es geht: "The Warsaw Ghetto As Seen Through Nazi Eyes" (Huffington Post, 16.8.2010), "Why did the Nazis Film the Dying Jews of Warsaw?" (The Wrap, 14.8.2010), "Film disputes account of Warsaw Ghetto history" (Warsaw Business Journal, 17.8.2010).
Im Zentrum des knapp 90-minütigen Films stehen 60 Minuten Filmmaterial, schwarz-weiß und stumm, das die Nazi-Täter im Laufe eines Monats im Mai 1942 im Warschauer Ghetto aufgenommen haben. Eine Neuentdeckung? Kaum, denn das Material ist seit langem bekannt: Die acht Filmrollen wurden 1954 in den Beständen des DDR-Filmarchivs entdeckt, versehen mit dem Titel "Ghetto", und lagern nunmehr im deutschen Bundesarchiv-Filmarchiv.
In den Szenen von Zusammenkünften des Judenrats und von der Arbeit des jüdischen Ordnungsdienstes, einer Beschneidung und dem Schächten eines Huhns, vom Hungern und Sterben auf der Straße und der Beisetzung in Massengräbern zeigt der Film verschiedene Aspekte des alltäglichen Lebens in der Zwangsgemeinschaft des von den deutschen Besatzern geschaffenen Ghettos. Überraschend und irritierend sind inmitten des Films die Aufnahmen einer jüdischen Oberschicht, die in Überfluss und Luxus zu leben scheint. Ihre üppigen Mahlzeiten und Feste in Restaurants des Ghettos werden der Armut und Verwahrlosung der breiten Masse auf der Straße gegenübergestellt. Dieser Kontrast wird zugespitzt bis hin zur direkten Gegenüberstellung von jeweils zwei Personen in einem Bild. Besonders deutlich wird dieser Kontrast bei einem Paar: einer jungen, gut gekleideten Frau und einer alten Bettlerin in Lumpen. Hier wird die Spannung zwischen den unfreiwillig Gefilmten förmlich greifbar.
Neben den Aufnahmen aus dem Ghetto werden Tagebucheinträge und Zeitzeugenberichte genutzt
Die 1976 geborene israelische Filmemacherin Yael Hersonski, deren Großmutter selbst das Warschauer Ghetto überlebt hat, kombiniert das Nazi-Filmmaterial mit aktuellen Berichten von Zeitzeugen und Tagebucheinträgen aus dem Ghetto. Letztere werden im Film eingesprochen. So schrieb etwa Adam Czerniaków in seinem Tagebuch wiederholt von den Dreharbeiten, die unter anderem in seinem Büro und seiner Privatwohnung stattfanden. Czerniaków war Vorsitzender des von den Nazis eingerichteten "Judenrats", der für die Selbstverwaltung des Ghettos und zur Implementierung der deutschen antijüdischen Politik benutzt wurde.
Mary Berg, die als Teenager das Warschauer Ghetto erlebte und auf Grund der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft ihrer Mutter im Frühjahr 1944 in die USA gelangte, berichtet in ihrem Tagebuch ebenfalls von der Arbeit des Filmteams im Ghetto.
Hersonski verlangsamt gelegentlich das Originalmaterial aus dem Ghetto, um den Blick eines Passanten in die Kamera oder die Kameraleute bei ihrer Arbeit, die in den Bildausschnitt ihrer Kollegen geraten, hervorzuheben. Sie zeigt an einigen Stellen das herausgeschnittene Material, so dass nachvollziehbar wird, wie manche Szenen mehrmals gefilmt worden sind, scheinbar um 1942 den besten Effekt zu gewährleisten. Vor allem aber konfrontiert sie Überlebende aus dem Warschauer Ghetto mit dem Filmmaterial, nimmt deren Reaktionen und Kommentare auf und unterbricht damit die Bildwelt der Täter.
Das Filmmaterial aus dem Mai 1942 hat fraglos eine besondere Bedeutung
Die Filmkritik reagierte einhellig. Hersonskis Film ist eine der meist gepriesenen Dokumentationen zur Geschichte des Holocaust der letzten Zeit.
Das einstündige Filmmaterial vom Mai 1942 hat fraglos eine besondere Bedeutung – und übt zugleich eine gewisse Faszination aus. Es sind einige der wenigen Filmaufnahmen, die wir vom Leben der Opfer in den Ghettos haben. Sie scheinen damit einen einzigartigen Einblick in die Vernichtungspolitik der Nazis zu versprechen – ein außergewöhnliches Versprechen, wenn man bedenkt, dass der Holocaust im Allgemeinen als unvorstellbar und als nicht darstellbar gilt. Sie bergen jedoch zugleich ein entscheidendes Problem: Die Bilder wurden von den Tätern aufgenommen. Zwar ist bis heute nicht vollständig klar, in wessen Auftrag und mit welcher Intention die Aufnahmen gemacht worden sind. Auch der Kameramann Willy Wist konnte dieses Geheimnis nicht lüften. Unbestreitbar ist jedoch, dass sie von den antisemitischen Obsessionen der Täter angetrieben und geformt wurden. Die Kamera fängt nicht nur das Leben und Sterben der Menschen im Ghetto ein, sondern auch den vorurteilsbeladenen Blick der Täter auf ihre Opfer.
Hersonski scheint dies durchaus bewusst zu sein, ist doch eine ihrer Begründungen für den Film die Kritik an der ausschnitthaften, rein illustrierenden Verwendung des Filmmaterials in Dokumentationen, die das Leben der Opfer im Warschauer Ghetto zeigen wollen. Zu Recht weist sie darauf hin, dass oft vergessen wird, dass es sich um Aufnahmen der Täter handelt, die nicht einfach als ein Abbild der Realität im Ghetto verwendet werden können. Neu ist jedoch auch dieses Argument nicht. Schon die amerikanische Historikerin Lucy Dawidowicz hatte in den 1970er Jahren die genannte BBC-Dokumentation aus dem Jahr 1966 scharf kritisiert.
Die Komplexität des Ghettolebens blendet Hersonski in ihrem Film aus
Das Problem von Hersonskis Film ist nun, dass sie die Zirkulation der Täterbilder nicht durchbricht, selbst wenn sie auf deren propagandistischen Charakter beharrt. Die Strategie, die bewegten Bilder durch die Stimmen der Opfer und überlebenden Zeitzeugen zu konterkarieren, geht nicht auf: Die Bilder bleiben dominant. Sie erzeugen die stärksten und bleibendsten Eindrücke. Der Film wird angetrieben von den Filmaufnahmen der Täter und überlässt sich ganz ihrer Struktur und Bildsprache. Auf Grund ihres Entstehungszusammenhangs und ihres Inhalts entfalten die Aufnahmen eine Kraft, die kaum durchbrochen werden kann. Und tatsächlich werden die Bilder am Ende als Abbild des Lebens im Ghetto gelesen – sowohl von Hersonski als auch von den Zuschauern und Filmkritikern. Der Versuch, das Problem zu lösen, indem man die Bilder der "reichen", wohlgenährten Juden zur Propaganda erklärt und von den Bildern der armen, hungernden Juden als Realität unterscheidet, weist ebenfalls in die Irre: Die Realität im Ghetto war nun einmal komplex und die sozialen Unterschiede erzeugten tatsächlich enorme Spannungen unter den Opfern, die wir uns der Einfachheit halber als homogene Einheit zu betrachten angewöhnt haben.
Dies heißt andererseits natürlich nicht, dass ein Teil der Opfer in Wirklichkeit Täter und an den Verhältnissen im Ghetto schuld gewesen wäre, dass es keinerlei Solidarität unter den Ghettoinsassen gab oder dass der Filmausschnitt der Nazi-Kameramänner nicht durchgängig manipulativ ist. Die Gesamtsituation des Ghettos einschließlich ihrer Konflikte und Spannungen ist von den Deutschen erzeugt worden. Alle Juden im Ghetto waren Opfer und alle sollten am Ende ermordet werden.
Jede propagandistische Inszenierung, wie sie die Kameraleute im Mai 1942 vornahmen, arbeitet bereits mit dieser anderen Form von "Inszenierung", mit der die Nazis ihre jüdischen Opfer in der Realität an ihre antisemitischen Klischees anzupassen versuchten. Dennoch kam es selbst im Warschauer Ghetto vor, dass die dort zwangsweise Lebenden ein Sonnenbad nahmen, wie es im Film gezeigt wird. Leicht mag dies als inszeniert gelten. Doch auch Privatfotos der Opfer belegen, dass es solche Szenen im Ghetto gab.
Der Propagandacharakter des Filmmaterials kann kaum dadurch bewiesen werden, dass die mehrmaligen Aufnahmen einiger Szenen belegt sind. Das ist wenig überraschend, schließlich inszeniert eine Kamera immer. Das Ghetto selbst diente aber bereits als Touristenattraktion, als eine Art Zoo, in dem für deutsche Soldaten jüdisches Leben als fremd und andersartig in Szene gesetzt wurde und bestaunt werden konnte.
Stattdessen imprägniert Hersonski ihren Film gegen jegliche Form von Kritik, indem sie das authentische Filmmaterial der Täter mit den Kommentaren von Opfern und überlebenden Zeitzeugen kombiniert. Im Ergebnis entsteht ein Film, gegen den kein Einspruch mehr möglich scheint: Ein Film, der ausschließlich aus "authentischem" Material entstanden zu sein scheint, in dem die Filmemacherin als Inszenierende und Manipulierende nicht mehr sichtbar wird.
Es fehlt an Differenzierung und Genauigkeit
Die allgemeine Begeisterung über den Film wurde bisher lediglich getrübt durch die Entscheidung der Motion Picture Association of America (MPAA), den Film unter Hinweis auf "disturbing images of Holocaust atrocities, including graphic nudity" als Restricted (R) einzustufen.
Für Europäer bietet die Diskussion wieder eine Möglichkeit, ihr Stereotyp von amerikanischer Prüderie bestätigt zu sehen. Die Nacktheit ist in diesem Fall freilich das wenigste, immerhin geht es um die systematische Ermordung von Menschen. Eine solche Entscheidung der MPAA war aber wohl zu erwarten: Der Film ist hochgradig verstörend, was angesichts seines Gegenstands wenig überrascht und im Ergebnis ja auch positiv zu bewerten wäre. Die Irritationen, die der Film beim Zuschauer hervorruft, resultieren jedoch lediglich aus der Schockwirkung der Bilder, nicht aus einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Komplexität und Ambivalenz des Materials.
Differenzierung und Genauigkeit sind nicht Hersonskis Stärke. Selbst wenn man die Filmemacherin nicht für die oft unsinnigen Kommentare in den Zeitungen verantwortlich machen kann, spiegeln die Feuilletons Ungenauigkeiten und offensichtliche Fehler des Films wieder. Dies wird noch bekräftigt durch die zahlreichen veröffentlichten Interviews mit Hersonski, die die Behauptung, dass der Film archivalisch, historisch und pädagogisch seriös angelegt sei, unglaubwürdig erscheinen lassen. Ein Verwischen der Genregrenzen, zwischen Dokumentar- und Spielfilm, ist in unserer Erinnerungskultur inzwischen allerdings so alltäglich geworden, dass es kaum noch aufzufallen scheint.
Die Zahl der Filmrollen ist ein Problem, das nebensächlich wäre, wenn Hersonski es nicht selbst in den Mittelpunkt rücken würde. Es wurden acht Filmrollen gefunden, im Film werden vier Filmrollen gezeigt, die dem Film als Strukturierung dienen. Auch der genaue Fundort des Materials im Jahr 1998 wird wiederholt falsch angegeben. So behauptet Hersonski gegenüber Medien, dass das Filmmaterial auf einer US Air Force-Basis aufgetaucht ist, obwohl es sich um das Motion Picture Conservation Center der Library of Congress handelt, das sich – vor allem aus Sicherheitsgründen, weil Nitratfilme leicht entzündlich sind – auf dem Gelände einer Air Force-Basis befindet, was überlieferungstechnisch einen entscheidenden Unterschied darstellen dürfte. Besonders bedenklich ist, dass sie die Vielzahl der das Filmmaterial begleitenden und kommentierenden Quellen, einschließlich der überlebenden Zeitzeugen, mit wenigen Ausnahmen praktisch nicht verortet und beschreibt. So erfahren wir weder Namen, Hintergründe oder Lebensgeschichten jenseits der Kommentare zum Filmmaterial. Das ist nicht nur für ein breites Publikum unbefriedigend und für eine pädagogische Nutzung bedenklich, es degradiert jegliches Material und sämtliche Zeitzeugenberichte zu bloßen Kommentatoren eines Nazi-Films. So taucht auch etwa im letzten Drittel des Films ein Farbfilm auf, der anscheinend von einem der Kameraleute des Filmteams privat gemacht worden ist, dessen Provenienz ebenfalls nicht erklärt wird. Er wurde – wie das Material in der Library of Congress – von dem britischen Filmforscher und Autor Adrian Wood entdeckt, allerdings in diesem Fall in Russland, im Privatbesitz des Sohnes eines ehemaligen sowjetischen Soldaten, der nach dem Krieg in Berlin als Filmkontrolloffizier eingesetzt war.
Vielleicht handelt es sich bei dieser Kritik nur um Spitzfindigkeiten eines Historikers? Schließlich kann auch die Tatsache, dass rechtsextreme Websites den Film für ihre Zwecke entdeckt haben, Hersonski nicht vorgeworfen werden. So berichtet etwa das rechtsradikale Störtebeker-Netz: "Wir empfehlen unseren Lesern, sollte der Film auch in deutschen Kinos laufen, sich diesen Film anzusehen und einfach die Bilder für sich sprechen zu lassen. Kommentar überflüssig."
Allerdings macht die Deutung des Films durch rechtsextreme Medien deutlich, wie vorsichtig mit solchem Material umgegangen werden sollte. Doch setzt schon die – zumindest in den USA – äußerst sensationalistische PR-Strategie auf einen dem brisanten Material vollkommen unangemessenen Ton.
So nutzt die PR-Strategie einen in Fraktur gesetzten Filmtitel und bedient sich damit einer weit verbreiteten Faszination für alles, was mit Faschismus, Zweitem Weltkrieg und vor allem mit dem Holocaust zu tun hat. Diese Faszination mag gelegentlich hilfreich sein, um Menschen mit diesen Themen zu konfrontieren, sie kann aber ebenso gut differenzierte Einsichten verhindern. Im konkreten Fall geht sie aus dem Kontrast zwischen dem systematischen Massenmord und den gleichzeitigen Filmaktivitäten der Täter hervor. Dies steht ganz offensichtlich im Widerspruch zu der verbreiteten Annahme, dass das Verwischen der Spuren ein Teil des Genozids war, dass weder eine Spur von den Juden selbst noch von den an ihnen verübten Verbrechen bleiben sollte, dass sie aus "Geschichte und Gedächtnis" ausgelöscht werden sollten. Tatsächlich deutet jedoch einiges darauf hin, dass im Falle eines "Endsiegs" und einer vollständigen "Endlösung" die Täter und ihre Nachkommen den Massenmord als heroische Tat erzählt hätten. Das wiederum erforderte notwendigerweise ein Bild von ihren Opfern, das ein solches Narrativ glaubwürdig und ihre Aktionen zwingend erscheinen ließ. Auch die antijüdischen Maßnahmen wurden bis an die Türen der Gaskammern dokumentiert – von offizieller Seite, aber auch privat von "ganz normalen Männern". Das Bedürfnis, alle Spuren zu verwischen, entstand erst angesichts der drohenden Niederlage. Wie dieses Narrativ der siegreichen Täter schließlich genau ausgesehen hätte, wissen wir nicht. Vermutlich wussten es die Täter noch nicht einmal selbst. Die Nazi-Pläne sind unfertig – wie der Film aus dem Warschauer Ghetto. Und sie sind keineswegs so konsistent und koordiniert, wie die politische Realität im "Dritten Reich" oft dargestellt wird.
Der Holocaust sollte dokumentiert und konserviert werden
Als Spekulation kann allerdings gelten, dass es sich bei der einstündigen, offensichtlich bereits bearbeiteten Version des Warschauer Materials um einen fertigen Film handelt, dessen Auftraggeber lediglich unbekannt ist. Anzunehmen ist vielmehr, dass sich die Filmaufnahmen einem allgemeinen Dokumentationsbedürfnis der Nazis im Kontext des Holocaust verdanken: Sie dokumentierten, was sie auslöschten, einschließlich ihrer Verbrechen – für späteren Gebrauch, nicht nur in Warschau, sondern auch an anderen Orten; nicht nur mit der Filmkamera, sondern auch mit Fotoapparaten, in den Sammlungen und Ausstellungen von Museen und schließlich in einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur aus antisemitischer Perspektive.
Wie Reichspropagandaminister Joseph Goebbels am 27.4.1942 in seinem Tagebuch berichtet, hat er veranlasst, dass nach der Deportation der deutschen Juden "in großen Umfang Filmaufnahmen" in den Ghettos in Osteuropa gemacht werden: "Das Material werden wir für die spätere Erziehung unseres Volkes dringend gebrauchen."
Goebbels war keineswegs der einzige, der sich mit diesem Problem – der Konservierung der Opfer über ihre Ermordung hinaus – beschäftigte. Wie auf anderen Gebieten, war das NS-Regime auch hier von Konkurrenzen innerhalb der Eliten geprägt, die freilich alle eine eindeutig antisemitische Intention teilten und somit letztlich auf ein gemeinsames Ziel hinführten. Insofern bleibt der genaue Kontext der Filmaktivitäten im Warschauer Ghetto im Mai 1942 bis zum Auftauchen weiterer Quellen unklar.
Die Warschauer Aufnahmen waren vermutlich für die Zeit nach dem Holocaust gedacht
Ein speziell zusammengestellter "Filmeinsatztrupp" scheint die Aufnahmen gedreht zu haben, wobei sie sich deutlich von zwei anderen bekannten Filmen unterscheiden. Der 1940 uraufgeführte Film "Der ewige Jude" – zur Beglaubigung seines antisemitischen Inhalts als "dokumentarischer Film" bezeichnet – wurde mit seiner aggressiven Hetzpropaganda und seinen suggestiven Bildern zur Einstimmung der Bevölkerungen in Deutschland, aber auch in den besetzten und verbündeten Ländern auf radikale Maßnahmen zur "Lösung der Judenfrage" eingesetzt.
Im August und September 1944 wurde der später berüchtigte Film "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" über das
So erklärt sich vermutlich auch der für die Warschauer Aufnahmen in Umlauf befindliche Titel "Asien in Mitteleuropa". Hierbei handelt es sich wohl eher um eine Namensgebung durch die Ghettoinsassen, die für sich einen Sinn aus den Filmaufnahmen zu machen versuchten, zumal der Titel ausschließlich in den Erinnerungen eines Überlebenden überliefert ist.
Trotz offensichtlicher Parallelen – alle drei Filme beinhalten Aufnahmen aus Ghettos und entstanden im unmittelbaren Zusammenhang mit der antijüdischen Vernichtungspolitik – handelt es sich doch um drei sehr unterschiedliche Projekte: Während "Der ewige Jude" als Propaganda zur Vorbereitung der eigenen Bevölkerung auf bevorstehende antijüdische Maßnahmen diente, war der Theresienstadt-Film gegen Kriegsende an das Ausland adressiert. Die Warschauer Aufnahmen wurden aller Wahrscheinlichkeit nach für das "Archiv", für die Zeit "danach" aufgenommen. Sie hätten nach dem vollendeten systematischen Massenmord im Sinne der Täter eine weitere Repräsentation der Juden ermöglichen sollen. Wie und in welcher Form ist dabei weitgehend unklar. Die Bilder hätten aber nicht mehr den üblichen Regeln der Propaganda zur Vorbereitung des Genozids folgen müssen, sondern verdanken sich einem registrierenden und aufzeichnenden, fast ethnologischen Blick und einem gewissermaßen anthropologischen Interesse – was allerdings nicht heißt, dass sie nicht von antisemitischen Obsessionen und Stereotypen angeleitet und geprägt sind oder dass einzelne Szenen nicht mehrmals gefilmt wurden, um ein "gutes" Bild herzustellen.
Das Regime erzwang Realitäten, die es im Bild festhielt, als Legitimation des Antisemitismus
Dokumentation und Propaganda können hier nicht leicht unterschieden werden. Auch die Ghetto-Aufnahmen für "Der ewige Jude" wurden zunächst offenbar aus einem rein dokumentarischen Interesse heraus aufgenommen. Unter der Überschrift "Judenaufnahmen 'fürs Archiv'" beschreibt Fritz Hippler, Reichsfilmintendant und Leiter der Film-Abteilung des Reichspropagandaministeriums, diesen Auftrag in seinem Erinnerungsbuch: "'Überzeugen Sie sich mal selbst, wie diese Juden da leben, wo sie zu Hause sind. Lassen Sie Filmaufnahmen vom Leben in den polnischen Ghettos machen', sagte Goebbels zu mir, als ich ihm am Sonntag, dem 8. Oktober den Rohschnitt der neuesten Wochenschau vorführte. 'Fahren Sie noch morgen mit ein paar Kameramännern nach Litzmannstadt [Lodz] und lassen Sie alles filmen, was Ihnen vor die Flinte kommt. Das Leben und Treiben auf den Straßen, das Handeln und Schachern, das Ritual in der Synagoge, das Schächten nicht zu vergessen. Wir müssen das alles an diesen Ursprungsstätten aufnehmen, denn bald werden hier keine Juden mehr sein. Der Führer will sie alle aussiedeln, nach Madagaskar oder in andere Gebiete. Deshalb brauchen wir diese Filmdokumente für unsere Archive'."
Die Idee zu "Der ewige Jude", dem aggressivsten antijüdischen Film, der im "Dritten Reich" produziert wurde, entstand scheinbar erst, als Goebbels die für das Archiv bestimmten Aufnahmen vorgeführt wurden: "Bei der gemeinsamen Vorführung tat er dann so, als wolle er mir zeigen, wie jemand mit richtigem Instinkt zur Judenfrage reagiert. Fast jede Großaufnahme begleitete er mit Ausrufen des Abscheus und Ekels; einige Gestalten beschimpfte er so lebhaft, als könne er damit auf der Leinwand Reaktionen hervorrufen; bei den Schächtbildern nahm er stöhnend die Hände vors Gesicht. [...] Am Ende dekretierte er, diese Aufnahmen gehörten nicht ins Archiv, daraus müsse ein abendfüllender Film gemacht werden. Kameramänner zurück ins Ghetto, er wolle sie vorher selbst sprechen."
Wie auch bei dem Warschauer Filmmaterial einige Jahre später, das vermutlich von Goebbels in Auftrag gegeben und ihm möglicherweise schließlich vorgeführt wurde, wiederholte sich der immer gleiche Zirkel: In einem ersten Schritt erzwingen die Täter eine Realität, so etwa die der Ghettos. Die auf dieser "Realität" basierenden Filmaufnahmen dienen ihnen zur Bestätigung und Verstärkung ihrer antisemitischen Vorurteile. Und schließlich werden sie zur Legitimierung der immer brutaler werdenden antijüdischen Maßnahmen genutzt.
Wie sollte Film- und Bildmaterial der Täter heute benutzt werden?
Was bleibt, ist die Frage nach dem angemessenen Umgang mit dieser Art Filmmaterial. Dies betrifft allerdings nicht nur die Warschauer Aufnahmen aus dem Jahr 1942, sondern eine Vielzahl von Filmdokumenten und eine noch weitaus größere Zahl von Fotografien aus dem Blickwinkel der Täter. Viele ihrer Aufnahmen sind zu Ikonen des Holocaust geworden, so etwa einzelne Aufnahmen aus dem sogenannten Auschwitz-Album oder dem Stroop-Bericht. Jeder kennt den kleinen Jungen mit den erhobenen Armen im Warschauer Ghetto oder die alte Frau mit den kleinen Kindern auf dem Weg in eine der Gaskammern von Auschwitz. Wie selbstverständlich werden sie in unserer Erinnerungskultur als Instrumente des Gedenkens an die Opfer verwendet, obwohl sie von den Tätern gemacht worden sind, um den Erfolg und die Effizienz der Vernichtungspolitik zu dokumentieren und sie zugleich zu rechtfertigen. Es kann angenommen werden, dass das heute nur wenigen Betrachtern bewusst ist, zumal es bei der Verwendung der Bilder meistens kaum deutlich gemacht und problematisiert wird.
Ebenso selbstverständlich werden manipulative Propagandabilder, wie etwa jene Leni Riefenstahls in Dokumentationen gebraucht und unendlich oft wiederholt – nicht nur, um über Propaganda zu sprechen und die Faszination des schönen Scheins zu brechen; nicht nur, um die Problematik dieser Bilder zu thematisieren; sondern um das "Dritte Reich" zu illustrieren. Was dabei alles – vielleicht ungewollt – mittransportiert wird (auch durch Ausblendungen, die für alle hier genannten Varianten von Propaganda ebenso konstitutiv sind, wie die sichtbaren Inhalte selbst), bleibt im Allgemeinen unbedacht. Die Lesarten von Bildern können schließlich nicht ohne weiteres kontrolliert und eingeschränkt werden. Unsere Bilder vom Nazismus und seinen Verbrechen – in der Populärkultur, in der Vermittlung durch die unterschiedlichsten Medien und auch in der Wissenschaft und Forschung – werden überraschenderweise immer noch weitgehend von den Tätern bestimmt, trotz ihrer Niederlage.
In einigen Fällen konnten Bilder der Täter tatsächlich, entgegen ihrer ursprünglichen Intention, erfolgreich in Belege für ihre Verbrechen gewendet werden und einen Erkenntnisgewinn erzeugen. So gelang es etwa anhand von Bildmaterial, eine breitere Öffentlichkeit mit der Tatsache einer Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust zu konfrontieren. Allerdings war auch dies nur möglich, um den bis heute kaum diskutierten Preis einer fortgesetzten beziehungsweise erneuten Erniedrigung der Opfer im Bild, denn die ursprüngliche Funktion der Bilder war die Erniedrigung der Aufgenommenen. Systematische Erniedrigung war Teil des Vernichtungsprozesses. Einfache Antworten kann es auf diese weitreichende Frage daher auch nicht geben.
Die beiden Extrempositionen erscheinen wenig hilfreich, weil sie diese Komplexität nicht benennen: Weder der Ausschluss aller Bilder aus der Nazizeit, wie er etwa von dem französischen Regisseur Claude Lanzmann gefordert wird, noch ein Bilderfetischismus, der den Bildern eine fast metaphysisch-erlösende Funktion zuschreibt, prominent vertreten von Jean-Luc Godard, werden dem Problem gerecht.
Bildmaterial muss kontextualisiert werden
Es sollte jedoch in jedem Einzelfall sehr genau gefragt und reflektiert werden, was Bilder zeigen. Deutlich gemacht werden muss außerdem, warum die Bilder es zeigen, unter welchen Umständen und mit welcher Absicht sie aufgenommen wurden und schließlich, was sie nicht zeigen. Alle diese Elemente bestimmen und formatieren ein Bild, nicht ausschließlich der Inhalt im engeren Sinne. Daran anschließend wäre jeweils zu überlegen, inwieweit und wofür sie sinnvoll verwendet werden können. Vor allem im Falle der Täterbilder ist stets zu fragen, was ihre weitere Verwendung rechtfertigt: Was können wir aus ihnen lernen, was wir sonst nicht lernen könnten? Wie müssen wir sie kontextualisieren, um nicht ungewollt die Botschaft der Täter zu transportieren?
In Yael Hersonskis "Geheimsache Ghettofilm " gibt es weder neue Bilder noch neue Erkenntnisse oder Einsichten. Vertieft das Filmmaterial aus dem Warschauer Ghetto unser Verständnis des Holocaust? Vielleicht, wenn es sensibel thematisiert und kontextualisiert werden würde. Um von Hunger und Massengräbern zu erfahren, brauchen wir es allerdings nicht. Und wohl auch kaum, um zu realisieren, dass die Nazis antijüdische Propaganda produziert haben.
Leichenbergpädagogik ist mittlerweile aus der Mode gekommen. Das heißt nicht, dass wir uns den Blick auf die Verbrechen zu leicht machen sollten. Aber wir sollten doch genau überlegen, wie wir mit dieser Art von Bildern umgehen, wofür wir sie einsetzen, ob wir sie wirklich benötigen und was wir mit ihnen ungewollt mittransportieren. Bilder stellen letztlich keine wesentlich anderen Anforderungen an die Rezipienten als es Texte tun. Sie werden nur anders wahrgenommen: Nicht selten als direkter Blick auf die Wirklichkeit, die vermeintlich ohne weiteres erfasst werden kann.
Auch Historikerinnen und Historiker sind immer noch nicht geschult im Umgang mit Bildern als Quelle. Einfache Rezepte und abschließende Antworten auf diese komplexen Anforderungen gibt es ohnehin nicht. Fahrlässig ist es aber, diese Fragen und Probleme noch nicht einmal aufzuwerfen und zu diskutieren – und weder ein Unbehagen noch ein Ungenügen sichtbar zu machen. Eine solche Debatte wäre weiterhin notwendig, wird aber bedauerlicherweise in unserer Erinnerungskultur nicht geführt. Vielmehr zeigt sich immer wieder eine schwer erträgliche Mischung aus Sensationalismus und Voyeurismus, Faszination und Obsession, gepaart mit Missverständnissen und Ungenauigkeiten – insofern sind "Geheimsache Ghettofilm" und seine Rezeption ein Lehrstück über den öffentlichen Umgang mit dem Holocaust in unserer Zeit.
Der Text entstand im August/September 2010 während eines Charles H. Revson Foundation Fellowships am Center for Advanced Holocaust Studies des United States Holocaust Memorial Museums in Washington, DC. Ich danke Raye Farr, Leslie Swift und Lindsay Zarwell vom Steven Spielberg Film and Video Archive am USHMM für zahlreiche Hilfestellungen und die Überlassung von Material. Ihnen wie auch einer Reihe anderer Kollegen und Kolleginnen sowie Gastwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen sei außerdem für intensive Diskussionen über den Film und die hier aufgeworfenen Fragen gedankt. Für alle hier vertretenen Einschätzungen wie auch für jegliche Art von Fehlern ist naturgemäß der Autor allein verantwortlich.
Der Text erschien mit wenigen Änderungen erstmals auf Zeitgeschichte-Online im Oktober 2010: Dirk Rupnow, Die Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik und unser Umgang mit den Bildern der Täter. Ein Beitrag zu Yael Hersonskis "A Film Unfinished"/"Geheimsache Ghettofilm", Externer Link: http://www.zeitgeschichte-online.de/md=AFilmUnfinished.
Weitere Inhalte
Der Historiker Ass.-Prof. Priv.-Doz. Mag. Dr. Dirk Rupnow ist Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. 2004 und 2010 war er Fellow des Centers for Advanced Holocaust Studies am United States Holocaust Memorial Museum in Washington, DC. 2009 erhielt er den Fraenkel Prize in Contemporary History der Wiener Library, London. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des Holocaust, zur Wissenschaftsgeschichte und zu Fragen von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
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