Die Nutzer sind nicht einfach nur passive Konsumenten. Sie sind mehr oder weniger aktiv. Einerseits nutzen sie das klassische Programmfernsehen auf der Basis ihrer Bedürfnisse und Wünsche. Andererseits bieten verschiedene Formen des Fernsehens auch die Möglichkeit, sich aktiv in die Programmgestaltung einzubringen. Hier können drei Arten von Beteiligung unterschieden werden:
Bürger machen selbst Fernsehen, z. B. in Offenen Kanälen oder dem Bürgerfernsehen.
Zuschauer können als Protagonisten in Spiel- und Reality-Shows sowie in Dokumentationen und Doku-Soaps auftreten.
Die Digitalisierung des Rundfunks und die Weiterentwicklung des Internets ermöglichen neue Formen der Interaktion, z. B. durch die Einbindung von Web-2.0-Angeboten.
Offene Kanäle
Die Grundidee eines Fernsehens der Bürger hat Bertolt Brecht bereits in seiner Radiotheorie formuliert (Brecht 1927–1932/1967), nach der jeder Empfänger zum Sender werden sollte. In den 1970er Jahren wurde dies von Hans Magnus Enzensberger in seinem "Baukasten zu einer Theorie der Medien" (Enzensberger 1970) für den Videobereich und das Fernsehen übernommen. Zu jener Zeit bildeten sich auch bürgernahe Videogruppen, z. B. in Stadtteilen von Großstädten und in Jugendzentren von Kleinstädten.
Mit der Einführung des privaten Rundfunks in den 1980er Jahren war auch die Intention verbunden, dem Fernsehen der Bürger einen Weg zu ebnen. So wurde gesetzlich in den Landesmediengesetzen die Einrichtung von Offenen Kanälen festgeschrieben. Sie sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich gestaltet. In der Regel präsentieren lokale Vereine und Verbände, ethnische Minderheiten, religiöse Gemeinschaften (communitys), Jugendclubs und andere Vereinigungen mit eigenen Sendungen ihre Anliegen. Initiativen, in denen Bürger eine Art kritischen Journalismus betreiben, sind eher selten.
Bürgerfernsehen und andere Formen der journalistischen Beteiligung
Bürgerfernsehen ist den Offenen Kanälen ähnlich. Es stellt jedoch eine Form der Beteiligung im Bereich des nicht-kommerziellen Lokalrundfunks dar. Im Rahmen des Bürgerfernsehens bilden sich Vereine, die den Zweck haben, Sendungen von Bürgern für Bürger zu machen. Im nordrhein-westfälischen Landesmediengesetz gibt es den Begriff der "Bürgermedien", der neben lokalen, von Bürgern produzierten Radiosendern und -sendungen auch den Offenen Fernsehkanal oder den sogenannten Campusfunk umfasst. Mit letzterem ist ein Hochschul- oder Uni-TV gemeint. In Berlin/Brandenburg gibt es z. B. das Hochschulfernsehen Xen.On TV, das über ein Facebook-Profil zu sehen ist. In anderen Bundesländern, wie etwa in Bayern, ist das Hochschulfernsehen Bestandteil der Aus- und Fortbildungskanäle, die auch zum Bürgerfernsehen gerechnet werden. Während im Print- und Onlinejournalismus "Leserreporter" eigene Berichte und Fotos einschicken können, die dann veröffentlicht werden, ist dies im Fernsehbereich bisher nur bei Sendungen der Fall, in denen Videos von Missgeschicken und Unglücken eingeschickt werden können, sogenannte "Augenzeugenvideos".
Bürgerfernsehen trotz YouTube
Prinzipiell steht den Bürgern jedoch in den Offenen Kanälen und dem Bürgerfernsehen eine Plattform zur Verfügung, auf der sie selbst journalistisch aktiv werden können. Auch wenn sich bei vielen der Eindruck festgesetzt hat, dass eine solche Plattform sich sehr viel besser mit YouTube etabliert hat, wird das Bürgerfernsehen (etwa im Bürger- und Ausbildungskanal Tide in Hamburg) für die Selbstdarstellung von Gruppen gern genutzt – nicht zuletzt deshalb, weil dies dem Anspruch auf Präsenz im Fernsehen sehr viel mehr entgegenkommt, als auf einer unübersichtlichen Datenbank seine Darstellung verortet zu haben. Häufig werden solche Beiträge dann im Nachhinein bei YouTube eingestellt.
Zuschauer als Protagonisten
Als im Jahr 2000 die erste Staffel der Reality-Show "Big Brother" auf dem privaten Fernsehsender RTL II lief, war die öffentliche Aufregung groß, weil dort "normale" Menschen (und keine Medienprofis) für 100 Tage in einem Container lebten und ihr Leben von Kameras aufgezeichnet wurde. Das Phänomen, das Zuschauer selbst als Protagonisten im Fernsehen auftreten, war jedoch keineswegs neu. Von Beginn des Fernsehens an traten Zuschauer z. B. als Kandidaten in Quiz- und Spielshows auf. Daneben kamen Bürger als Interviewpartner in politischen Magazinen vor oder waren Gegenstand von Dokumentationen über das Leben auf dem Land oder den Arbeitsalltag in Fabriken; später traten viele auch in Talkshows auf.
Seit den 1990er Jahren wurden Doku-Soaps produziert, in denen einzelne Menschen oder Gruppen z. B. in ihrem Berufsalltag oder der Freizeit mit der Kamera begleitet wurden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich im privaten Fernsehen auch Castingshow-Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ etabliert, die deswegen so erfolgreich sind, weil potentiell jeder normale Bürger teilnehmen und dadurch bekannt werden kann. Etwas später kamen Scripted Reality-Formate hinzu. Der Auftritt von Zuschauern in Fernsehsendungen dient den Sendern als Zuschauerbindung und als ein Nachweis, dass das Gezeigte authentisch ist.
Vom Web 2.0 zum Cloud-TV
Das "Bildblog" startete als Watchblog für die Bild-Zeitung und hat sich als "Bildblog für alle" auch anderen Medien angenommen. (© BildBlog)
Das "Bildblog" startete als Watchblog für die Bild-Zeitung und hat sich als "Bildblog für alle" auch anderen Medien angenommen. (© BildBlog)
Das Internet ist seit den 1990er Jahren nach und nach zu einem Massenmedium geworden. Von traditionellen Programmmedien unterscheidet es sich dadurch, dass die Nutzer individuell auf Inhalte zugreifen können. Die Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik ermöglichte ab Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die Internet-Generation des sogenannten Web 2.0.
Social-TV
Unter dem Schlagwort Web 2.0, das 2003 erstmals verwendet wurde, versteht man, dass Internetnutzer Inhalte ("User Generated Content") nicht nur konsumieren sondern selbst herstellen und somit zu sogenannten Prosumenten (Produzent und Konsument) werden. Dafür wurden spezielle Plattformen geschaffen, auf denen Texte, Bilder, Videos, Podcasts etc. eingestellt und sich mit anderen Nutzern ausgetauscht werden kann.
Instagram, Facebook, YouTube, Twitter, TikTok und andere soziale Medien haben in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Der Trend zu Social Media und die immer größere Verbreitung von Smartphones und Tablets ermöglichen neue Formen der Interaktion, die sich unter dem Schlagwort Social TV zusammenfassen lassen und über die Möglichkeiten des Web 2.0 hinausweisen. Social-TV-Anbieter wie z. B. Couchfunk ermöglichen Live-Diskussionen über das aktuell im Fernsehen Gesehene und das Kennenlernen neuer Leute z. B. aus Begeisterung für dieselbe Sendung. Die Apps der TV-Sender und Apps zu speziellen Sendeformaten enthalten ebenfalls Social Media Funktionen, so dass Diskussionen und der Austausch der Zuschauer untereinander heute sehr leicht möglich sind. Marketingstrategen setzen zunehmend auf derartige soziale Dienste, um Zuschauer stärker an Sendungen zu binden und gleichzeitig wertvolle Informationen zum Nutzungsverhalten zu gewinnen.
YouTube-Stars und Multi-Channel-Networks (MCN)
Ein weiteres Phänomen im Zuge des Web 2.0 ist das Entstehen sogenannter Influencer und YouTube-Stars. YouTube, das 2005 gegründet und 2006 von Google gekauft wurde, ermöglichte es seinen Nutzern von Anfang an, selbstproduzierte Videos einzustellen oder die Videos anderer zu bewerten und zu kommentieren. Inzwischen hat die größte Videoplattform eine Reihe von YouTubern hervorgebracht, die bei ihren meist sehr jungen Fans Starstatus erlangt haben. Zwischen 3 und 7 Millionen Abonnenten haben die Kanäle einzelner YouTuber, die häufig mit witzigen Videoclips gefüttert werden. Mit der Zeit wurden die Clips immer professioneller produziert. Auch haben sich zahlreiche YouTube-Stars zu Multi-Channel-Networks zusammengeschlossen. Diese werden von Unternehmen betrieben, welche die YouTuber bei der Clip-Produktion unterstützen und durch die Bündelung verschiedener Kanäle eine größere Reichweite erzielen können. Die YouTuber werden an den Werbeeinnahmen beteiligt, die durch die Abrufe ihrer Videos generiert werden. Desweiteren findet häufig in den Videoclips umstrittenes Product Placement statt, das zusätzliches Geld einbringt und daher ebenso der Kennzeichnungspflicht unterliegen kann wie im linearen Fernsehen.
Multi-Chanel-Network (MCN)
Mittlerweile haben sich insbesondere auf der Plattform YouTube Kanäle mit einer beachtlichen Reichweite auch für den deutschsprachigen Raum herausgebildet. So gibt es auf YouTube bereits mehrere Kanäle, die mehr als 1 Million Nutzer vorweisen können, und einzelne Kanäle kommen sogar auf ca. 3 Millionen Abonnenten, wohlgemerkt allein in deutscher Sprache. Die bereitgestellten Videos erreichen auch dementsprechende Klickzahlen.
Die beachtlichen Reichweiten der neuen Kanäle werden nicht durch Zufall erzielt. Vielmehr hat sich inzwischen ein hoch professionelles fernsehähnliches System für die Verbreitung von Kanälen auf den Videoplattformen durchgesetzt. Die Kanäle werden durch Unternehmen vermarktet und unterstützt, die als Multi-Chanel-Network (MCN) bezeichnet werden. Diese Netzwerke bilden einen Zusammenschluss aus mehreren Kanälen. Sie unterhalten vertragliche Beziehungen mit den jeweiligen Videoplattformen und kommen so in den Genuss bestimmter Sonderrechte hinsichtlich der Plattformnutzung. Die eingeräumten Sonderrechte helfen den Netzwerken dann wiederum, ihre Reichweite und ihre Werbeerlöse zu steigern. Auch traditionelle Fernsehunternehmen haben mittlerweile solche Netzwerke aufgebaut oder sind daran beteiligt. Im Kern ist die Ausrichtung aller Netzwerke aber gleich. Sie bündeln verschiedene Kanäle zu einem Gesamtangebot, das über die Videoplattformen verbreitet wird. Die Einnahmen der Netzwerke beruhen auch hier wie im herkömmlichen privaten Rundfunk im Wesentlichen auf Werbung und Productplacement. Zudem werden nicht selten Produkte in Videos vorgestellt und mit Kaufaufrufen verbunden. Das zeigt, dass sich ein dem klassischen Privatfernsehen ganz ähnliches System für die Online-Videoplattformen herausgebildet hat. Insbesondere beruht die Finanzierung dieses Systems genauso wie im herkömmlichen Privatrundfunk im Wesentlichen auf Einnahmen durch Werbung, woraus sich auch dieselben vielfaltsverengenden Tendenzen ergeben können. Eine Durchsicht der Angebote der Multi-Channel-Networks zeigt, dass diese sich primär an Genres orientieren, z.B. Comedy, Gaming, Beauty, Fashion und Lifestyle sowie Musik.
Quelle: Dieter Dörr / Bernd Holznagel / Arnold Picot: Legitimation und Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Zeiten der Cloud. Gutachten im Auftrag des ZDF, 2016, S. 13f. Download unter: Externer Link: https://www.zdf.de/ZDF/zdfportal/blob/45517114/5/data.pdf
Interaktives Fernsehen
Von der Cockpit-Kamera in Michael Schumachers Ferrari aufgenommenes Bild (© picture-alliance/dpa)
Von der Cockpit-Kamera in Michael Schumachers Ferrari aufgenommenes Bild (© picture-alliance/dpa)
Durch die Digitalisierung und die Breitbandtechnologie kann das Angebot eines Fernsehsenders mit einem Rückkanal ausgestattet werden, auf dem die Nutzer "antworten" können. Interaktives Fernsehen stellt so eine Erweiterung des herkömmlichen Fernsehens dar. Die Nutzer haben dadurch einen Einfluss auf den Kommunikationsprozess, in der Regel handelt es sich um Wahl- und Antwortmöglichkeiten. Es gibt zwei Formen des interaktiven Fernsehens:
die sogenannte "One-Screen-Solution" und
die sogenannte "Two-Screen-Solution" (Second Screen, Multi-Screen).
In letzterem Fall wird das Internet genutzt, um einen Inhalt dort parallel zum Fernsehen zu zeigen. Um als Nutzer interaktiv handeln zu können, ist ein zweites Gerät notwendig, inzwischen i. d. R. weniger ein PC oder Laptop als vielmehr ein Tablet oder Smartphone. Bei der "One-Screen-Solution" besteht für die Nutzer die Möglichkeit, durch den Druck auf eine Taste ihrer Fernbedienung mit dem Programm zu interagieren. Diese Art des interaktiven Fernsehens ist in Großbritannien sehr weit verbreitet.
Interaktive TV-Formate
Die ARD bot im Kinderkrimi "Spur & Partner" (2003–2006) jungen Nutzern die Chance, per Knopfdruck Indizien zu sammeln, um diese mit Hinweisen und Rätselfragen zu überprüfen. Die Zuschauer konnten so den Fall selbst lösen, bevor alle erfuhren, wer der Täter war.
Bei der Verfilmung von Ferdinand Schirachs Bestseller "Terror – Ihr Urteil" (Das Erste, 2016) konnten die Zuschauer am Ende des Films per Abstimmung ein Urteil fällen. Es ging in erster Linie um eine moralische Frage: darf ein entführtes Flugzeug abgeschossen werden, wenn es auf ein vollbesetztes Fußballstadion zurast? Per Telefon- und Online-Voting beteiligten sich insgesamt 609.045 Zuschauer (405.970 per Telefon, 203.075 online). Die große Mehrheit (86,9 %) erklärte den angeklagten Kampfpiloten für nicht schuldig.
Eine weitere Form der Interaktion bieten Sportübertragungen wie z. B. Fußballbundesliga- und Championsleague-Spiele oder Formel-1-Rennen. Dort kann der Zuschauer mittlerweile häufig zwischen verschiedenen Kameraperspektiven wechseln und so einen individuellen Blick auf das Geschehen wählen.
Interaktive TV-Formate bieten den Zuschauern mehr Möglichkeiten der Teilhabe. Sie können mit den Sendungen interagieren, sie können zwischen verschiedenen Angeboten wählen. Dadurch erhalten sie größere Spielräume in der Fernsehnutzung. Allerdings sind solche Formate bisher kaum verbreitet, vielleicht weil sie nicht der immer noch dominierenden, passiven "Lean Back"-Haltung der Fernsehnutzung entsprechen.