Wirkungsanalysen zu Distanzierungsangeboten im Bereich der religiös begründeten Radikalisierung sind immer noch selten. Insbesondere solche, die anhand von Einzelfällen tatsächlich erreichte Veränderungen herausarbeiten und sie mit den Handlungen der zuständigen Berater:innen ins Verhältnis setzen. Wirkungsanalysen sind fachlich sensibel und methodisch äußerst anspruchsvoll. Seit Jahren diskutieren Akteur:innen der Fachpraxis, Wissenschaft und Politik kontrovers, wie Veränderungen bei den Adressat:innen (methodisch sauber) auf das konkrete Handeln von Berater:innen zurückgeführt werden können. Wirkungsanalysen sollten darüber hinaus die komplexen und langjährigen Beratungssituationen angemessen untersuchen, ohne sie unnötig zu vereinfachen. In den bisherigen Forschungen und Praxisbeschreibungen besteht ein relativ einheitliches Bild der grundlegenden Veränderungsdimensionen: Als zentrale Veränderungen werden bei den Adressat:innen vor allem Gewaltverzicht und Reduktion von Fremdgefährdung, ideologische Distanzierung von demokratiefeindlichen, pauschal ablehnenden Haltungen, soziale Distanzierung von extremistischen Szenebezügen und lebensweltliche Stabilisierung und Alltagsneuregelung angestrebt (Möller et al. 2024; Karliczek et al. 2023).
Diese Systematisierungen der angestrebten Veränderungen sind nützlich für die Politik und Praxis. Als Modelle fokussieren sie jedoch nur auf die Beschreibung der Veränderungen bei den Adressat:innen. Da Wirkungsuntersuchungen viel mehr als reine Wirkungsfeststellungen sein sollten, sind gerade auch die Haltungen und Handlungen der Berater:innen interessant, die die jeweiligen Veränderungen ermöglichen. Die Kernfrage dieses Beitrags lautet deshalb: Wie tragen die Berater:innen zum gelingenden Distanzaufbau und zur Distanzwahrung der Adressat:innen bei?
Kontextsensible Wirkungsanalysen
Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) führte im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung im Handlungsbereich Land des Programms „Demokratie leben!“ 2022 und 2023 eine Wirkungsanalyse zu den geförderten Beratungsangeboten der Distanzierungsberatung im Bereich Rechtsextremismus und religiös begründeter Extremismus durch. Distanzierungsberatung ist ein professionelles Arbeitsfeld an der Schnittstelle zwischen Sozialer Arbeit und politischer Bildung. Seit dem Jahr 2000 gibt es Ausstiegsangebote, die sich einzelfallbezogen an Personen im Bereich Rechtsextremismus richten. Im Bereich religiös begründeter Extremismus etablierten sich entsprechende staatliche und zivilgesellschaftliche Angebote seit 2010. Dieser Beitrag fokussiert sich auf die Arbeit gegen religiös begründete Radikalisierung.
Die Wirkungsanalyse basierte auf einer kleinen Fallzahl. Im Fokus standen Angebote der direkten Distanzierungsberatung, die vor allem systemisch orientiert arbeiten (Dittmar 2021). Sie fokussieren sich auf die wechselseitigen Beziehungen der Adressat:innen zu ihrem sozialen Umfeld und nutzen systemische Methoden und Fragetechniken. Dabei unterschied sich der Grad der islam- und religionswissenschaftlichen Informiertheit der einzelnen Berater:innen. Psychotherapeutisch ausgerichtete und religiös bekenntnisorientierte Angebote waren nicht Teil der geförderten Projekte und konnten deshalb nicht untersucht werden. Interviewt wurden die Berater:innen zu vier Einzelfällen im Bereich religiös begründeter Extremismus. Dabei konnten – anders als im Bereich Rechtsextremismus – keine Interviews mit Adressat:innen durchgeführt werden. Warum nicht? Die Berater:innen befürchteten negative Folgen für die Beratungsprozesse oder es bestand kein Kontakt mehr zu den Adressat:innen. Zudem beobachteten die Berater:innen eine besondere Skepsis der Adressat:innen gegenüber als „deutsch“ wahrgenommenen Forschenden und schlossen daher eine Befragung durch die Wissenschaftler:innen des DJI aus.
Die folgende Abbildung zeigt die verschiedenen Einzelfälle im Bereich religiös begründeter Extremismus, zu denen Interviews mit den Berater:innen geführt wurden. Die vier Adressaten der Angebote waren alle männlich, überwiegend jung und bis auf eine Ausnahme hatten sie einen Bezug zum Strafvollzugssystem.
In der Analyse wurden die individuellen Veränderungen der Adressat:innen untersucht, etwa hinsichtlich ihrer Einstellungen, Routinen und Kompetenzen (Outcomes). Diese Veränderungen wurden zum haltungsbasierten Handeln der Berater:innen in Beziehung gesetzt und das funktionale Zusammenspiel der Berater:innen und Adressat:innen analysiert (Wirkmechanismen). Forschungen über Soziale Arbeit zeigen, dass Berater:innen durch ihr Handeln Wirkungen nicht direkt erzeugen, sondern sie nur ermöglichen. Es sind die Adressat:innen selbst, die die subjektiven Veränderungen herstellen. Aber durch den gemeinsamen Beratungsprozess werden diese Veränderungen bei den Adressat:innen wahrscheinlicher (vgl. Clark/Dollinger/Heppchen 2023, S. 7).
Die Ergebnisse der Analyse zeigen zudem, dass Distanzierungsprozesse, die zu weltanschaulichen Veränderungen und Identitätsalternativen führen, viel Zeit in Anspruch nehmen. Sie setzen auf intensive biografische Auseinandersetzungen und beharrliche Irritation ideologisierter, rigider Überzeugungen. Das Ziel ist eine nachhaltige Stabilisierung und Veränderung. „Ausstiege […] als Umstiege“ (Möller et al. 2024, S. 462) zu begreifen, beinhaltet, funktionale Alternativen für bisherige Bedürfnisbefriedigung in der Ideologie und Szene zu erkennen und zu etablieren. In dem meist langwierigen subjektiven Suchprozess nach Alternativen gilt es auch, Phasen des Stillstands und der Rückschritte auszuhalten.
Wirkmodell der direkten Distanzierungsberatung
In der Wirkungsanalyse hat das DJI ein kohärentes Wirkmodell entwickelt:
Das Modell berücksichtigt die Komplexität der Distanzierungsprozesse.
Das Modell beschreibt Wirkzusammenhänge, indem Outcomes und Mechanismen kontextsensibel ins Verhältnis gesetzt werden.
Das Modell trennt analytisch fünf Wirkzusammenhänge, die in der Praxis eng miteinander verflochten sind.
In Betrachtungen von Distanzierungsprozessen ist es wichtig, verschiedene Ebenen zu berücksichtigen und sie im Zusammenhang zu sehen: Besonders grundlegend für die Ermöglichung von weiteren Wirkungen ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beratungsbeziehung (Kanitz/Guta Harry 2024; Figlestahler/Schau 2023). Im hier verwendeten Modell ist sie die Basis für identitätsbezogene, religiös-ideologische, soziale und lebenspraktische Veränderungen. Die vier letzteren Veränderungsprozesse folgen keinem festen Ablauf und Berater:innen wechseln im Prozess oft zwischen den Ebenen. Wenn sie z. B. in religiös-ideologischen Auseinandersetzungen nicht weiterkommen, kann der Wechsel zu Identitätsfragen und persönlichen Werten helfen.
Fünf analytische Ebenen
Im Folgenden sollen alle fünf Wirkebenen beschrieben werden. Sie werden unterschiedlich detailliert dargestellt. Dabei liegt der Fokus auf identitätsbezogenen und ideologisch religiösen Zusammenhängen. Die anderen Ebenen werden kürzer beschrieben. Die Fokussierung hier ist pragmatisch und nicht als Priorisierung gedacht. Weitere Details finden sich im ausführlichen Bericht (Figlestahler/Schau 2023).
Der erste Wirkzusammenhang zielt darauf ab, eine vertrauensvolle und belastbare Beratungsbeziehung aufzubauen: Die Adressat:innen sollen Bereitschaft entwickeln, sich mit den Berater:innen auf die oft unangenehmen Auseinandersetzungen einzulassen. Die Berater:innen können dies unterstützen, indem sie die Beziehung wertschätzend und adressat:innenorientiert gestalten. Die Analyse zeigte, wie schwierig es ist, am Anfang Vertrauen zu den Berater:innen aufzubauen, insbesondere wenn die Beratung von außen angeregt wurde und nicht aus eigener Initiative erfolgte. Ein Adressat provozierte anfangs häufig vor allem die weibliche Beraterin und erkannte sie erst nach Monaten des beharrlichen Gesprächsangebots als Gesprächspartnerin an.
Der zweite Wirkzusammenhang bezieht sich auf identitätsbezogene Veränderungen. Das Ziel besteht darin, die Bedürfnisse und Funktionen zu erkennen, die zur Hinwendung zu islamistischen Szenen und Ideologien führten und alternative Selbstkonzepte für die Zukunft zu entwickeln. Dafür ist es notwendig, dass die Adressat:innen ihre Emotionen und Bedürfnisse reflektieren und sprachlich ausdrücken können. Für die Zukunft können dadurch alternative Quellen der Bedürfnisbefriedigung gesucht und neue Selbsterzählungen entwickelt werden. Die Berater:innen können diese Entwicklung unterstützen, indem sie eine gewisse Selbstkritik bei den Adressat:innen fördern und kontinuierlich an der identitätsbezogenen Stimmigkeit arbeiten. Sie vermeiden Handlungen, die als demütigend wahrgenommen werden können, und verkörpern die Haltung, dass Adressat:innen in Zukunft andere Handlungsmöglichkeiten haben. Unbeabsichtigt wäre, wenn destruktive Schuldgefühle und emotionale Krisen im Beratungsprozess dauerhaft anhalten und nicht hinreichend bewältigt werden können.
In der Analyse des DJI zeigte sich zu Beginn der Beratung meist ein sehr verengtes Selbstbild bei den Adressat:innen, das sich an starren religiösen Vorgaben ausrichtete, und deren starke Neigung, aus Regelkonformität Selbstwert zu ziehen. Im Laufe der Beratung erkannte z. B. ein Adressat, dass seine Hinwendung in die Szene keine notwendige Korrektur seiner kleinkriminellen Karriere darstellte, sondern ein Fehler war. Ein anderer Adressat erkannte in seinem früheren Handeln ein Muster: Seine frühere Regelkonformität diente vor allem der Selbstbeherrschung und reduzierte seine „cholerischen Impulse“. Im Laufe der Beratung konnte er die äußerst rigide Regelorientierung aufgeben.
Die religiös-ideologische Distanzierung ist der dritte Wirkzusammenhang der direkten Distanzierungsberatung. Die Auseinandersetzung mit religiös aufgeladenen Ideologiefragmenten zielt darauf ab, dass sich die Adressat:innen allmählich von pauschal abwertenden Einstellungen distanzieren und vehemente Opfernarrative als Muslim:innen in Deutschland hinterfragen. Sie sollen die religiös plurale, „westliche“ Gesellschaft stärker akzeptieren. Dazu gehört, anzuerkennen, dass es innerhalb eines religiösen Spektrums verschiedene legitime Positionen und Praktiken gibt. Diese sollen ohne Abwertung nebeneinander stehen können. Kritisch-zugewandtes Auftreten der Berater:innen macht diese Veränderungen wahrscheinlicher. Die Berater:innen verbinden dafür persönliche Zuwendung mit inhaltlichen Abgrenzungen. Auf diese Weise wird für die Adressat:innen die Differenz und damit religiöse und politische Pluralität innerhalb der Beratungsbeziehung erlebbar. In der religiös-ideologischen Auseinandersetzung ist ein fragendes Vorgehen der Berater:innen wichtig, um Widersprüche in den bisherigen Weltanschauungen Selbstwert erhaltend zu erarbeiten. Religionsbezogene Gespräche sollten prinzipiell nicht zu konfrontativ werden. Sonst besteht die Gefahr, dass sich die Adressat:innen aufgrund des Rechtfertigungsdrucks zurückziehen oder ideologisch dazulernen.
In der DJI-Analyse zeigte sich, dass die Adressat:innen im Laufe der Beratung mehr religiöse Vielfalt zulassen konnten. Ein zuvor stark ideologisierter Adressat sagte rückblickend, dass er die Abwertung von anderen Religionen nicht gewollt habe. Er entwickelte für sich eine moderatere religiöse Praxis und konnte zunehmend die individuelle Freiheit der religiösen Ausübung der anderen Muslim:innen und „Ungläubigen“ stärker respektieren. Zum Beratungsende duldete er Homosexualität unter Muslim:innen, auch wenn er weiter skeptisch war, ob dies eine islamkompatible Lebensführung sei. Ein konvertierter Adressat wendete sich im Laufe der Beratung eigenmotiviert vom Islam ab. Weltanschaulich sei er zum Zeitpunkt des Interviews noch immer auf der „Suche nach der Wahrheit“ und die Berater:innen arbeiteten weiter daran, quellenkritisch mit (politischen) Informationen umzugehen.
Der vierte Wirkzusammenhang konzentriert sich auf die soziale Distanzierung. Ziel ist, dass sich die Adressat:innen aus islamistischen Szenen herauslösen und z. B. von entsprechenden Predigern, Anhänger:innen und Chatgruppen fernhalten. Sie sollen neue soziale Kontakte jenseits islamistischer Strukturen finden. Berater:innen können diesen Prozess unterstützen, indem sie z. B. bei den Grenzziehungen helfen, während die Adressat:innen in ihren Entscheidungen und Geschwindigkeiten möglichst autonom bleiben. In einem untersuchten Fall stand der Adressat zu Beginn der Beratung mit einem salafistischen Prediger in engem persönlichem Kontakt. Nach einiger Zeit war der junge Mann stark von dem Prediger enttäuscht. Die Berater:innen begleiteten ihn dabei, den Vertrauensverlust emotional zu verarbeiten und die Beziehung kritisch zu reflektieren. Mit ihrer Hilfe entfolgte er schließlich dem Prediger in den sozialen Medien und vertiefte Freundschaften in seinem realen Umfeld. Ein anderer Adressat erhielt Unterstützung dabei, die sicherheitsbehördlichen Auflagen umzusetzen, den Kontakt zu salafistischen „Brüdern“ endgültig im Alltag abzubrechen.
Der fünfte Wirkzusammenhang stellt auf die lebenspraktische Stabilisierung und eigenständige Alltagsbewältigung ab. Was dies im Einzelnen umfasst, ist sehr fallspezifisch und reicht von der Unterstützung beim Erwerb von Abschlüssen über die Reintegration in die Familie nach einem Haftaufenthalt bis zum Ablegen des Gefährderstatus. Um diese zu erreichen, halten die Berater:innen die Selbstständigkeit der Adressat:innen möglichst aufrecht und ermuntern sie zu neuen Schritten. In einem Fall half die Beratungsstelle half einem islamistischen Gefährder, den Gefährderstatus mit juristischen Mitteln abzulegen und seine berufliche Ausbildung abzuschließen.
Die genannten Ziele zeigen, dass die Prozesse der direkten Distanzierungsberatung nicht völlig ergebnisoffen sind. Die Berater:innen haben notwendigerweise auch den gesellschaftlichen Auftrag, die subjektive Distanzierung von extremistischen Ideologien und Szenen anzuregen und zu stabilisieren. Diese Zielsetzung kommunizieren die Berater:innen in der Regel am Anfang transparent und versuchen in Fällen, wo die Adressat:innen zunächst keine intrinsische Motivation für die Distanzierung haben, die notwendige Veränderungsmotivation im Laufe der Beratung herzustellen. Das gelingt besonders gut durch folgende drei Vorgehensweisen: Die Berater:innen respektieren weitgehend das Tempo der Adressat:innen, sie sprechen Widerstände offen an und sichern in der Beratung Vertraulichkeit zu. Gleichzeitig vertrauen sie darauf, dass der Beratungsprozess zu einem guten Ergebnis führt – auch wenn der Grad der Distanzierung nicht im Vorfeld feststeht und die Art des Distanzaufbaus subjektiv sehr verschieden sein kann.
Geringe methodische Differenzen in Analyse
In der Wirkungsanalyse konzentrierte sich die Analyse auf Angebote der direkten Distanzierungsberatung. Untersucht wurden Träger mit weitgehend ähnlichen Beratungsansätzen. Ihre gemeinsame Klammer war die systemische Beratung, unterschiedlich hingegen die religiöse und theologische Expertise der Berater:innen. Die folgende Grafik zeigt die Kompetenzen und Rahmenbedingungen in den jeweiligen Beratungsteams.
Die religiösen und theologischen Expertisen beeinflussten die Arbeit mit den Adressat:innen. Einige Berater:innen nutzten bei der Beratung die religiösen Interessen der Adressat:innen als Ansatzpunkt und bearbeiteten vermehrt theologische Fragen. Ein Berater, der auch Imam ist, konnte beispielsweise mit einem Geflüchteten tiefgehender über theologische Themen im Kontext deutscher Migrationsgesellschaft sprechen. Gleichzeitig betonte er auch, dass er den Adressaten nicht in eine unnötige religiöse Rechtfertigung drängen wollte. Die Unterschiede zwischen systemischen und stärker religiös orientierten Beratungsprozessen sind daher in der vorliegenden Analyse gering. Dies liegt auch daran, dass die Auseinandersetzung mit subjektiver Religiosität und Religionsfreiheit im demokratisch-westlichen Kontext auch in den systemischen Ansätzen eine Rolle spielte. So ergänzte eine säkulare Beratungsstelle ihre Arbeit durch einen begleiteten Besuch bei einem ausgewählten Imam. Auf diese Weise wurden theologische Debatten angeregt, aber nicht zum zentralen Teil der Distanzierungsberatung.
Fazit
Die Ergebnisse zeigen, dass die direkte Distanzierungsberatung grundsätzlich wirksam ist. Die Vorgehensweisen der Berater:innen sind geeignet, um angestrebte Veränderungen bei den Adressat:innen zu ermöglichen. Der Vergleich unterschiedlicher Fallgeschichten verdeutlicht die Vielfalt der subjektiven Veränderungen im Distanzierungsprozess. Diese hängen von biografischen Erfahrungen und individuellen Bedürfnissen ab, die durch die Hinwendung in islamistische Kontexte erfüllt werden (z. B. Orientierung, Sinn, Gemeinschaft oder Schutz vor Unsicherheit). Für diese Bedürfnisse braucht es im Distanzierungsprozess subjektiv passende funktionale Äquivalente. Gleichzeitig hängen subjektive Veränderungen auch von der Entwicklungsphase der Adressat:innen ab: Ein junger Adressat veränderte sich beispielsweise stark und plötzlich im Vergleich zu anderen Fällen. Dies erklärt sich durch sein junges Alter und die typische Orientierungssuche in der Adoleszenzphase. Die kontinuierliche Beratung ermöglichte es ihm, biografische Brüche und die plötzliche Distanzierung besser in eine umfassende Sinnsuche zu integrieren. Er lernte durch die Berater:innen auch, seine sozialen Bedürfnisse abseits von radikalen Online-Kontakten auszuleben und belastbare Peer-Kontakte im Alltag aufzubauen.
Wirksame Beratungsarbeit ist komplex und anspruchsvoll: Wichtig ist, dass die Berater:innen widersprüchliche Bezüge in der Vergangenheit und Gegenwart nicht auf simplifizierende Weise harmonisieren. Stattdessen fördern beharrliche, verstehensorientierte Fragen auch zu Unstimmigkeiten eine intensivere Auseinandersetzung. Sie ermöglichen über die Zeit die gewünschten selbstkritischen Neujustierungen. Die Analyse zeigt auch, dass schnelle Erfolge in der direkten Distanzierungsberatung weitgehend unrealistisch sind. Es braucht in der Praxis und Politik die Geduld für langwierige und teils nicht lineare Beratungsprozesse. Die Beratungspraxis sollte gezielt Reflexionsräume nutzen und am Einzelfall in Phasen mit Rückschritten, aber auch bei starken positiven Brüchen eigene haltungsbasierte Handlungen reflektieren. Nützlich dabei sind Auseinandersetzungen mit Grenzen der eigenen Haltungen sowie mit den eigenen Veränderungsansprüchen. Die hier skizzierten Fälle zeigen deutlich, dass insbesondere die Akzeptanz von Homosexualität in religiösen Kontexten oft eine Herausforderung bleibt.
Für die Forschung sind größer angelegte Wirkungsanalysen wünschenswert. Diese sollten die Beratungsprozesse als Zusammenspiel von Berater:innen und Adressat:innen untersuchen und kontextsensibel unterschiedliche Beratungsansätze systematisieren. Aus der Analyse der Adressat:innen-Interviews im Bereich Rechtsextremismus ist bekannt, dass vor allem die Haltung der Berater:innen ermöglicht, dass die Adressat:innen sich einlassen und selbstkritisch hinterfragen. Besonderes Augenmerk – das macht dieser Text deutlich – erfordert außerdem der Zugang zu Adressat:innen. Deren Perspektiven machen möglich, die Beratungsbeziehungen und Beratungsimpulse stärker mit Blick auf deren Wahrnehmungen und Aneignungen zu analysieren. Dies ist entscheidend für die Identifikation von Wirkfaktoren.