Redaktion Infodienst: Sie sind seit mehreren Jahren als Leiterin der Modulreihe „Wie gehen wir mit Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus um?” des Vereins Muslimische Jugendcommunity Osnabrücker Land (MUJOS e. V.) tätig und leisten dort Antisemitismusprävention und Anti-Rassismus-Empowerment mit muslimischen Jugendlichen. Warum wurde dieses Projekt ins Leben gerufen?
Dua Zeitun: Antisemitismus ist ein Phänomen mit langer Geschichte in Deutschland. Innerhalb der muslimischen Community wird Antisemitismus allerdings oft nicht klar abgegrenzt: Was ist Antisemitismus, was ist Israelkritik und welche Inhalte kann ich kritisch äußern? Je nach Herkunft und Sozialisierung ist man in unterschiedlichem Maße geprägt von antisemitischen Haltungen oder Aussagen. Deswegen ist es wichtig, mit Jugendlichen zu diskutieren, wie sich Antisemitismus eigentlich äußert.
In diesem Zusammenhang spielt antimuslimischer Rassismus eine zentrale Rolle. Denn wer als Minderheit antimuslimischen Rassismus erfahren hat, kann sich womöglich leichter mit Betroffenen von anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, etwa dem Antisemitismus, solidarisieren. Jugendliche fühlen sich in ihren Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus aber oft nicht gehört und verstanden. Sie neigen dann dazu zu vergleichen und zu fragen: „Warum geht es immer nur um Antisemitismus, was ist mit uns?“. Deswegen ist es wichtig, diese zwei Phänomene zusammenzubringen und sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede herauszuarbeiten.
Redaktion Infodienst: In welchem Rahmen finden diese Module statt und wie erreichen Sie Ihre Zielgruppe?
Dua Zeitun: Das Projekt wird vom Landespräventionsrat Niedersachsen und dem Landes-Demokratiezentrum Niedersachsen im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!” gefördert und ist grundsätzlich immer auf ein Jahr begrenzt. Pro Jahr bieten wir vier bis fünf Module zu verschiedenen Themenschwerpunkten im Kontext der Antisemitismusprävention und des Antirassismus-Empowerments an. Unser Angebot richtet sich an muslimisch gelesene Schüler:innen und Student:innen. Aber nicht alle Jugendlichen nehmen wegen des Themas Antisemitismus teil. Für viele bietet das die Möglichkeit, sich außerhalb des Elternhauses zu treffen, neue Kontakte zu knüpfen und sich freier auszudrücken – anders als in der Schule, zu Hause oder in der Moschee. Diese soziale Komponente ist eine große Motivation.
Die zweitägigen Module sind auch keine klassischen Vorträge. Es handelt sich um außerschulische Bildungsarbeit, bei der die Jugendlichen die Möglichkeit haben, selbst aktiv zu werden, Themen zu erarbeiten und zu diskutieren. Wir wollen nicht nur ein Wochenende lang sensibilisieren und die Jugendlichen dann wieder nach Hause schicken, sondern eine Reihe von Modulen anbieten, die aufeinander aufbauen und so eine tiefe und nachhaltige Auseinandersetzung ermöglichen. Dafür laden wir auch Expert:innen ein, die muslimisch gelesen sind. Das ist wichtig, um Abwehrreaktionen seitens der Jugendlichen zu vermeiden. Das Besondere daran ist, dass in diesem Format ihre eigenen Gedanken und Ideen erwünscht sind, was in der Schule oft nicht der Fall ist. Für die Präventionsarbeit ist es wichtig, dass es Räume gibt, in denen Jugendliche auch mal kritische oder kontroverse Aussagen treffen können, ohne dafür direkt mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Dadurch entstehen Diskussionen und wir versuchen, sie in den richtigen Kontext zu setzen. Natürlich gibt es auch Aussagen, bei denen ich darauf hinweisen muss, dass sie strafrechtlich relevant sein könnten. Doch insgesamt versuchen wir, einen breiten Toleranzrahmen zu bieten, um einen Dialog zu ermöglichen. Es geht darum, die Jugendlichen zu erreichen.
Redaktion Infodienst: Welche prägenden Erfahrungen haben Sie bei Ihrer Arbeit mit den Jugendlichen gesammelt?
Dua Zeitun: Das erste Jahr der Umsetzung der Seminare war sehr spannend, sowohl für uns Mitwirkende als auch für die Jugendlichen. Schon bei der Definition von Begriffen wurde klar, dass es eine Abgrenzung zu Stammtischparolen braucht. Die Jugendlichen wiederholen Stereotype, die sie auch bei Demonstrationen hören, etwa den Begriff „Kindermörder Israel“. Doch der antisemitische Hintergrund war ihnen nicht klar. Der Nahostkonflikt ist immer ein zentrales Thema. Besonders die Auseinandersetzung mit Israel als Staat und die israelische Regierung sind Themen, die die Jugendlichen immer wieder von sich aus einbringen. Sie betonen häufig: „Wir haben nichts gegen Juden, aber das, was in Palästina passiert, ist ungerecht!“ Sie versuchen also, zwischen ihrer Haltung und Antisemitismus zu differenzieren – trotzdem tappen sie immer wieder in die Falle und reproduzieren antisemitische Stereotype. Sie müssen lernen, Begrifflichkeiten richtig einzuordnen. Besonders gilt das für die Jugendlichen, die im arabischen Raum, etwa in Syrien, sozialisiert wurden, wo offen vorgetragene antisemitische Stereotype seit Jahrzehnten zur politischen Diskurskultur gehören. Bestimmte Sprachmuster werden einfach unreflektiert übernommen, sei es durch das Elternhaus oder den Medienkonsum.
Redaktion Infodienst: Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus werden häufig als zwei voneinander verschiedene Phänomene ohne Schnittmengen betrachtet – im schlimmsten Fall auch gegeneinander ausgespielt. Sie sehen dort aber einen grundlegenden Zusammenhang. Können Sie diesen genauer erklären?
Dua Zeitun: Zwischen Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus gibt es viele Parallelen. Beide Phänomene betreffen Minderheiten, die mit Vorurteilen und Vorverurteilung konfrontiert sind. In den Seminaren merken wir das sehr schnell, sobald wir die Jugendlichen fragen, wieso und worunter Jüd:innen leiden. Und dann realisieren sie: Diese Probleme haben wir auch, egal ob Kopftuch oder Kippa. Hier wird es interessant, denn Antisemitismusprävention beginnt, wenn man nach Gemeinsamkeiten statt Unterschieden sucht. Anschließend gehen wir einen Schritt weiter und fragen: Wie können wir an einem Strang ziehen und gegen Diskriminierung vorgehen – sei es Antisemitismus oder antimuslimischer Rassismus.
Redaktion Infodienst: Was ist Ihrer Meinung nach wichtig für das Gelingen der Antisemitismusprävention bei muslimischen Zielgruppen? Gibt es spezielle Bedürfnisse und wenn ja, wie sehen diese aus?
Dua Zeitun: Antisemitismusprävention mit dieser Zielgruppe muss immer auch antimuslimischen Rassismus berücksichtigen. Wenn wir uns nur auf Antisemitismus fokussieren, entsteht schnell das Gefühl der „Opferkonkurrenz“. Es ist entscheidend, dass alle betroffenen Gruppen gehört werden und ihre Perspektiven einbringen können. Wir arbeiten auch mit Jugendlichen mit palästinensischen Wurzeln, von denen ich aufgrund ihrer familiären Vertreibungserfahrungen nicht erwarten kann, dass sie neutral über Israel sprechen. Solche Jugendlichen, gerade jene mit Fluchtbiografie, haben oft das Gefühl, keine Identität oder Zugehörigkeit zu besitzen, was ihre Sichtweise beeinflusst. Es ist es wichtig, ihnen Raum für ihre Geschichte zu geben und sie in ihren Erfahrungen ernst zu nehmen.
Redaktion Infodienst: Welche Formate der Bildungs- und Begegnungsarbeit finden muslimische Jugendliche Ihrer Erfahrung nach besonders attraktiv?
Dua Zeitun: Gefragt sind häufig Freizeitbeschäftigungen, wie etwa gemeinsame jüdisch-muslimische Freizeitgruppen. Und auch das gehört zur Präventionsarbeit. Denn gemeinsame Begegnung auf niedrigschwelliger Ebene schafft Vertrauen und bietet die Voraussetzung, auch über konfliktbeladene Themen miteinander in den Dialog zu treten, wie etwa den Nahostkonflikt. Deswegen organisieren wir verschiedene Treffen und Dialogveranstaltungen zwischen muslimischen und jüdischen Jugendlichen, etwa Grillen oder Sport. Natürlich gibt es dabei auch Reibung, dennoch äußern viele der Jugendlichen auch den Wunsch, solche Aktivitäten zu wiederholen. Diese Erfahrungen zeigen, wie wichtig Dialog ist. Nur durch offene Kommunikation und respektvolles Miteinander können wir Missverständnisse überwinden und echte Freundschaften entstehen lassen.
Redaktion Infodienst: Hat Ihr Projekt auch einen Bezug zur Islamismusprävention? Können Sie dazu vielleicht Erfahrungen aus Ihrer pädagogischen Arbeit teilen?
Dua Zeitun: Auch wenn Antisemitismus und Islamismus stark miteinander zusammenhängen, wollten wir bewusst anders an die Jugendlichen herangehen, da beim Thema Islamismusprävention oft Abwehrreaktionen zu beobachten sind: „Sind wir Islamist:innen, nur weil wir Muslim:innen sind? Warum werden wir immer überwacht?”. Islamismusprävention, egal ob direkt oder indirekt, erfordert viel Sensibilität, um Stigmatisierungen zu vermeiden. Wenn Jugendliche antisemitische Aussagen treffen oder Feindbilder reproduzieren, die auch eine islamistische Haltung widerspiegeln, etwa Aussagen wie “Israel muss bekämpft werden”, fangen wir das natürlich auf. Das heißt, wir betreiben Islamismusprävention, betiteln unsere Arbeit aber nicht explizit als solche.
Redaktion Infodienst: Haben Sie im Rahmen der Modulreihe erlebt, dass Jugendliche islamistische Aussagen getätigt oder islamistische Prediger zitiert haben?
Dua Zeitun: Ja, natürlich. Es ist erschreckend, wie viele Jugendliche sich nicht bewusst sind, dass einige der Personen, denen sie auf Social Media begegnen und deren Inhalte sie teilen, islamistisch sind. Oft wird die islamistische Gesinnung von den Predigern aber nicht offen kommuniziert. Die Förderung von Medienkompetenz ist hier das Stichwort. Auch hierum bemühen wir uns im Rahmen der Modulreihe.
Redaktion Infodienst: In der medialen und politischen Debatte ist häufig die Rede von einem „importierten Antisemitismus”, also einem Antisemitismus, den vor allem migrantische und muslimische Personen angeblich von außen nach Deutschland einbrächten. Wie erleben muslimische Jugendliche, mit denen Sie täglich arbeiten, derartige Debatten? Greifen Sie diese auch im Rahmen des Projekts auf?
Dua Zeitun: Die Jugendlichen bekommen derartige Debatten natürlich mit und die meisten sind darüber empört, als Antisemit:innen vorverurteilt zu werden. Das wiederum verstärkt ihr Gefühl, sich nicht frei äußern zu können. Besonders im Zuge des Nahostkonflikts fühlen sich muslimische Jugendliche über den Mund gefahren. „Sobald ich etwas über Gaza sage oder Netanjahu kritisiere, bin ich ein Antisemit”, hören wir dann oft. Sie sind verunsichert.
Redaktion Infodienst:Vor welchen Hindernissen und Herausforderungen steht die Antisemitismusprävention und die Prävention von antimuslimischem Rassismus mit muslimischen Jugendlichen Ihrer Meinung nach derzeit?
Dua Zeitun: Wir erleben eine große gesellschaftliche Krise. Wir sehen gleichermaßen antimuslimische, antisemitische und islamistische wie auch rechtspopulistische Tendenzen, die den gesellschaftlichen Diskurs vergiften. Viele Jugendliche reagieren auf diese Situation mit Aussagen wie: „Es bringt alles nichts mehr, alle sind gegen uns – wir sollten auswandern.“ Das zeigt: Sie fühlen sich nicht repräsentiert. Diese Entwicklungen empfinde ich als große Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt, da das Verständnis von Demokratie und politischer Partizipation bei vielen jungen Muslim:innen verloren gehen könnte.
Redaktion Infodienst: Wie könnte diese Schwierigkeit in Zukunft überwunden werden?
Dua Zeitun: Was einen wirklichen Unterschied macht, ist die Unterstützung von offizieller Seite beziehungsweise von Personenkreisen, die als Repräsentant:innen des Landes gesehen werden. Wenn etwa in einem meiner Workshops ein Beamter vom Staatsschutz als Referent eingeladen ist und in ehrlich empathischer Weise zu besorgten Jugendlichen sagt: „Ich sehe euch und ich verstehe eure Sorgen.“ Es braucht daher die Unterstützung weiterer Institutionen, die Rückhalt signalisieren. Aus diesem Grund versuchen wir, mehr Vertreter:innen aus Behörden als Referierende für unsere Module zu gewinnen.
Redaktion Infodienst: Wie wird es mit dem Projekt dieses Jahr weitergehen? Sehen Sie besondere Themen oder Herausforderungen?
Dua Zeitun: Das Projekt wird auch in diesem Jahr weitergehen. Insbesondere möchten wir einen Fokus auf das Argumentationstraining mit den Jugendlichen legen. Dabei versuchen wir ihnen zu vermitteln, dass eine emotional aufgeladene Diskussion selten produktiv ist. Wenn sie lernen, ihre Stimme und individuelle Einflussmöglichkeiten wahrzunehmen und in sachlicher und demokratisch engagierter Weise für sich und ihre Interessen einzutreten, haben wir viel erreicht.
Redaktion Infodienst: Wir bedanken uns für das Gespräch.