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Psychologische Unterstützung in der Distanzierungsarbeit

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Oftmals nehmen Berater:innen im Bereich des islamistischen Extremismus psychische Auffälligkeiten bei ihren Klient:innen wahr. Dies können beispielsweise Aussagen, Handlungen oder subtile Veränderungen sein. Mitunter berichten Klient:innen auch von sich aus über psychischen Leidensdruck. Um Fachkräfte und Betroffene in solchen Fällen zu unterstützen, hat das Projekt EVOLUO in den Jahren 2023 und 2024 fallbegleitende Beratungen sowie eine Fortbildung angeboten. Was sich genau hinter dem Projekt der Träger Violence Prevention Network gGmbH und IFAK e. V. verbirgt, berichten Lina Hartmann und Stefan Vieres im Interview mit dem Infodienst Radikalisierungsprävention.

Psychische Störungen können den Beratungsprozess erheblich beeinflussen.
Psychische Störungen können den Beratungsprozess erheblich beeinflussen. (© GrAl, Shutterstock)

Redaktion Infodienst: Wie ist das Projekt EVOLUO entstanden? Welches Ziel habt Ihr mit dem Projekt verfolgt und wer war daran beteiligt?

Stefan Vieres: Klient:innen mit psychischen Auffälligkeiten und Störungen sind immer wieder ein Thema in der Extremismusprävention. Fachberater:innen berichten oft, dass dies den Beratungsprozess erschwert. Die Träger IFAK e. V. und Violence Prevention Network gGmbH haben diese Tatsache schon vor einiger Zeit erkannt und mit dem Projekt EVOLUO entsprechend reagiert. Von Anfang an war das Ziel, den tatsächlichen Bedarfen der Praktiker:innen gerecht zu werden. Aus diesem Grund haben wir als allererstes eine Bedarfsanalyse durchgeführt. Die Ergebnisse waren die Grundlage für die detailliertere Konzeption von EVOLUO. Unsere Zielgruppe waren in erster Linie Distanzierungsberater:innen im Bereich des islamistischen Extremismus. Konkret haben wir Praktiker:innen für psychische Auffälligkeiten und Störungen sensibilisiert, ihre Handlungssicherheit gestärkt und die Vernetzung mit den Gesundheits- und Heilberufen gefördert. Wir verstehen uns auch weiterhin als Schnittstelle zwischen diesen Berufsgruppen.

Lina Hartmann: Daran schließt auch der Projektname an. „Evoluo“ ist ein Wort aus der Plansprache Esperanto und bedeutet „Weiterentwicklung“. So wie Esperanto der Versuch einer gemeinsamen neutralen Sprache ist, versuchen auch wir weiterhin eine gemeinsame Sprache zwischen Beratungsstellen und Fachkräften der Gesundheits- und Heilberufe zu fördern.

Das Projekt wurde von Hannah Strauß und Alexander Gesing geleitet. Die wissenschaftliche Begleitung übernahm die Forschungsstelle Deradikalisierung (FORA) unter der Leitung von Dr. Vera Dittmar. Insgesamt bestand unser Team aus zwölf Mitarbeitenden mit verschiedenen beruflichen Hintergründen, unterschiedlichen Aufgaben sowie Stundenanteilen. Gefördert wurde EVOLUO von Oktober 2022 bis Ende 2024 von der Beratungsstelle „Radikalisierung“ im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Aufgrund der angespannten Haushaltssituation wird uns das BAMF in diesem Jahr nicht mehr fördern.

Stefan Vieres: Wir arbeiten jedoch mit Hochdruck daran, alternative Finanzierungsmöglichkeiten zu finden. Der Bedarf nach unseren Angeboten ist nach wie vor hoch – das zeigen auch die zahlreichen Voranmeldungen für 2025. Unsere beiden Träger arbeiten weiter zusammen und setzen sich intensiv dafür ein, Fachkräfte und Klient:innen auch zukünftig im Umgang mit psychischen Auffälligkeiten zu unterstützen.

Redaktion Infodienst: Welche Rolle spielen psychische Belastungen oder Störungen bei Radikalisierungsprozessen und wie wichtig ist es, dass Berater:innen diese richtig einschätzen können?

Lina Hartmann: Es gibt viele Diskussionen über die Rolle von psychischen Belastungen und Störungen in Radikalisierungsprozessen. Aus meiner psychologisch geprägten Perspektive spielen psychische Belastungen bei nahezu allen Radikalisierungsverläufen eine Rolle. Das bedeutet jedoch nicht, dass auch psychische Störungen in diesem Maße präsent sind. Das muss klar getrennt werden.

Psychische Störungen können prinzipiell zu jedem Zeitpunkt, also vor, während und nach einer Radikalisierung beziehungsweise Distanzierung auftreten. Bereits bestehende oder entstehende psychische Störungen können gegebenenfalls die Anfälligkeit eines Individuums für die Ansprache von radikalen Gruppen erhöhen. Die Erforschung solcher Zusammenhänge ist jedoch sehr komplex und sollte mit Vorsicht betrachtet werden. Letztendlich kann daher auch keine genaue Aussage über die tatsächliche Häufigkeit von psychischen Störungen in diesem Kontext getroffen werden.

Mit Blick auf die Distanzierungsarbeit kann eine bestehende oder eine erst entstehende psychische Störung den Distanzierungsprozess erschweren oder zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenenfalls auch unmöglich machen. Zum Beispiel könnte ein:e Klient:in eine akute psychotische Phase durchleiden. In solchen Phasen ist vermutlich keine Distanzierungsarbeit möglich. Hier bedarf es zunächst einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Versorgung. Bei anderen Störungsbildern beziehungsweise weniger schwerwiegenden Symptomen kann es möglich sein, parallel mit der betroffenen Person an den Zielsetzungen der Beratung zu arbeiten.

Stefan Vieres: Ein weiterer zentraler Aspekt ist der Umgang des Umfelds der Klient:innen mit psychischen Belastungen und Störungen. Für Berater:innen kann es eine sinnvolle Strategie sein, die Arbeit mit dem sozialen Umfeld fortzuführen, selbst wenn die direkte Beratung von Klient:innen nicht möglich ist. Diese Arbeit kann den Prozess positiv beeinflussen und indirekt zur Stabilisierung der betroffenen Person beitragen. Zudem können auch Personen im Umfeld der Klient:innen so belastet sein, dass psychologische Unterstützung erforderlich ist.

Gerade im Hinblick auf mögliche psychische Störungen ist die Rolle von Berater:innen besonders wichtig. Sie sind oft sehr nah an ihren Klient:innen dran und zwischen ihnen besteht ein starkes Vertrauensverhältnis. Dadurch können Berater:innen Veränderungen eher wahrnehmen als andere Berufsgruppen. Zusätzlich dazu ist der Zugang zum Gesundheitssystem insbesondere für Klient:innen in unserem Themenfeld oft mit hohen Hürden verbunden. Berater:innen können eine entscheidende Funktion erfüllen, indem sie ihre Klient:innen beim Weg in die notwendige Versorgung unterstützen. Ein Weg, der sonst vielleicht nicht möglich wäre.

Etwas, was wir immer wieder betonen, ist: Psychotherapie ist keine Distanzierungsarbeit und Distanzierungsarbeit ist keine Psychotherapie. Es gibt Überschneidungen und beide haben Wirkfaktoren, die auch in der jeweils anderen Arbeit hilfreich sein können, aber die Zielsetzungen sind unterschiedlich. Diese Komplexität muss mitgedacht werden.

Redaktion Infodienst: EVOLUO basierte auf unterschiedlichen Säulen und wurde zudem wissenschaftlich begleitet. Könntet Ihr den Aufbau des Projekts kurz skizzieren?

Lina Hartmann: Den Schwerpunkt unseres Projektes bildeten zwei Säulen. Die erste Säule war das Fortbildungsangebot von EVOLUO. In fünf Modulen, die jeweils zwei Tage dauerten, haben wir Wissen über psychische Belastungen und Störungen sowie das Gesundheitssystem vermittelt. Gemeinsam mit unseren Teilnehmer:innen erarbeiteten wir verschiedene Handlungsansätze im Umgang mit radikalisierten Personen, bei denen psychische Auffälligkeiten beobachtet werden oder Diagnosen von psychischen Störungen im Raum stehen. Die Module wurden durch digitale kollegialen Fallberatungen begleitet. Hier konnten die Teilnehmer:innen eigene Fälle mit Psycholog:innen und Therapeut:innen des Projektes, den EVOLUO-Fachberater:innen, besprechen. Die zweite Säule umfasste die fallbegleitenden Beratungen. Dieses Angebot war offen für alle Berater:innen und Klient:innen der Islamismusprävention. Auf die konkrete Ausgestaltung gehen wir später genauer ein.

Stefan Vieres: Außerdem war die wissenschaftliche Begleitung Teil des Projektes. Wir sind sehr stolz darauf, dass wir durch die Unterstützung der FORA eine umfangreiche interne Evaluation hatten. Diese haben wir genutzt, um zu sehen, wo wir kontinuierlich Verbesserungen vornehmen können. Außerdem gab es im Projekt die anwendungsorientierte Forschung. Dafür wurden Fragestellungen aus der Praxis aufgegriffen und bundesweit untersucht. Zum Beispiel gab es Gruppeninterviews mit Therapeut:innen sowie Berater:innen innerhalb unserer Fortbildung. Die Ergebnisse wurden anonymisiert und wissenschaftlich veröffentlicht. So konnte die gewonnene Expertise allen Interessierten zugänglich gemacht werden. Durch unsere Maßnahmen sehen wir uns auch als Teil der weiteren Professionalisierung des Arbeitsfelds an der Schnittstelle zwischen Berater:innen und der Regelversorgung.

Redaktion Infodienst: Euer Angebot richtete sich an Berater:innen, die bereits in der Islamismusprävention arbeiten. Warum besteht hier aus eurer Sicht ein Bedarf an psychologischen Fachkenntnissen? Hat sich dieser Bedarf erst jetzt entwickelt?

Stefan Vieres: Klient:innen im Kontext der Distanzierungsarbeit sind nahezu immer belastet und zeigen häufig psychische Auffälligkeiten. Auch traumatische Erfahrungen in der Biografie spielen oftmals eine Rolle und können sich auf die psychische Gesundheit auswirken. Wie bereits erwähnt, gibt es aber leider keine verlässlichen Zahlen zur Häufigkeit von psychischen Störungen in unserem Themenfeld. Was aber klar ist: In den letzten Jahren ist das Vorkommen psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung gestiegen und die Menschen, mit denen wir in der Extremismusprävention arbeiten, sind Teil dieser Gesellschaft. Zwar ist die Sensibilität für psychische Belastungen und Störungen gesamtgesellschaftlich gewachsen, die erhöhte Wahrnehmung führt jedoch nicht automatisch zu mehr Sicherheit im Umgang mit Betroffenen.

Auch in unserer Bedarfserhebung wurde sehr deutlich, dass in der Distanzierungsarbeit psychische Belastungen und Störungen immer wieder vorkommen. Die befragten Berater:innen haben klar geäußert, dass sie mehr Wissen und konkrete Handlungsoptionen brauchen, um besser mit der Thematik umgehen zu können. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass es besonders hilfreich ist, wenn sich Berater:innen weiterbilden, ihre Arbeit gemeinsam reflektieren und zusätzlich psychologisch sowie therapeutisch geschulte Fachkräfte fallbezogen zur Verfügung stehen.

Lina Hartmann: Diese Kombination sahen wir als wichtigen Schritt in der bereits erwähnten Professionalisierung der Distanzierungsarbeit. Ein weiterer Schritt war es, die Grenzen der eigenen Handlungskompetenz im Umgang mit psychischen Auffälligkeiten bis hin zu Störungen kenntlich zu machen. Dieser Punkt ist auch im Sinne der professionellen Selbstfürsorge wichtig. Klare Grenzen werden zum Beispiel in akuten Notfällen erreicht, wie beim Thema Suizidalität.

Stefan hat gerade die begrüßenswerte Sensibilisierung angesprochen. Leider hat sie manchmal den Nebeneffekt, dass Verhaltensweisen pathologisiert werden, obwohl keine psychische Störung vorliegt. Wir nehmen wahr, dass zum Beispiel psychische Störungen vermehrt auf Social Media besprochen und dadurch häufiger durch Klient:innen selbst oder durch Angehörige thematisiert werden. Wir selbst haben keine Diagnosen gestellt, aber bei einer fachlichen Einordnung unterstützt.

Redaktion Infodienst: Welche Voraussetzungen mussten Berater:innen für die Fortbildung beziehungsweise Teilnahme an euren Angeboten mitbringen?

Stefan Vieres: Die Fortbildung hat sich vorrangig an Berater:innen gerichtet, die in der Sekundär- und Tertiärprävention im islamistischen Extremismus tätig sind. Da wir die Inhalte gezielt auf die Bedürfnisse von Berater:innen abgestimmt haben, war die Tätigkeit in der praktischen Fallarbeit oder zumindest ein enger Kontakt damit ein wichtiges Kriterium. Der fachliche Austausch zwischen den Teilnehmer:innen war ein zentraler Bestandteil unseres Konzepts. Auch deshalb konnten Berater:innen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen und Ausbildungen an unserer Fortbildung teilnehmen. Sie war so aufgebaut, dass wir insbesondere in den ersten beiden Modulen umfangreiche Grundlagen sowie daran anschließend spezifisches Wissen vermittelten. Wenn die Teilnehmer:innen in den Modulen drei, vier und fünf einen ähnlichen Kenntnisstand hatten, sind wir in die praktische Anwendung des Wissens und der Kompetenzen gegangen. Die Teilnehmer:innen konnten sich dann selbst ausprobieren und Erfahrungen in Rollenspielen sowie verschiedenen Übungen sammeln.

Lina Hartmann: Die Übungen und der Austausch waren auch deshalb so produktiv, da die unterschiedlichen Berufserfahrungen, Arbeitsfelder und Hintergründe unserer Teilnehmer:innen zu unterschiedlichen Bewertungen von Situationen und eigener Handlungsmöglichkeiten führen konnten. Für die Teilnahme war es außerdem von Vorteil, wenn Berater:innen bei dem nicht unerheblichen Zeitaufwand der Fortbildung ausreichend Interesse und Motivation, aber auch Reflexionsbereitschaft, mitbrachten. Dabei mussten die Teilnehmer:innen manchmal auch aushalten, dass es keine klaren Antworten beziehungsweise kein standardisiertes, wissenschaftlich fundiertes Vorgehen gibt. Wir arbeiten in einem Bereich, der sehr stark von individuellen Fällen geprägt und noch relativ jung ist. Entsprechend gibt es auch in der wissenschaftlichen Forschung noch keine endgültig belastbaren Ergebnisse.

Redaktion Infodienst: Neben der Fortbildung für Berater:innen habt ihr auch fallbegleitende Beratungen angeboten. Was kann man sich darunter vorstellen? Wie habt ihr hier gearbeitet und gab es auch Herausforderungen?

Lina Hartmann: Als erstes ist es wichtig, dass unsere fallbegleitenden Beratungen ein unterstützendes Angebot waren. Das heißt, wir haben keine Fälle von Beratungsstellen übernommen, sondern begleitend in Kooperation mit der zuständigen Beratungsfachkraft gearbeitet. Konkret haben wir zum einen fallbegleitende psychologische Coachings für Berater:innen angeboten und zum anderen psychologisch-therapeutische Fachberatungen für Klient:innen, die bereits durch eine Beratungsstelle betreut werden.

Wenn uns eine Anfrage erreichte, gab es ein standardisiertes Vorgehen. Wir planten ein Erstgespräch, das in der Regel von zwei unserer EVOLUO-Fachberater:innen durchgeführt wurde. Danach schauten wir im Team, wer die jeweilige Fragestellung am besten bearbeiten kann. Wir haben individuell – entsprechend der Bedarfe – kurz oder auch längerfristig mit den anfragenden Personen zusammengearbeitet. Die psychologisch-therapeutische Fachberatung fand häufig in einem Einzelsetting mit der EVOLUO-Fachberater:in und dem:der Klient:in statt, wohingegen das Coaching meist von zwei EVOLUO-Fachberater:innen durchgeführt wurde.

Stefan Vieres: Beim fallbegleitenden psychologischen Coaching ging es in erster Linie darum, die Handlungssicherheit von Berater:innen zu stärken, wenn sie mit Klient:innen konfrontiert sind, die psychische Auffälligkeiten zeigen. Darüber hinaus unterstützten wir auch, wenn Fachkräfte feststellten, dass sie die emotional herausfordernde Arbeit selbst belastet. Für viele gehört die psychosoziale Beratung ihrer Klient:innen bereits zum Arbeitsalltag. An diesem Wissen konnten wir sehr gut anknüpfen.

In einem Coaching versuchten wir zum Beispiel, gemeinsam klare Ziele zu definieren, die Selbstwirksamkeit der Berater:innen zu fördern und damit ihre Handlungssicherheit zu steigern. Dazu haben wir beispielsweise Methodentrainings oder auch Psychoedukationen angeboten, also die Wissensvermittlung über möglicherweise relevante psychische Störungen und Therapiemöglichkeiten. Bei Bedarf wurde miteinander reflektiert, ob an der eigenen Erwartungshaltung etwas geändert werden kann. Ein weiterer wichtiger Punkt war der Umgang mit vermeintlichen oder tatsächlich gestellten Diagnosen, die aus unterschiedlichen Richtungen an die Berater:innen herangetragen werden. Diese Informationen können für erhebliche Unsicherheit sorgen. Gemeinsam mit Berater:innen ordneten wir in solchen Fällen erst einmal ein, woher die Information kommt und ob sie überhaupt noch aktuell oder relevant ist.

Lina Hartmann: In der psychologisch-therapeutischen Fachberatung arbeiteten wir direkt mit Klient:innen. Dabei sahen wir uns immer als Partner:innen der Beratungsstellen. Das bedeutet auch, dass wir keine direkte Distanzierungsarbeit geleitstet haben. Unsere Aufgabe bestand darin, den Beratungsprozess im Umgang mit psychischen Belastungen und Störungen zu unterstützen. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit war etwa die emotionale Stabilisierung der Klient:innen. Viele von ihnen haben traumatische Erlebnisse in ihrer Biografie. Die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit während der Distanzierungsarbeit kann intensive Reaktionen hervorrufen.

In unserem Team konnten wir Klient:innen mit verschiedenen traumasensiblen Ansätzen unterstützen. Unsere EVOLUO-Fachberater:innen nutzen zum Beispiel systemische, verhaltenstherapeutische sowie körperorientierte Techniken. Wir arbeiteten zudem mehrsprachig und kultursensibel. Darüber hinaus unterstützten wir die Vermittlung von Klient:innen in die Regelversorgung des Gesundheitswesens, wenn der Bedarf und die Bereitschaft dazu bestanden oder wenn frühere Versuche möglicherweise gescheitert sind.

Stefan Vieres: Eine von vielen Herausforderungen konnte sein, dass Klient:innen aufgrund der Stigmatisierung von psychischen Störungen und Therapien oder aufgrund anderer Befürchtungen nicht mit psychologischen Fachkräften sprechen wollten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass unser niedrigschwelliges Angebot maßgeblich von der Nähe zu den Beratungsstellen und damit vom Vertrauen zwischen Berater:innen und Klient:innen profitiert hat. Trotz bestehender Skepsis konnten auf dieser Grundlage Kennenlerntreffen vereinbart werden. Viele Klient:innen schätzten dann besonders die themenspezifische Expertise unserer EVOLUO-Fachberater:innen. Eine zentrale Erkenntnis unserer Arbeit ist es, dass psychische Auffälligkeiten häufig reduziert werden können, wenn psychische Belastungen durch gezielte Interventionen bearbeitet werden. Dadurch nehmen Klient:innen auch die Distanzierungsarbeit als sehr wirksam wahr.

Redaktion Infodienst: Wie sah die Abgrenzung eures Projekts zu den Regelstrukturen des Gesundheitssystems aus? Was hat eure Beratung ausgemacht?

Stefan Vieres: In unserem Team waren unterschiedliche therapeutische und psychologische Qualifikationen vertreten. Eine Therapie nach Kassenleistungen oder eine Diagnostik von psychischen Störungen haben wir nicht angeboten. Das Ziel einer Psychotherapie oder einer ärztlichen Behandlung ist es, eine psychische Störung beziehungsweise eine Erkrankung zu erkennen und zu heilen. Das ist Aufgabe der Gesundheits- und Heilberufe in den Regelstrukturen. Unsere Arbeit war diesen Angeboten vorgelagert und besonders niedrigschwellig.

Lina Hartmann: Wir halten es weiterhin für wichtig, dass zum einen der jeweilige Berufsstand im eigenen Handlungsfeld gestärkt und für Querschnittsthemen sensibilisiert wird. Zum anderen müssen die Grenzen der Handlungskompetenz klar benannt und die multiprofessionelle Zusammenarbeit gestärkt werden. Dabei kommen immer wieder Fragen auf, zum Beispiel: „Ist es sinnvoll, Psychotherapie und Beratung gleichzeitig oder eher zeitlich aufeinanderfolgend anzubieten?“.

Wir haben versucht, den Distanzierungsprozess insoweit zu unterstützen, dass der mögliche Leidensdruck für Berater:innen sowie für Klient:innen minimiert wird. Das bedeutete für uns, im Bedarfsfall mit externen Akteur:innen zu kooperieren, wie dem Projekt nexus – Psychotherapeutisch-Psychiatrisches Beratungsnetzwerk unter der Trägerschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Gleichzeitig unterstützten wir auch bei der Vermittlung in die Regelstrukturen.

Redaktion Infodienst: Gibt es schon erste Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts?

Lina Hartmann: Die gibt es. Schon in der Evaluation der FORA steckte viel Arbeit drin. So wurden wir kontinuierlich mit Anmerkungen und Wünschen der Teilnehmer:innen versorgt, die wir in den folgenden Modulen berücksichtigten. Wir freuen uns sehr, dass das gesamte Feedback überaus positiv war und die Inhalte als relevant für die praktische Arbeit empfunden wurden. Die Auswertungen zeigen, dass die Teilnehmer:innen nicht nur ihr Wissen erweitern konnten, sondern auch mehr Sicherheit in entsprechenden Fällen gewonnen haben. Ebenfalls wichtig zu erwähnen ist, dass die Teilnehmer:innen insbesondere den geschützten Raum schätzten. Die Möglichkeit, sich intensiv über die eigene Beratungsstelle hinaus auszutauschen, verschiedene Perspektiven einzuholen und die eigene Arbeit zu reflektieren, wurde als großer Mehrwert gesehen.

Stefan Vieres: Und dann gibt es noch die anwendungsorientierte Forschung. Hier können wir bereits von einigen Publikationen berichten, die wir allen Lesenden ans Herz legen möchten. Da gibt es zum einen die KN:IX-Analyse Nummer 11 zur Therapieablehnung und zu möglichen Lösungsansätzen für die Beratung. Besonders spannend finde ich die zahlreichen Ideen, wie man die Selbstbestimmung der Klient:innen respektieren und trotzdem den Mehrwert einer Therapie erklären kann. Außerdem gibt es im Podcast „KN:IX talks“ eine Folge mit Alexander Gesing und Dr. Vera Dittmar von EVOLUO. Unter dem Titel „Folge #18 | Psychische Gesundheit im Beratungskontext“ geben die beiden einen Einblick aus Praxis und Wissenschaft, worauf es in der Beratung von Klient:innen mit psychischen Auffälligkeiten bis hin zu Störungen ankommt.

Lina Hartmann: Nicht zu vergessen ist, dass im Frühjahr 2025 unser großer Sammelband mit dem Titel „Psychische Belastungen bei Klient:innen der Deradikalisierungsberatung. Herausforderungen für Beratung und Therapie“ bei Springer veröffentlicht wird. Darin kommen Autor:innen aus der Fachberatung, der Therapie, der Zivilgesellschaft, den Behörden und der Wissenschaft zu Wort. Auch wir beide haben Beiträge verfasst und freuen uns sehr, dass viele Erkenntnisse des Projektes für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. In seiner Gesamtheit verdeutlicht der Sammelband eindrücklich, wie groß der Bedarf nach den Angeboten von EVOLUO weiterhin ist. Auch deshalb wollen unsere Träger und wir als Team weiter zusammenarbeiten, um Fachkräfte und Klient:innen im Umgang mit psychischen Auffälligkeiten zu unterstützen.

Redaktion Infodienst: Wir bedanken uns für das Gespräch.

Fussnoten

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