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„Rückkehrer:innen radikalisierten sich meist in Gruppen" | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

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„Rückkehrer:innen radikalisierten sich meist in Gruppen" Ergebnisse einer Aktenanalyse deutscher Syrien-Rückkehrer:innen

Dr. Kirstin Weber

/ 11 Minuten zu lesen

In ihrer Dissertation hat die Kriminologin und Soziologin Dr. Kristin Weber 36 Gerichtsakten von Syrien-Rückkehrer:innen untersucht, aus denen sich die Daten von 58 verurteilten Personen auswerten ließen. Sie alle sind Teil eines Netzwerks aus über 250 Personen, in dem sich Unterstützer:innen und Rekruten genauso tummelten wie Prediger, Schleuser und Führungsfiguren. Der Infodienst Radikalisierungsprävention sprach mit ihr über die aus den Akten ableitbaren Gründe, warum Menschen Anschluss im islamistischen Milieu suchen, welche Rolle radikale Prediger dabei spielen und inwiefern Gerichtsakten auch bei der Analyse von Netzwerken hilfreich sein können.

Ein Staatsanwalt steht hinter einem Stapel Gerichtsakten, der auf einem Tisch im Landgericht liegt. (© picture-alliance/dpa, David Young)

Infodienst Radikalisierungsprävention: Frau Weber, in Ihrer Dissertation stehen Syrienrückkehrerinnen und -rückkehrer im Fokus, denen Sie sich mittels Gerichtsakten angenähert haben. Warum haben Sie den Zugang über Gerichtsakten gewählt und wie groß war dabei Ihre Datengrundlage?

Kristin Weber: Der Zugang über Gerichtsakten erschien mir die einzige Möglichkeit, um eine gewinnbringende Tiefenanalyse über das Phänomen des sogenannten „homegrown“ Terrorismus in Deutschland – also Personen, die in Deutschland aufgewachsen sind – durchführen zu können. Durch das umfassende Aktenmaterial war es mir möglich, die Täter:innen, ihre Biografien und Radikalisierungsprozesse zu untersuchen. Ebenso konnte ich herausfinden, wie Prediger, die Kontakte in die salafistisch-dschihadistische Szene hatten, Einfluss auf die Radikalisierung und die Rekrutierung genommen haben. Es gab, als ich mit meiner Forschung begonnen habe, bereits (internationale) Forschung zu öffentlich zugänglichen Dokumenten (Medienberichterstattung) über die Inhaftierung und Verurteilung von diesen Personen. Allerdings bestanden hier Informationslücken im Datenmaterial, sodass sich die Radikalisierungswege dieser Personen nicht vollständig rekonstruieren ließen. Genau diese Lücken wollte ich mit meiner Forschung schließen. Meine Ergebnisse und Erkenntnisse sollen das Verständnis für Radikalisierungsprozesse erweitern. Auch sollen sie sinnvoll für die Sicherheitsbehörden, die Präventions- und De-Radikalisierungsarbeit sowie die Wissenschaft sein.

Im Rahmen meiner Arbeit an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup im Forschungsprojekt X-Sonar (Extremistische Bestrebungen in sozialen Netzwerken), woraus auch meine Dissertation entstanden ist, habe ich Kontakt zum Bundeskriminalamt (BKA) in Berlin aufgenommen. Dort habe ich Einsichten in Anklageschriften und Gerichtsurteile von Personen, die wegen einer Mitgliedschaft und Unterstützung in einer terroristischen Organisation verurteilt worden sind, erhalten. Das war mein erster Kontakt mit dieser Art von Dokumenten. Für mich war das ein Test, ob sich in vollständigen Akten für meine Forschung zielführende Informationen befinden. Durch diese Akteneinsicht wurde mir schnell klar, dass eine Analyse von Gerichtsakten große Potenziale für die Forschung und die Praxis gleichermaßen bereithält. Im nächsten Schritt habe ich bei dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof und weiteren Staatsanwaltschaften um Einsicht in die Akten von bereits verurteilten Syrien-Rückkehrer:innen (im Zeitraum von 2014 bis 2017) gebeten. Die Täter:innen wurden nach den §§ 129 a StGB (Bildung einer terroristischen Vereinigung), 129 b (kriminelle und terroristische Vereinigung im Ausland), 89 a (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat), 89 b (Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) und 89c (Terrorismusfinanzierung) verurteilt. Insgesamt habe ich Einsicht in 36 Gerichtsakten von verurteilten Syrien-Rückkehrer:innen erhalten. Aus diesen Akten konnte ich 58 Personen identifizieren. In den Akten wurden oft mehr als ein:e Täter:in behandelt, sodass die Zahl der Personen höher ist als die der erhaltenen Akten. Im Datenpool befinden sich 53 Männer und fünf Frauen verschiedenen Alters. Sie haben unterschiedliche terroristische Organisationen im Ausland, wie den sogenannten Islamischen Staat (IS) und seine Vorgängerorganisationen, Jabhat al-Nusra, Jahbat al-Sham, Al-Shabab oder Jaisch al-Muhadschirin wal-Ansar auf diversen Wegen unterstützt.

Die Täter:innen habe ich aufgrund ihrer strafrechtlich relevanten Handlungen in Gruppen eingeteilt: Rückkehrer:innen (40) – dabei handelt es sich um Personen, die in ein Kriegsgebiet (Syrien/Irak/Afrika) ausgereist sind und sich dort terroristischen Organisationen angeschlossen haben. Sie haben dort eine militärische Ausbildung absolviert und an Kampfhandlungen teilgenommen. Ausreisewillige (14), also Personen, die ihre Ausreise nicht umsetzen konnten oder bei dem Versuch von den Sicherheitsbehörden festgenommen worden sind. Vier Personen konnten als Unterstützer:innen eingeordnet werden, ohne ausgereist zu sein oder die Bestrebung dazu gehabt zu haben. Unterstützt wurde u. a. finanziell oder durch die Erstellung/Verbreitung von Propagandamaterialien. Die Akten waren sehr umfassend. Sie enthielten u. a. Observations-, Vernehmungs-, Telekommunikations- und Chatprotokolle sowie die Anklageschriften und die Urteile. Methodisch habe ich mit einem Methodenmix aus Inhaltsanalyse, Grounded Theory (Forschungsstil, der Einblicke in komplexe soziale Prozesse ermöglicht) und Netzwerkanalyse gearbeitet.

Infodienst Radikalisierungsprävention: Welche zentralen Erkenntnisse über Menschen, die nach Syrien und in den Irak ausgereist sind, lassen sich aus den Akten ableiten?

Kristin Weber: Radikalisierung ist ein individueller und komplex ablaufender Prozess. Das bedeutet, dass Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen empfänglich für extremistische Ideologien sein können. Radikalisierung ist kein passiver, sondern ein aktiver Prozess, indem Täter:innen radikale Normen und Werte verinnerlichen und sich in ein radikales Milieu eingliedern. Es zeigt sich, dass die Täter:innen in mindestens einem Lebensabschnitt (schulisch, beruflich oder zwischenmenschlich) gescheitert sind. Die Mehrheit besitzt einen Haupt- oder Realschulabschluss, der Großteil über keine Berufsausbildung. Alle vereint mangelnde Disziplin, Planungs- und Orientierungslosigkeit, wenig Durchhaltevermögen und das Unvermögen, etwas an ihrer Lebenssituation zu verändern. Sie fühlen sich als gesellschaftliche Verlierer und bedeutungslos. Der Großteil hat sich in einer Identitäts- und/oder Lebenskrise befunden, ohne entsprechende Lösungsstrategien entwickeln zu können.

Psychische Störungen konnte ich bei den Täter:innen nur zu einem geringen Anteil feststellen, wohl aber, dass sie mehrfach, mitunter auch langanhaltende oder wiederkehrende (psychische) Belastungssituationen durchgemacht haben. Darunter zählen u. a. (psychische) Krankheit, der Tod eines Familienmitglieds oder Gewalterfahrungen. Diese negativen Erfahrungen können Anknüpfungspunkte für radikale Prediger sein, um empfängliche Personen zu radikalisieren. Radikale Prediger haben den Täter:innen ein leicht zu verstehendes Regelsystem und somit einen scheinbar leichten „Ausweg“ aus ihrem bisherigen Leben angeboten. Die Täter:innen haben sich anschließend aktiv in das radikale Milieu eingegliedert. Durch die Aufnahme in eine Gemeinschaft aus Gleichgesinnten konnten sie den verlorenen Lebenssinn und auch das Selbstwertgefühl wiederherstellen. Sie haben das Gefühl gehabt, so wieder die Kontrolle über ihr Leben übernehmen zu können. Auch die Identitätskrisen konnten überwunden werden, indem sich die Täter:innen in der radikalen Gruppe eine neue Identität (Glaubenskrieger:in/Auserwählte:r) geschaffen haben. Das Streben nach Lebenssinn und Bedeutung, der Wunsch nach Zugehörigkeit, Verständnis, aber auch die in der Gruppe von Gleichgesinnten entstehenden Dynamiken, wie Gruppenzwang und -Druck haben es begünstigt, dass sie in der radikalen Gemeinschaft geblieben sind. Starke sinnstiftende Erzählungen, wie die Aussicht darauf, durch die Teilnahme am Dschihad von allen Lebenssünden reingewaschen zu werden haben bei den Täter:innen Wirkung gezeigt.

Radikalisierung braucht Zeit. Bei den untersuchten Personen hat sich außerdem gezeigt, dass von einer sogenannten „Blitzradikalisierung“ binnen weniger Monate nicht zu sprechen ist. Im Durchschnitt hat die Radikalisierung ein bis zwei Jahre gedauert, bei manchen sogar über fünf Jahre. Alle untersuchten Personen waren aktiv in die salafistisch-dschihadistischen Szene eingebunden, zum Beispiel bei Koranverteil- und Spendenaktionen des Lies-Projektes beteiligt.

Radikalisierung ist ein Gruppenphänomen. Mit Blick auf die in der salafistisch-dschihadistischen Szene ablaufenden Sozialisationsprozesse lässt sich bestätigen, dass Radikalisierung vorrangig ein Gruppenphänomen ist. Alle Täter:innen haben sich über den Kontakt zu Gleichgesinnten und Predigern radikalisiert und dieser Kontakt hat auch dazu beigetragen, dass die untersuchten Personen in dem Milieu geblieben sind. Eine (isolierte) Selbst- oder Onlineradikalisierung konnte ich nicht feststellen. Vielmehr hat sich der direkte Kontakt zu anderen radikalisierten Personen als bedeutsamer herausgestellt. Besonders auch dann, wenn es um Ausreisebestrebungen, die Umsetzung der Ausreise und den Anschluss an eine terroristische Organisation im Ausland gegangen ist. Der Anschluss ist nur durch Kennverhältnisse, besonders zu Predigern, die hier als Reisekoordinatoren unterstützen, möglich gewesen.

Die untersuchten Personen besaßen vor ihrer Radikalisierung kein gefestigtes religiöses Hintergrundwissen. Die Mehrheit der Täter:innen sind als gebürtige Muslim:innen in Deutschland aufgewachsen. Vor der Radikalisierung hatten sie einen „westlichen“ Lebensstil. Unter ihnen befanden sich aber auch einige Konvertit:innen. Es fällt auf, dass der Glaube weder bei den gebürtigen Muslim:innen, noch bei den Konvertit:innen vor der Radikalisierung eine Rolle gespielt hat. Gebürtige Muslim:innen hatten keinen tieferen Bezug zum Islam als Glauben. Sie haben ihn vielmehr als eine Art Familientradition erlebt, ohne ein tieferes, religiöses Wissen gehabt zu haben. Sie haben es im Laufe ihres Lebens auch nicht weiter vertieft, da Religion für sie keine (große) Rolle gespielt hat. Das Wissen über die vermeintlich richtige Glaubensausübung und den Glauben an sich haben sie dann im Laufe ihres Radikalisierungsprozesses durch Prediger, Propaganda und Gleichgesinnte vermittelt bekommen. Auch wenn die Täter:innen kein religiöses Hintergrundwissen, sondern nur ideologisch aufgeladenes Wissen besaßen, würde ich dennoch sagen, dass sie religiös waren. Das zeigt sich darin, dass sie sich an die Normen und Werte, die salafistisch-dschihadistischen Gebote und Verbote gehalten haben.

Den Sicherheitsbehörden im Vorfeld unbekannt. Beim Großteil dieser Personen handelt es sich um Menschen, die den Sicherheitsbehörden im Vorfeld ihrer Radikalisierung und Eingliederung in das radikale Milieu bis dahin nicht bekannt gewesen sind.

Infodienst Radikalisierungsprävention: Gibt es etwas, was Sie beim Durcharbeiten der Akten besonders überrascht hat?

Kristin Weber: Überrascht hat mich, wie unglaublich gut vernetzt das radikal salafistisch-dschihadistische Milieu in Deutschland ist und wie gut durch ein Aktenstudium Verbindungen und Kennverhältnisse nachvollzogen werden können. Ebenso war es überraschend nachweisen zu können, dass es in dem Netzwerk wichtige Schlüsselpersonen gibt und dass es sogar bis in die Kriegsgebiete im Ausland direkt zu den terroristischen Organisationen reicht.

Infodienst Radikalisierungsprävention: Sie haben sich im Zuge der Dissertation auch die Rolle von (Online-)Predigern bei der Rekrutierung und Mobilisierung junger Ausreisender angeschaut. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Kristin Weber: Es war bereits meine Vermutung, dass Prediger, die Kontakt in die salafistisch-dschihadistische Szene hatten, mehr als nur Radikalisierungsbeschleuniger sind. Durch das Aktenstudium hat sich dies erhärtet.

Anwerber für den Dschihad. Radikale Prediger haben bei den Täter:innen aktiv Einfluss auf alle Phasen des Radikalisierungs- und Rekrutierungsprozesses genommen. Sie sind ein erster niedrigschwelliger Zugang zur salafistisch-dschihadistischen Ideologie gewesen. Sie sind schnell zu Vertrauenspersonen der Täter:innen geworden. Dieses Vertrauen haben die Prediger ausgenutzt, um die Täter:innen zu indoktrinieren und später für die Teilnahme am Dschihad zu rekrutieren. Die Prediger haben unterschiedliche Narrative verwendet, die emotional aufgeladen und ideologisch instrumentalisiert worden sind. Und sie haben es verstanden, die Themen in Richtung des gewaltsamen Dschihad, der Ausreise und des Anschlusses an eine terroristische Organisation und den Märtyrertod zu lenken. Sie haben Einfluss auf Entscheidungen von Personen genommen, die ausreisen wollten. Ist dieser Wunsch einmal ausgesprochen, so wird er innerhalb der Szene durch die Prediger verbreitet, was wiederum Handlungsdruck und Zwang auf die Täter:innen ausgelöst hat, die Ausreise auch tatsächlich zu realisieren.

Bindeglied zu terroristischen Organisationen: Die von mir untersuchten Prediger sind ideologische Bindeglieder zwischen dem radikalen Milieu in Deutschland und terroristischen Organisationen im Ausland gewesen. Speziell ein Prediger, zu dem durch das Aktenstudium viele Informationen vorlagen, war in seiner Rolle als ein angesehenes Mitglied der salafistisch-dschihadistischen Szene in Deutschland besonders aktiv. Er war Mitglied des „IS“ und hat als dieses aktiv auf die Anwerbung für den gewaltsamen Dschihad Einfluss genommen. Außerdem war er als Ausreiseunterstützer tätig und hat für Personen, die Anschluss an eine terroristische Organisation gesucht haben, die Ausreise geplant (u. a. sichere Reiserouten, Vermittlung von Kontakten). Auch bei der Erstellung von sogenannten Empfehlungsschreiben, die verdeutlichen, dass es sich bei den von ihm geschickten Personen nicht um Spione handelt, hat er mitgewirkt. Dieser Prediger stand somit mit seinem Wort als Bürge zur Verfügung. Er versorgte den „IS“ mit neuen Kämpfern, sorgte für den Weiterbestand des Kalifats und die Vergrößerung des Netzwerks.

Infodienst Radikalisierungsprävention: Sie haben auch eine Netzwerkanalyse durchgeführt, um die Verbindungen und Netzwerke der Ausreisenden sichtbar zu machen. Zu welchem Ergebnis sind Sie dabei gekommen?

Kristin Weber: Ich konnte durch eine aktenübergreifende Analyse insgesamt 255 Personen identifizieren, die über 650 Verbindungen zu anderen Netzwerkakteuren hatten. Es hat sich gezeigt, dass Netzwerkmitglieder verschiedene (mitunter auch mehrere) wichtige Rollen und Aufgaben übernommen haben, um es am Leben zu erhalten und zu vergrößern. So gab es in diesem Netzwerk neben den 58 untersuchten Personen auch Anwerber:innen, die Personen zum Beispiel auf der Straße für das salafistisch-dschihadistische Milieu rekrutiert haben. Führungspersonen unterschiedlicher terroristischer Organisationen haben Leitungsaufgaben übernommen. Kontaktmänner waren für die Ausreiseunterstützung zuständig und konnten den Kontakt u. a. zu Führungspersonen oder Schleusern herstellen. Letztere haben dafür gesorgt, dass radikalisierten Personen der Anschluss an eine terroristische Organisation gelingt und sie über Ländergrenzen begleitet. Prediger gaben online/offline ideologische Anweisungen und waren so ebenfalls in der Lage, empfängliche Personen entsprechend zu radikalisieren, zu manipulieren und zu rekrutieren. Daneben gab es auch Attentäter (Personen, die bereits Anschläge verübt haben), Rekruten (Personen, die durch ein anderes Netzwerkmitglied angeworben worden sind) und sonstige Unterstützer:innen (u. a. finanzielle Unterstützung) in diesem Netzwerk. Die Mitglieder unterstützten das Netzwerk auf unterschiedlichen Wegen: durch Anschlagsplanungen, Ausreiseunterstützungen, Heiratsvermittlungen, Kampfhandlungen, Kontaktvermittlung, Spenden oder ideologisch-moralische Weisungen. Bei diesem Netzwerk handelte es sich um ein verdecktes Netzwerk, was bedeutet, dass seine Mitglieder bemüht waren, möglichst lange im Verborgenen zu bleiben. Bei einer Netzwerkanalyse werden Personen als Punkte dargestellt. Je größer der Punkt, desto größer ist die Rolle dieser Person und desto mehr andere Mitglieder sind ihm bekannt und kennen die Person. Solche großen Knotenpunkte sind in einem Netzwerk von Bedeutung. Aufgrund ihrer Größe oder ihrer strategisch gelegenen Position (im Zentrum oder am Rand des Netzwerks) gelten sie als Schlüsselperson. Sie können u. a. Informationsschnittstellen sein und entscheiden, wer Zugang zu wichtigen Informationen erhält und wer nicht.

Infodienst Radikalisierungsprävention: Warum ist die Analyse von Gerichtsakten ein sinnvolles Unterfangen, inwiefern kann sie Erkenntnisse für die Zukunft oder für die Prävention liefern?

Kristin Weber: Die Aktenanalyse ist ein wichtiges Instrument, um Täter:innen, ihre Biografien, (individuelle und gruppenbezogene) Verläufe von Radikalisierungsprozessen und die Gründe für die Hinwendung zu einem extremistischen Milieu zu verstehen. Es geht darum, bedeutende Phasen oder Entwicklungen im Leben von Täter:innen zu identifizieren, die für den Radikalisierungsprozess relevant sind. Die Aktenanalyse kann einen Zugang zu einem tieferen Verständnis dafür darstellen. Auch ist es möglich, Netzwerke, ihren Aufbau und Rekrutierungsstrategien von unterschiedlichen Personen zu verstehen, die einem radikalen Milieu zugehörig sind. Diese Einsichten und Ergebnisse bieten auch Anknüpfungs- und Ansatzpunkte für die Präventions- und De-Radikalisierungsarbeit oder für die politische Bildung. Personen, die sich in einer vulnerablen Lebensphase befinden, sind besonders anfällig für eine Radikalisierung. Gelingt es, diesen Personen andere Lösungsstrategien für die Lebens- und Identitätskrisen anzubieten, als es eine Ideologie tut, so können Radikalisierungsprozesse frühzeitig unterbrochen werden.

Infodienst Radikalisierungsprävention: Wo sehen Sie aktuell beim Thema Islamismus oder vielleicht auch mit Blick auf Ihr spezielles Thema der Ausreisenden weiteren Forschungsbedarf?

Kristin Weber: Ich sehe aktuell Forschungsbedarf bei den Veränderungen im Islamismus. Der Krieg zwischen Israel und Palästina hat hier zu Veränderungen geführt. Zum einen sind neue Narrative entstanden; dabei handelt es sich insbesondere um antiisraelische und damit antisemitische Narrative, die u. a. durch Desinformation in den sozialen Medien verbreitet werden. Zum anderen haben sich auch Feindbilder, insbesondere das Feindbild Israel, im Islamismus verstärkt. Die aktuellen Entwicklungen im Nahostkonflikt bieten somit einen neuen Nährboden für Radikalisierung.

Weiteren Forschungsbedarf sehe ich außerdem im Bereich der Netzwerke. In diesem Bereich fehlt es an einem aktiven wissenschaftlichen Monitoring, wie sich das salafistisch-dschihadistische Netzwerk in Deutschland und seine Verbindungen zu terroristischen Organisationen nach dem Zusammenbruch des Kalifats des „IS“ und dem Aufkommen des „ISPK“ verändert hat. Auch wenn das Kalifat des „IS“ zerstört wurde und nicht mehr als ein Staatsgebiet existiert, so besteht die terroristische Organisation des „IS“ dennoch weiter fort. Es werden neue Narrative verwendet, um empfängliche Personen zu radikalisieren, neue Allianzen mit terroristischen Gruppen geschlossen, neue oder andere (Splitter-)Gruppierungen haben an Stärke gewonnen und ehemalige „IS“-Kämpfer, die kampferfahren sind, aufgenommen. Das deutet auf einen Strategiewechsel hin. Daher ist es besonders wichtig, das Augenmerk sehr genau auf Veränderungen in diesem Milieu zu legen.

Infodienst Radikalisierungsprävention: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Weitere Inhalte

Dr. Kristin Weber ist Kriminologin und Soziologin. Sie arbeitet seit April 2023 am Zentrum für Kriminologische Forschung Sachsen e.V. in Chemnitz. Dort leitet sie ein Projekt zum Thema Vorurteilskriminalität und dem Erfassungssystem der politisch motivierten Kriminalität. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Radikalisierungs- und Terrorismusforschung, Akten- und Netzwerkanalyse sowie Polizeiforschung. Von 2015 bis April 2023 war sie an der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) u. a. im BMBF-geförderten Projekt „X-Sonar: Analyse extremistischer Bestrebungen in sozialen Netzwerken“ tätig.