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Radikalisierung – eine kritische Bestandsaufnahme

Dr. Katharina Leimbach Prof. Dr. Nadine Jukschat

/ 13 Minuten zu lesen

Radikalisierung – bei diesem Begriff entstehen sofort einschlägige Bilder und Assoziationen. Wahrscheinlich denken Sie an 9/11 und die brennenden Zwillingstürme des World Trade Centers. Fallen Ihnen TV-Serien und Spielfilme wie 24 oder Homeland ein? Vielleicht denken Sie aber auch an die NSU-Mordserie oder rechtsextremistisch motivierte Attentate wie in Halle 2019 oder in Hanau 2020. Möglicherweise kommt Ihnen auch die RAF in den Sinn? Es ist eher unwahrscheinlich, dass Sie den Begriff ganz anders füllen, obschon dies möglich wäre: In der Feudal- und Ständegesellschaft etwa wurden demokratische Bewegungen als, radikal‘ bezeichnet, weil sie für politische Gleichheit eintraten.

Lupe zeigt auf einen Text (© picture-alliance, picture alliance/Nate)

Mit diesem suggestiven Einstieg wollen wir veranschaulichen, wie ‚Radikalisierung‘ im öffentlichen aber auch im wissenschaftlichen Diskurs typischerweise verstanden wird: Radikalisierung und Terrorismus werden diskursiv eng miteinander verbunden. Wenngleich der Begriff zunehmend auch in anderen Kontexten verwendet wird, etwa wenn eine Radikalisierung der AfD attestiert wird. Wer von Radikalisierung spricht, meint jedoch meist einen Prozess, der im Ergebnis in Extremismus und letztlich in Terrorismus mündet. Besonders eingängig war deshalb Peter Neumanns Definition: Radikalisierung sei der „Prozess, durch den Personen oder Gruppen zu Extremisten [sic!] werden“ (Neumann 2013: 4) oder „what goes on before the bomb goes off“ (Neumann 2010: 4). Unmittelbar wird ein Bezug zu Bomben, (Terror) Anschlägen und Gewalt hergestellt. Daneben stellt der Begriff insbesondere auf das sich (potenziell) radikalisierende Individuum ab – organisationale und strukturelle Aspekte, wie etwa normative Ordnungen, diskursive Bezeichnungspraktiken oder sozialstrukturelle gesellschaftliche Bedingungen und ihr Wandel, treten als Erklärungsgrößen tendenziell in den Hintergrund.

‚Radikalisierung‘ ist in der sicherheitspolitischen Diskussion wie auch in der Erforschung und Bearbeitung von demokratiefeindlichem politisch-weltanschaulichem oder religiösem Denken und Handeln seit den Anschlägen auf das World Trade Center zu einem „Schlüsselbegriff“ (Panzer 2019) geworden (Frindte u.a. 2016). Über dessen Definition und Konzeptualisierung wird wissenschaftlich zwar engagiert gestritten und es mehren sich kritische Stimmen (Abay Gaspar u.a. 2018; Jukschat/Leimbach 2020; Schmidt-Kleinert 2018; Panzer 2019). Das eingangs aufgerufene Begriffsverständnis, wonach sich Radikalisierung zuvorderst als ein Problem der inneren Sicherheit darstellt (Githens-Mazer 2012), hat sich konzeptuell jedoch durchgesetzt, was wir aus wissenschaftlicher Sicht auch als Hegemonie bezeichnen (Jukschat/Leimbach 2020).

Radikalisierung vs. Extremismus

Wie bereits deutlich geworden ist, werden die Begriffe Radikalisierung und Extremismus im Diskurs eng verknüpft und teilweise synonym oder zur wechselseitigen Erklärung verwendet. Zwar gab es zuletzt Versuche einer komplexeren und differenzierteren Definition von Radikalisierung. Diskursiv dominiert jedoch, Radikalisierung als einen Prozess zu beschreiben, der zu extremistischen Einstellungen, der Befürwortung oder letztlich Ausübung extremistischer Gewalthandlungen führt (für einen Überblick siehe: Borum 2011; Logvinov 2019).

Extremismus wird dabei im Modus einer Negativdefinition als Abweichung von den Grundgedanken des Verfassungsstaates (Verfassungsprinzipien sind Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat, Bundesstaat, Gewaltenteilung und Widerstandsrecht) bestimmt (etwa: Beelmann 2017; Backes 2006) und aktuell immer dann verwendet, wenn es darum geht, Feind:innen der Demokratie auszumachen. In diesem Zusammenhang ist zudem das sogenannte „Hufeisen-Modell“ bedeutsam (Backes/Jesse 2005). Es geht von einer Mitte aus, die einerseits als politische Mitte der Gesellschaft zu verstehen ist und andererseits eine gesellschaftliche Wertedominanz darstellt, die nicht zwangsläufig durch Mehrheit definiert sein muss. Die problematischen Phänomene (in der klassischen Extremismusforschung der Rechts- bzw. Linksextremismus) werden an den Enden des Hufeisens (und damit den ,Rändern‘ der Gesellschaft) verortet und tendenziell als in sich homogene Problemgruppen konstruiert, während die Mitte normalisiert wird (Oppenhäuser 2011; Bötticher/Mareš 2012: 73). Die Implikationen des Hufeisenmodells bestehen jedoch nicht nur in einer Entproblematisierung der Mitte, sondern suggerieren auch eine phänomenologische Vergleichbarkeit, ohne dabei explizit auch religiöse Extremismen zu adressieren.

Analytischer Kurzschluss von Einstellung und Gewalt

Ob Radikalisierung als Prozess zum Extremismus eher in Bezug auf ,kognitive‘ Prozesse oder in Relation zur Gewaltbereitschaft verstanden werden soll, ist vor allem in Anbetracht der Normativität dieser Konzepte herausfordernd, wie Peter Neumann (2013: 4) herausstellt: „Auch der Begriff des ,kognitiven Extremismus‘ ist jedoch alles andere als klar. Die Worte ,radikal‘ und ‚extrem,‘ als Bezeichnung für bestimmte Ideen, Ziele und Wertvorstellungen besitzen keine universelle Gültigkeit. Sie setzen ein Wissen darüber voraus, was in einer Gesellschaft oder zu einem gewissen Zeitpunkt als ,moderat‘ oder ,Mainstream‘ gilt. Was die eine Gesellschaft für ,radikal‘ hält, das gehört in einer anderen zum allgemeinen Konsens. Und was heute als ,extremistisch‘ gilt, ist vielleicht morgen schon unverrückbarer Teil der staatlichen Ordnung.“ Neumann macht hier auf die Normativität der begrifflichen Konzepte aufmerksam und spiegelt damit einen wichtigen Strang der kritischen Auseinandersetzung wider. Immer wieder weisen zentrale Extremismus- und Radikalisierungsforscher:innen darauf hin, dass sowohl bei dem Begriff des Extremismus, als auch der Radikalisierung zwischen gewaltbereiten und ideologisierten bzw. kognitiven Formen unterschieden werden müsse (exemplarisch: Borum 2011; McCauley/Moskalenko 2017). Im Dickicht der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu diesen Themen gerät jedoch genau diese Unterscheidung wieder ins Wanken. So heißt es beispielsweise bei Srowig und Kolleg:innen (2018: 1): „Gleichwohl untersuchen die meisten Studien die Radikalisierung einzelner Gewalttäter und Gewalttäterinnen, um zu ergründen, welche Prozesse bei der Internalisierung extremistischer Denkmuster wirken und wie radikale Einstellungen bzw. Ideologien zur Legitimierung von Gewalt beitragen.“

Radikale Einstellungen werden in einem analytischen Kurzschluss als Grundlage für Radikalisierung verstanden und Radikalisierung in der Konsequenz als linearer Prozess konzeptualisiert, der von der Einstellungsänderung über eine Verhaltensänderung bis zur Gewaltausübung führt (Logvinov 2018). Dieser (implizite) Determinismus wird in den verschiedenen Radikalisierungsmodellen oft schon begrifflich sichtbar. So spricht Borum (2011) vom „Vier-Stufen-Modell“, Moghaddam (2005) vom „Treppenhaus-Modell“ oder Wiktorowicz (2005) vom „Vier-Phasen-Modell“. Andere Autor:innen orientieren sich stärker an der Bewegungsforschung und ordnen Faktoren- oder Mechanismensets auf der Mikro-, Meso- und Makroebene an – wie das Zwölf-Mechanismen-Modell von McCauley und Moskalenko (2008) oder der Multidimensionenansatz von Gill (2007). Unabhängig von den im Detail unterschiedlich konzipierten Phasen, Stufen oder Mechanismen dienen diese Modellierungen der Komplexitätsreduktion. Mit diesen Vereinfachungen wird jedoch implizit die Vorstellung eines linearen Prozesses transportiert, der individuelle Akteur:innen letztlich in die Befürwortung oder Ausführung von Gewalt führt. Das Erklärungsversprechen dieser Modellierungen lässt sich gerade aufgrund seines Allgemeingültigkeitsanspruchs nur schwer entkräften.

Historische Entwicklungen: Vereindeutigung zum Islamismus

Erstaunlich ist, dass die Erinnerung an die Bedeutung des Begriffes Radikalisierung vor dem 11. September 2001 verblasst ist. Die Konjunktur des Konzeptes ist unumwunden mit Anschlägen aus dem sogenannten islamistischen Spektrum verknüpft. Ältere Begriffsverständnisse, wonach Radikalität bzw. Radikalismus darauf abzielt, gesellschaftliche Probleme auf strukturelle Wurzeln zurückzuführen, werden von einem Verständnis überlagert, das Extremismus und Radikalisierung in eins setzt (Marcks 2019). Zwar wird in Publikationen immer wieder erwähnt, dass ‚radikal‘ sich vom lateinischen Wort, radix‘ (= Wurzel) ableitet und zunächst nur darauf abzielt, politische Probleme ‚an der Wurzel zu packen‘. Diese Lesart bleibt jedoch formelhaft und konzeptuell folgenlos.

In Deutschland wurde der Radikalisierungs-Begriff vor ‚9/11‘ vor allem im Kontext der ‚radikalen Linken‘ und später der Roten Armee Fraktion (RAF) verwendet. Als Begriff wurde er in den 1950er-Jahren vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eingeführt und ausschließlich zur Bezeichnung für Rechts- und Linksradikalismus verwendet (Backes 2006: 191 f.). Schon vor den Anschlägen auf das World Trade Center existierte, was mal als religiöser Extremismus, Externer Link: Islamismus, Dschihadismus oder Salafismus (Ceylan/Kiefer 2013) bezeichnet wird. Mit ‚9/11‘ wurde der Radikalisierungsbegriff gewendet und in Richtung dieses Phänomenbereichs vereindeutigt. Die Anschläge auf das World Trade Center entfalteten eine permanente Bedrohungssituation für Länder des globalen Nordens. Weitere (islamistische) Anschläge, wie in Madrid 2004, London 2005 und dann in Paris 2015 hielten diese Bedrohungssituation aufrecht. Die (deutsche) Politik reagierte mit massiven Gesetzesänderungen, die die Sicherheit vor die Freiheit stellten (Frank/Freuding 2020) und die Sicherheitsbehörden bauten ihre Expertise auf dem Feld der Bekämpfung des Terrorismus aus. In der Wissenschaft versuchte man, getragen auch durch entsprechende umfangreiche, politisch initiierte Forschungsförderprogramme, Erklärungen zu entwickeln und Lösungen zu formulieren.

Der Blick in die gängigen Radikalisierungstheorien zeigt, dass diese typischerweise auf islamistische Radikalisierung abstellen (Logvinov 2018) und eher seltener den Phänomenbereich des Rechtextremismus mit einschließen. In einem Bericht zur Lage des Rechtsextremismus in Europa stellen Bjørgo und Ravndal (2019: 2) vor diesem Hintergrund fest, dass die öffentliche Aufmerksamkeit so sehr auf islamistische Bedrohungslagen fokussiert sei, dass Rechtsextremismus nun seit vielen Jahren „überschattet“ würde. Insbesondere massenmedial wurden Angstdiskurse zur omnipräsenten islamistischen Terrorgefahr angeheizt (Witte 2018: 256). Kritische Wissenschaftler:innen sehen eine wechselseitige Verstärkung zwischen Politik, Sicherheitsbehörden, Wissenschaft und Massenmedien und begründeten dies mit generellen Externer Link: islam- und muslimfeindlichen Einstellungen in Mittel- und Westeuropa – so werden Muslim:innen fast ausschließlich innerhalb von problematisierenden oder kriminalisierenden Diskursen thematisiert (exemplarisch: Koning 2023; Amir-Moazami 2018b; Sunier 2014; Kundnani 2015; Jukschat/Lehmann 2020). Es gibt also eine Wechselwirkung zwischen der Angst vor weiteren islamistischen Terroranschlägen, die insbesondere durch sicherheitsbehördliche Aufklärungen und präventive Programme verhindert werden sollen und der Problematisierung des Islam im Modus des Sicherheitsdiskurses. Dadurch entsteht ein Präventionsparadox. Durch die Externer Link: Präventionslogik werden potenzielle Risiken und Sicherheitsgefährdungen immer weiter vorverlagert, und bestimmte Personen nämlich Muslim:innen und Personen, die als solche gelesen werden, potenziell als Sicherheitsrisiko stigmatisiert (Jukschat/Lehmann 2020). Darüber hinaus führt die zunehmende Beschäftigung mit Radikalisierung innerhalb von Präventionsprogrammen auch zu einer (thematischen) Aufrechterhaltung potenzieller Gefahrensituationen (Leimbach 2022).

Neuere Konzepte: Co-, Selbst- und Turboradikalisierung

Neu in der Radikalisierungsforschung ist die Pointierung der sogenannten Co-Radikalisierung (Pickel u.a. 2023). Sie eröffnet eine Metaperspektive, die auf das Konzept der „mutual radicalization“ des Sozialpsychologen Moghaddam (2018) zurückgeht. Ins Verhältnis gesetzt werden Islamismus und Anti-Islam: Die zunehmende Islamfeindlichkeit und das Erstarken rechtsextremistischer Positionen würden demnach zu Desintegrationsmomenten bei Menschen führen, die als muslimisch gelesen werden. Umgekehrt würde diese Rückzugsbewegung durch Muslim:innen wiederum das Misstrauen ihnen gegenüber sowie islam- und muslimfeindliche Einstellungen befördern. Hierdurch würde eine sich wechselseitig verstärkende Dynamik einer Radikalisierungsspirale entstehen. Wie diese Co-Radikalisierung sich konkret vollzieht, bleibt im Modell recht abstrakt. Zudem trägt die Argumentation tautologische Züge, weil sie die Existenz von Rechtsextremismus und Islamismus durch sich selbst erklärt. Daneben weist sie auch in die Richtung von zeitdiagnostischen Ansätzen, die eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung konstatieren. Als Deutungsangebot für gesellschaftliche Konfliktkonstellationen erscheinen diese Polarisierungsdiagnosen eingängig, tragen in ihrer Vereindeutigungslogik jedoch selbst zu jenem Phänomen bei, was sie zu beschreiben suchen.

Mit dem gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs des Internets und insbesondere sozialer Medien rückten diese Diagnosen auch in den Fokus der Radikalisierungsforschung und wurden sowohl als Ort von Radikalisierung, wie auch als Verstärker von Radikalisierungsprozessen diskutiert (exemplarisch zu dieser Debatte: Knipping-Sorokin/Stumpf 2018; Meleagrou-Hitchens/Kaderbhai 2017). In diesem Zusammenhang entstanden neue Konzepte, wie der ‚lone wolf jihad‘, ‚leaderless resistance‘, ‚Turbo-Radikalisierung‘ und ‚Selbstradikalisierung‘ (exemplarisch: Ben Slama 2020: 334 ff.; Joosse 2014; Ohlrogge/Selck 2021). Diese Phänomene stehen einer Idee von Organisationsstrukturen gegenüber und wurden insbesondere von Sicherheitsbehörden problematisiert, da es durch sie schwieriger würde, Radikalisierungsprozesse zu erkennen und terroristische Anschläge zu verhindern. Dies führte in den vergangenen Jahrzehnten zu zahlreichen gesetzlichen Änderungen, die bei einem Verdacht auf Terrorismus mehr Überwachung und frühzeitiges sicherheitsbehördliches Eingreifen ermöglichen (Frank/Freuding 2020).

Willkommene Unschärfe und Kontingenz

Die zahlreichen Debatten um Definitionen und Konzeptionen von Radikalisierung lassen sich als Deutungskämpfe interpretieren. Uneinigkeit zu betonen und den Radikalisierungsbegriff als ‚vage‘ und „source of confusion“ (Sedgwick 2010: 479) zu thematisieren, kann dabei auch als Strategie begriffen werden. ‚Radikalisierung‘ ist zwar mit einer dramatisierenden Konnotation des islamistischen Terrorismus aufgeladen worden, kann aber auch schnell auf andere Phänomene angewendet werden. Eine Bewegung als radikalisiert zu bezeichnet, entfaltet dadurch einen kriminalisierenden Charakter, der zugleich einen (sicherheitsbehördlichen) Bearbeitungsimperativ aufruft. Beobachtbar ist eine Doppelbewegung von diskursiver Engführung einerseits – auf den kriminalisierenden Blick auf das Individuum, die Vorstellung linearer Prozesse in die Gewalt etc. – und andererseits einer Begriffsdiffusion in Kombination mit dem Allgemeingültigkeitsanspruch. Dieser flexible Charakter des Radikalisierungskonzepts zeigte sich zuletzt deutlich im Zusammenhang mit den Klimaprotesten der Letzten Generation, die insbesondere medial als ‚Radikalisierung der Klimabewegung‘ bezeichnet und dadurch kriminalisiert und als gesellschaftliche Bedrohung gerahmt wurden. Hieran wird sichtbar, dass der Begriff äußerst anpassungsfähig ist und sich phänomenunabhängig einsetzen lässt.

Die historische Fokussierung auf den Phänomenbereich des Islamismus, so ließe sich als These formulieren, liegt weniger in der Struktur des Phänomenbereichs selbst begründet, als in einem diskursiv mit dem Islamismus verknüpften Bedrohungs- und Gefahrenszenario (Amir-Moazami 2018a). Dies korrespondiert zudem mit einem breiteren, essentialisierenden und problematisierenden Blick der ‚westlichen Welt‘ auf die ‚islamische Welt‘, wie er prominent in der These des „Clash of Civilizations“ von Samuel Huntington (1993) repräsentiert ist (kritisch hierzu: Zimmerling 2003). Diese phänomenspezifisch auf Islamismus konkretisierenden Elemente lassen sich jedoch ebenso ablösen. Radikalisierung kann diskursiv durch seine Unschärfe schnell auf andere Phänomene angewendet werden und damit seine kriminalisierende, problematisierende Wirkung auf diese übertragen, wie das Beispiel der Letzten Generation zeigt. Gerade in dieser Unschärfe entfaltet das Konzept seine Omnipotenz: Es erzeugt eine dauerhafte Bedrohungskonstellation (mit) und unterstreicht den Bearbeitungs-, Verhinderungs- und Interventionsbedarf. Dies führt dazu, dass in verschiedenen Handlungsfeldern auf unterschiedlichen Ebenen (wie Sicherheitsbehörden, Sozialer Arbeit, politischer Bildung, Wissenschaft etc.) unter einem gemeinsamen Begriff gleichzeitig unterschiedliche praktische Strategien verfolgt werden können (Panzer 2019: 5).

Permanenter Bearbeitungsimperativ: RadikalisierungsPRÄVENTION

Implizieren Begriffe wie Extremismus und Terrorismus etwas Statisches und am Ende Befindliches, führte das Radikalisierungskonzept mit seinem Prozesscharakter eine Zeitlichkeit ein, die die Betrachtung auf das Vorfeld der eigentlichen Gewaltausübung verlagerte. Damit wurde ein Konzept geschaffen, das Extremismus und Terrorismus erst verhinderbar macht, weil es überhaupt erst eine Vorstellung davon erzeugt, wie sich eine radikale Entwicklung vollzieht.

Das Radikalisierungskonzept enthält damit eine Bearbeitungsaufforderung. Wie über Präventions- und Bildungsmaßnahmen nachgedacht wird, wird gleichsam durch die Konzeptualisierung von Radikalisierung mitbestimmt. Die mit dem Konzept einhergehende Fokussierung auf das sich (potenziell) radikalisierende Individuum sowie die zugehörigen Annahmen über individuelle Vulnerabilitäten und Risikofaktoren sind hierbei prägend. Die Angst vor verheerenden Terroranschlägen hat insbesondere seit den 2000er-Jahren zu einem schnellen und massiven Ausbau der Präventionslandschaft geführt. Der Ausbau der Extremismusprävention wurde maßgeblich durch die verschiedenen Modellprogramme der Bundesregierung gefördert (Leimbach 2023: 239 ff.). In diesem Zuge entstand zuletzt eine Externer Link: Fachdiskussion um das Verhältnis von politischer Bildung und Radikalisierungs- bzw. Extremismusprävention. Während politische Bildung vor allem einer Bildungslogik folgt und auf politische Mündigkeit zielt, ist Radikalisierungsprävention eine Verhinderungslogik und Stigmatisierungspotenzial inhärent. Kritisch diskutiert wird dabei insbesondere die Gefahr einer Versicherheitlichung pädagogischer und sozialarbeiterischer Logiken (Figlestahler/Schau 2020).

Wissenschaft und sozialpädagogische Praxis im Handgemenge

Radikalisierung wird von der wissenschaftlichen, öffentlichen, sicherheitsbehördlichen und sozialpädagogischen Bühne so schnell nicht abtreten. Die emotionalisierte und dramatisierte Aufladung des Begriffes erlaubt wenig alternative Lesarten und führt in der Konsequenz zu hegemonialen Wissensmustern. So tragen auch wir mit diesem Beitrag erneut zur Erhaltung dieses Diskurses bei, was dazu führt, dass andere Themen weniger Raum erhalten. Wir plädieren deshalb für einen selbstkritischen, reflexiven Umgang mit Radikalisierung, der eine ständige Überprüfung der eigenen (Vor-)Annahmen und Wissensbestände beinhaltet. Die wissenschaftliche und sozialpädagogische Arbeit am Phänomen kann in einer Gemengelage aus institutionellen Logiken, politischen Handlungsabsichten, individuellen Bearbeitungsstrategien und zeithistorischen Ereignissen ein Eigenleben entwickeln und unintendierte Nebenfolgen erzeugen. So ist etwa auch hinzuzufügen, dass die (sozialpädagogische) Bearbeitung von Rechtsextremismus in Deutschland zwar seit den frühen 1990ern Tradition hat, aber nicht in gleicherweise Konjunktur erlebt, wie es die Debatten um Bedrohungen durch Islamismus haben. Der NSU, der Mord an Walter Lübke und der Anschlag in Hanau führten zu kurzen medialen Debatten, die dann auch politische Maßnahmen nach sich zogen. Trotzdem ist die Rechtsextremismusforschung z. B. fast ausschließlich an Fachhochschulen oder außeruniversitären Einrichtungen verortet und steht in vollständiger Abhängigkeit von Drittmitteln (Pallinger 2018). Die (wissenschaftliche) Beschäftigung mit Rechtsextremismus, trotz aller Notwendigkeit, steht im Schatten der dramatisierenden Debatten um Islamismus und schafft es nur punktuell als gesamtgesellschaftliches Problem konstatiert zu werden (Birsl 2018). Zumindest von Zeit zu Zeit, so unser Argument, bedürfen diese Zusammenhänge einer eigenen Analyse, in der wir eine breitere Perspektive einnehmen, die nicht nur das sich ,radikalisierende Individuum‘ in den Blick nimmt, sondern vielmehr danach fragt, wie es überhaupt zu einem spezifischen Verständnis von Radikalisierung kommt, welche Akteur:innen daran beteiligt sind und welche Implikationen mit spezifischen Konstruktionsweisen einhergehen.

Quellen / Literatur

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Hande Abay Gaspar und Kolleg:innen etwa schlagen vor, Radikalisierung als „die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft, die institutionellen Strukturen dieser Ordnung zu bekämpfen“ (2018: 5) zu definieren und damit ein analytisches Verständnis gegenüber einem normativen Verständnis zu etablieren, durch welches Radikalisierung in die Gewalt, in der Gewalt sowie ohne Gewalt analysierbar wird. Holger Marcks wiederum plädierte zuletzt dafür, Radikalisierung als Zunahme von Radikalismus zu fassen, wobei er Radikalismus dem Extremismus diametral gegenüberstellt: Extremismus ist für ihn „eine Rationalität, in der eine starke Komplexitätsreduktion stattfindet und die insofern extrem ist, als dass gesellschaftliche Probleme darin als von dichotomen Personengruppen verkörpert erscheinen. Radikalismus hingegen geht von einer Komplexität der Gesellschaft aus und ist insofern radikal, als dass deren Probleme auf strukturelle Wurzeln zurückgeführt werden“ (Marcks (2019: 25). Die Hinwendung zu Gewalt hingegen könne eher als Militantisierung bezeichnet werden (Marcks (2019: 30).

  2. Die Mitte-Studien weisen seit Jahren nach, dass antidemokratische Positionen und rechtsextreme Ideologien auch in der gesellschaftlichen Mitte verbreitet sind bzw. zuletzt weiter zugenommen haben (Zick/Küpper/Mokros (2023)Zick/Küpper/Mokros (2023). Auch die Wahlergebnisse der AFD und die Struktur ihrer Wähler:innenschaft lassen sich als zusätzliches Indiz für eine gesellschaftliche Zunahme rechtsextremistischer Positionen lesen. Darüber hinaus scheint sich auch auf diskursiver Ebene die Sagbarkeitsgrenze hin zu rechtsextremistischen Aussagen verschoben zu haben.

  3. Neben der Frage nach der Stellung der Gewalt, wird auch das Verhältnis von Ideologie und sozialem Kontext bzw. individuellen und gesellschaftlichen Erklärungsansätzen diskutiert (Srowig et al. 2018). Auch hier finden sich komplexitätsreduzierende Erklärungsansätze, etwa wenn die drei „I’s“ Walther (2014) – injustice, ideology, ingroup – oder die drei „N’s“ Webber/Kruglanski (2020) – needs, narratives, networks – als relevante Erklärungsgrößen postuliert werden.

  4. Dies lässt sich ebenso auf den angloamerikanischen Raum beziehen, wir wollen uns aber stärker auf den europäischen Kontext konzentrieren.

  5. Empirisch sind solche zeitdiagnostischen Erklärungsangebote schwer überprüfbar. Steffen Mau und Kollegen (2023) haben diesen gesellschaftlichen Spaltungs- und Polarisierungsdiagnosen mit ihrem Konzept der „Triggerpunkte“ zuletzt konzeptuell etwas entgegengesetzt: Auf Basis empirischer Untersuchungen argumentieren sie, dass es vor allem bestimmte gesellschaftliche Themen sind, die als „Trigger“ fungieren und durch „Polarisierungsunternehmer“ forciert werden, wodurch der Anschein einer gesellschaftlichen Spaltung erweckt wird. Dabei polarisieren die unterschiedlichen Themen, unterschiedliche Gruppen. Es ist laut der Studie nicht haltbar, von zwei verschiedenen gesellschaftlichen Bewegungen zu sprechen, die miteinander in Konflikt stehen.

  6. Das Konzept des ,leaderless resistance‘ beschreibt eine führerlose Organisationsform und wird bereits seit den 1980er-Jahren im Kontext des Rechtsterrorismus thematisiert und von rechtsextremen Vordenkern als Strategie propagiert. Zuletzt gewann der Begriff des ,lone wolf‘-Terroristen an Bedeutung. Was zunächst ebenfalls im Bereich des Rechtsterrorismus thematisiert wurde, wurde für den Bereich des Islamismus adaptiert und stand insbesondere mit Online-Radikalisierungsprozessen in Verbindung. Es geht um Fälle, in denen einzelne Menschen sich allein und unabhängig davon, dass sie in eine größere Organisationsstruktur eingebettet sind, radikalisieren und die Entscheidung treffen, Gewalt anzuwenden. Eine solche ,unabhängige‘ Radikalisierung ist besonders schwer frühzeitig zu verhindern, weshalb es hier zu dramatisierenden Thematisierungen kommt (für einen Überblick: Joosse (2014)).

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Katharina Leimbach ist promovierte Soziologin und forscht insbesondere im Bereich der Kriminologie, kritischen Kriminalsoziologie und qualitativ-interpretativer Sozialforschung. Sie hat an der Universität Bremen studiert und an der Universität Kassel promoviert. Aktuell arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin am Institut für Interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Schwerpunktmäßig forscht sie zu Radikalisierung, Jugendkriminalität, Gefängnissen und qualitativen Methoden.

Nadine Jukschat ist Professorin für Angewandte Soziologie an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Hochschule Zittau/Görlitz. Sie ist Kultursoziologin und in der kritischen Kriminologie sowie der qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung verortet. Sie forscht zu Radikalisierung als soziales Problem und seiner gesellschaftlichen Bearbeitung. Von 2018-2021 war sie in der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte zur Radikalisierungsprävention und Demokratieförderung im Strafvollzug im Rahmen der Programmevaluation von "Demokratie Leben!" am Deutschen Jugendinstitut (DJI) tätig. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Demokratieförderung und politische Bildung, soziale Probleme und soziale Kontrolle sowie Methoden rekonstruktiver Sozialforschung.