Redaktion Infodienst: Wer an den Nahostkonflikt denkt, hat meist zwei Perspektiven im Blick: die israelische und die palästinensische. Euer Projekt heißt Trialoge. Was verbirgt sich hinter dieser mutmaßlich dritten Perspektive, und wie genau läuft ein Trialog ab?
Shai Hoffmann: In Israel beziehungsweise in Palästina gibt es nicht nur Muslim:innen oder Jüd:innen, sondern die Gesellschaft ist sehr divers. Es gibt Christen, Drusen, Beduinen, Bahá´i etc. Die israelische Gesellschaft ist sehr vielfältig. Wenn man in Deutschland über Israel spricht, dann wird oft nur der jüdische Teil dieser Gesellschaft gesehen, was aufgrund der Historie Deutschlands sicherlich verständlich ist, in Israel vor allem ein Refugium für das jüdische Volk zu sehen. Besonders in der deutschen Gesellschaft gibt es daher ein großes Unwissen über die Grautöne in der israelischen und palästinensischen Gesellschaft.
Hier knüpfen wir an und wollen eben genau diese vielen Grautöne ansprechen und darstellen. Das betrifft auch politische Positionierungen. Wir wollen sichtbar machen, dass es auch in Israel kritische Stimmen gegen Netanjahu gibt oder dass sich nicht alle Palästinenser:innen von Abbas oder der Hamas vertreten fühlen. Eigentlich sind es auch mehr als drei Perspektiven, die in unseren Trialogen vorkommen – man könnte sagen, es ist ein Kaleidoskop an Perspektiven. Auch der Blick aus einer deutschen Perspektive bringt nochmal eine andere Ebene in die Trialoge – besonders im Hinblick auf innerdeutsche Konflikte in einer postmigrantischen Gesellschaft wird mit Blick auf den Nahostkonflikt auch immer die post-nationalsozialistische sowie post-kolonialistische Ebene mitdiskutiert. Man merkt: ein außerordentlich herausforderndes Spannungsverhältnis.
Jouanna Hassoun: Wir kommen ins Gespräch mit den jungen Menschen an Schulen, auch an Berufsschulen, und hören in erster Linie zu. Wir hören den jungen Menschen zu, weil dort einfach unglaublich viele Emotionen sind, so wie bei uns allen. Und es gibt, glaube ich, keinen Konflikt auf dieser Welt, der so stark emotionalisiert und polarisiert wie der Nahostkonflikt. In Deutschland haben wir eine deutsche Mehrheitsgesellschaft, die sich aufgrund der Historie eher pro-Israel positioniert, gleichzeitig gibt es aber unter Muslim:innen oft eine Einseitigkeit pro-Palästina. Alles, was dazwischen ist, wird oft nicht gesehen und im Grunde genommen werden auch die Menschen nicht gesehen. Es gibt so viele verschiedene Facetten, die beim Nahostkonflikt ausgeblendet werden und es gibt viel Unwissenheit.
Also mit Unwissenheit meine ich, dass zum Beispiel auch junge Menschen manchmal nicht mal wissen, dass es sich bei Israel und Palästina geografisch betrachtet um ein Land handelt. Manche denken, das sind zwei Länder oder drei Länder, die sich bekriegen. Irgendwann hat uns mal jemand gefragt: Wer ist denn eigentlich dieser Herr Gaza? Solche Fragen sind sehr interessant und Shai und ich versuchen in den Trialogen möglichst unpolitisch zu sein. Auch Landkarten sind ja politisch. Deshalb versuchen wir in den Trialogen nicht mit Karten zu arbeiten – manchmal gestalten wir Karten selbst.
Ein Trialog läuft meistens so ab, dass wir uns als erstes mit unserer persönlichen Geschichte vorstellen. Dann geben wir den Rahmen vor, in dem wir uns bewegen: Für uns sind die Trialoge ein „braver space“, also quasi ein mutiger Raum, wo man über herausfordernde und kontroverse Themen sprechen kann, ohne Urteile oder Konsequenzen fürchten zu müssen. Wir ermutigen die jungen Menschen auch dazu, ihre Gefühle mit uns zu teilen. Das ist dann vielleicht hoffnungsvoll oder hoffnungslos oder wütend oder schmerzvoll. Das Setting baut sich eigentlich intuitiv auf, bis wir dann zu der Fragerunde kommen und uns entweder persönliche oder politische Fragen gestellt werden. Und dann geht es uns auch darum zu fragen: Was hat das Ganze mit uns zu tun? Keiner von uns, weder Shai noch ich, können etwas In Israel-Palästina oder in Gaza verändern, leider. Aber was hat das mit uns in Deutschland zu tun? Und wie können wir hier in Deutschland gut zusammenleben? Und wie können wir auch als jüdische und muslimische Menschen dafür sorgen, dass wir nicht auseinandergerissen werden oder gegeneinander ausgespielt werden?
Wie bereitet ihr euch auf die Trialoge vor?
Shai Hoffmann: Gar nicht – und es ist auch glaube ich gut so, weil jeder Trialog anders ist. Alles, was gesagt wird, ist wie so ein kleines Überraschungsei und ich glaube man könnte sich Argumente zurechtlegen. Natürlich hauen uns auch Aussagen um und auch wir sind Menschen, die fühlen und die einen persönlichen Bezug zum Thema haben. Auch in uns löst das, was in den Trialogen gesagt wird, etwas aus – und auch wir ringen mit uns und fragen uns, ob das Konzept, das wir haben, mit fortschreitendem Krieg so noch richtig ist und nicht vielleicht doch revidiert werden muss.
Islamistische Akteure nutzen den Gaza-Krieg aktuell für ihre eigenen Zwecke. Dazu gehören auch Kanäle, die besonders von Jugendlichen auf Instagram und TikTok genutzt werden. Spielen islamistische Narrative in euren Diskussionen mit Schülerinnen und Schülern eine Rolle, und wie geht ihr damit um?
Shai Hoffmann: Jouanna hat die sehr richtige Bezeichnung dafür gefunden, dass Social Media unser Endgegner ist, und es ist tatsächlich so.
Jouanna Hassoun: Islamisten nutzen sehr gerne vor allem den Nahostkonflikt, um junge zarte Seelen zu radikalisieren, und auch das nehmen wir zunehmend wahr. Je länger der Krieg im Gazastreifen anhält und die Bilder – die wirklich verstörend sind und emotionalisieren – auf den Smartphones der Jugendlichen abrufbar sind, die im Grunde genommen durch ihr Smartphone den Krieg in den Händen halten, so lange haben radikale Akteure ein leichtes Spiel.
Es sind islamistische Akteure, es sind aber auch linksradikale und rechte Akteure, die versuchen, diesen Krieg zu instrumentalisieren. In den Trialogen ist uns das ein paar Mal begegnet. In der ersten Zeit war das weniger der Fall, aber vor den Weihnachtsferien hat sich schon abgezeichnet, dass es noch heftiger wird. Ich habe selbst auf Social Media verfolgt, wie Menschen mittlerweile die Hamas als Freiheitskämpfer betiteln, die vorher nie etwas mit der Hamas zu tun hatten und diese eher abgelehnt und kritisiert haben.
Das finde ich persönlich sehr erschreckend und ich nehme wahr, dass die Radikalisierung sowohl mental als auch verbal zugenommen hat. Das führt auch dazu, dass wir in den Trialogen Grenzen ziehen müssen. Wenn der Mord an Menschen legitimiert wird und das Massaker am 7. Oktober als Rechtfertigung für die Unterdrückung der Palästinenser:innen in den letzten 75 Jahren gefeiert wird, dann ist eine Grenze überschritten. Wir können darüber diskutieren, dass die Situation der Palästinenser:innen nicht schön ist, aber es gibt keine Rechtfertigung für ein Massaker.
Gibt es Konflikte unter den Schülerinnen und Schülern, wenn solche radikalen Aussagen in den Raum getragen werden?
Shai Hoffmann: Es gab schon mal Trialoge vor allem mit älteren Schüler:innen, die auch persönliche Bezüge zum Nahostkonflikt hatten. Ich erinnere mich an eine Situation, da waren zwei Schüler:innen mit palästinensischer Familiengeschichte und deutsche Schüler:innen ohne Migrationshintergrund – oder, wie wir sagen, Migrationsvordergrund. Die Deutschen ohne Betroffenenperspektive haben ständig darauf verwiesen, dass es diese schrecklichen Demonstrationen gab, auf denen antisemitische Parolen gerufen wurden – und die gab es ja auch – aber in diesem Moment wurde dieser Schmerz und das Trauma, das der 7. Oktober und seine Folgen auch bei Palästinenser:innen ausgelöst haben, von den anderen Schüler:innen negiert.
Aus der deutschen Perspektive wurde aus einem Schuldkomplex auf die Situation geschaut und immer wieder aufgeführt, dass es keinen Grund gibt, in Deutschland antisemitische Parolen zu rufen. Natürlich gab es sehr problematische Demonstrationen, und gegen diese muss juristisch vorgegangen werden. Und wir müssen auch den Antisemitismus in muslimischen Communitys benennen. Aber die Medien und zum Teil auch Politiker:innen haben dieses Thema auch häufig so geframed, dass der Eindruck entstand, alle Palästinenser:innen und alle Muslim:innen seien antisemitisch. Das alles hat in diese Situation in diesem Trialog hineingespielt und irgendwann war es den Schüler:innen nicht mehr möglich, sich an die Regeln des „braver space“ zu halten. Ein respektvoller Austausch, zuhören und aufeinander eingehen war nicht mehr möglich, sondern es wurden nur noch Standpunkte ausgetauscht.
Jouanna ist dann dazwischengegangen und hat einen kleinen Appell an die Schüler:innen gerichtet, dass jetzt eigentlich die Zeit wäre, betroffenen Schüler:innen beider Seiten zuzuhören und dass es jetzt nicht darum geht, antisemitische Stereotype zu verbreiten. Und da gab es diesen Moment, wo ich das Gefühl hatte: „Ah, interessant, das ist jetzt eigentlich genau der Clash, in dem wir gerade sind, wenn wir über Erinnerungskulturen sprechen“. Auf der einen Seite eben Deutsche mit ihren, ich sag mal, Altlasten, mit den Geschichten ihrer Großeltern und Urgroßeltern, mit eher linken oder konservativen Positionen, also der post-nationalistischen Perspektive, die sie von zu Hause mitnehmen und die eher aus Verantwortungs- und Schuldgefühlen für den Staat Israel und Jüd:innen entstehen. Auf der anderen Seite sitzen in den Klassen aber auch junge Menschen, die sich aus ihrer persönlichen Geschichte heraus für die großen systemischen Fragen interessieren, für Kolonialthemen, also aus der post-kolonialistischen Perspektive argumentieren Diese beiden Weltbilder clashen gerade und das haben wir in der geschilderten Szene exemplarisch erlebt.
Es gibt aktuell Versuche, Antisemitismus und Rassismus gegeneinander auszuspielen. Plötzlich ist von „Opfer-Konkurrenzen“ und „importiertem Antisemitismus“ die Rede. Wie nehmt ihr die Debatte wahr und welche Rolle spielen diese Debatten in eurer täglichen Arbeit?
Jouanna Hassoun: Wir haben gesehen, was in Israel passiert ist und was daraufhin in Gaza passierte und noch passiert. Damit müssen wir schon irgendwie umgehen und klarkommen. Gleichzeitig clashen wir hier in Deutschland mit so einer Rassismusdebatte zusammen, in der jüdische und muslimische Menschen gegeneinander ausgespielt werden.
Auch der Doppelstandard in der Antisemitismusdebatte ist schwer nachvollziehbar. Nur ein paar Wochen nach dem antisemitischen Vorfall rund um Hubert Aiwanger – und ganz zu schweigen von antisemitischen Aussagen anderer Parteien – ist das größte Problem in Deutschland auf einmal der Antisemitismus unter Muslimen. Wenn der Bundeskanzler in diesem Zusammenhang sagt: „In Deutschland gibt es keinen Platz für Antisemitismus“, dann fragt man sich schon, wie ernst er das meint. Ich freue mich, wenn wir das so sagen, aber dann bitte ernsthaft, dann lasst uns doch ernsthaft Antisemitismus bekämpfen! Weder jüdischen noch muslimischen Menschen nützt so eine Plattitüde.
Wir haben ein ernsthaftes Problem mit Rassismus und wir haben ein ernsthaftes Problem mit Antisemitismus in Deutschland. Und diese Probleme müssen wir angehen. Die Debatten über „importierten Antisemitismus“ oder „Opferkonkurrenzen“ nützen am Ende im Grunde genommen nur den Rassisten und nicht den Betroffenen. Mir geht es nicht darum zu sagen, dass es keinen Antisemitismus unter Muslimen gibt – und auch darüber sprechen wir in den Trialogen – im Gegenteil, besonders jetzt sehen wir ja ganz klar, wie Islamisten diesen Krieg nutzen, um antisemitische Narrative zu verbreiten. Das bedeutet, dass wir dagegen angehen müssen, wir müssen auch gegen Antisemitismus unter muslimischen Menschen ernsthaft vorgehen.
Wie geht ihr mit herausfordernden Situationen während der Diskussion mit Schülerinnen und Schülern um? Was hilft euch, und wo kommt ihr aber auch an eure Grenzen?
Shai Hoffmann: Ich merke, dass der 7. Oktober und damit auch der Grund, warum das jetzt in diesem Krieg so eskaliert, dass das immer weiter in den Hintergrund rückt. In den Trialogen habe ich oft das Gefühl, dass die Gräueltaten der Hamas – und somit auch mein Schmerz – da irgendwie keine Rolle mehr spielen. Vereinzelt weisen größtenteils deutsche Schüler:innen ohne Migrationsvordergrund noch darauf hin, dass es ja diesen Anschlag der Hamas gab und dass dabei einfach wahnsinnig viele Menschen ermordet wurden, aber ich habe das Gefühl, dass die Bilder und Videos von dem, was danach passierte – und man muss auch darüber sprechen, ob der Selbstverteidigungskrieg Israels verhältnismäßig ist –, dass das auch einfach den 7. Oktober überlagert.
Und das ist ein Riesenproblem, weil ich das Gefühl habe, dass zum Beispiel auch das, was meine Familie da durchmacht, dass das, was auch das israelische Volk durchmacht, einfach nicht gesehen wird. Da muss ich bei jedem Trialog ein bisschen mehr Kraft aufwenden, um das auch immer wieder zu platzieren – ohne zu wissen, wie die Schüler:innen darauf reagieren. Und das schmerzt mich.
Jouanna Hassoun: Was uns auch hilft, ist das Vertrauen zueinander. Das ist das A und O, dass ich genau weiß, weder Shai noch ich bekommen plötzlich einen Ausraster oder können nicht adäquat auf eine Situation reagieren. Dass wir aber in manchen Situationen auch verletzt sind, ist glaube ich auch normal. Wir sind ja keine Roboter. Wir gehen mit unseren Gefühlen, mit unseren Geschichten in die Trialoge und manchmal reagieren wir halt auch etwas sensibler.
Zum Beispiel, wenn Shai von seinen Großeltern erzählt, die das KZ und die NS-Zeit überlebt haben. Manchmal tuscheln Jugendliche auch in solchen Situationen. Es kann sein, dass sie darüber tuscheln, aber das sind halt auch Jugendliche und manchmal beschäftigen sie sich gerade mit Taylor Swift. Dann muss man in so einer Situation sagen, „Hey Leute, das passt jetzt gerade nicht, könnt ihr mal kurz irgendwie zuhören, denn wir erzählen euch hier gerade etwas sehr Persönliches“. Auch für uns sind diese Geschichten wie Wunden, die dann immer wieder aufgehen. Darüber sprechen wir mit den Jugendlichen. Ich habe das besonders dann, wenn ich erzähle, dass ich Krieg erlebt habe. Das sind die Momente, wo wir manchmal an unsere Grenzen kommen.
Was uns aber auch an Grenzen bringt, sind mittlerweile die ein bis zwei Personen in den Trialogen, die schon radikalisiert sind oder diese Positionen übernommen haben. Da gehen Shai und ich mittlerweile dazu über zu sagen, wir geben der Person einmal den Raum, vielleicht geben wir der Person auch zweimal den Raum, aber dann war es das auch. Wir wollen die anderen 48
In diesen Fällen reicht auch das Konzept der Trialoge nicht aus. Da müssen dann andere Expertisen aus Beratungs- und Deradikalsierungsprojekten, andere Workshops und Konzepte herangezogen werden. Aktuell merke ich, dass meine Resilienz aber an ihre Grenzen stößt. Wir wollen etwas Gutes bewirken mit den Trialogen und gleichzeitig merken wir aber auch gerade, dass es nicht immer funktioniert und die Diskussionen sich verhärten. Ich brauche mittlerweile mehr Abstand zwischen den Terminen, um adäquat damit umgehen zu können.
Bei mir kommen durch den aktuellen Gaza-Krieg viele Kriegstraumata wieder hoch und es kann teilweise in den Trialogen zu retraumatisierenden Situationen kommen. Ein Schüler teilte einmal seine Erfahrung, in einem Video fliegende Gliedmaßen gesehen zu haben. Ich habe das Gespräch gesucht und ihm erklärt, dass er solche Erlebnisse nicht in der Klasse teilen muss, da viele von uns ähnliches durch den Krieg erlebt haben und sich der schmerzhaften Bilder bewusst sind. Es ist nicht notwendig, dies zu verbreiten. Junge Menschen sind sich manchmal der traumatisierenden Wirkung solcher Erzählungen nicht bewusst. Dennoch ist es wichtig, dass Jugendliche, die solche Videos auf ihren Handys ansehen, einen Raum haben, um darüber zu sprechen und ihre Gefühle zu verarbeiten.
Wenn ihr in den Trialogen mit radikalen Äußerungen konfrontiert seid, versucht ihr das einzufangen und eine Form der Gegenrede dagegen zu stellen oder darf tatsächlich alles gesagt werden? Wo zieht ihr Grenzen in den Gesprächen?
Jouanna Hassoun: Also bisher durfte alles gesagt werden, weil das unser „braver space“ quasi hergibt. Wir lassen es aber nicht einfach so stehen. Wir gehen dann ins Gespräch und stellen Fragen, z. B. „Welche Fakten kennst du dazu?“. Wir werden auch oft mit Verschwörungsideologien konfrontiert, z. B. dass die deutschen Medien lügen und es gar kein Massaker gab. Wir ordnen solche Aussagen dann ein, stellen Fakten zur Verfügung und sprechen drüber. Was aber noch viel wichtiger ist, ist Haltung zu zeigen. Wir müssen immer wieder Haltung zeigen. Wir sind nicht hier, um euch zu überzeugen, aber wir sind hier, um mit euch ins Gespräch zu kommen und zuzuhören.
Shai Hoffmann: Genau, und die Hoffnung ist natürlich, dass wenn Jouanna als Palästinenserin sagt, dass die Hamas für sie keine Freiheitskämpfer sind, wir damit noch die Jugendlichen erreichen, deren Weltbild noch nicht so verfestigt ist. Aber wie gesagt, wir sind keine Expert:innen für Deradikalisierung. Es gab tatsächlich einen Fall an einer berufsbildenden Schule, da haben wir später auch mit der Schulleitung gesprochen. Der Schüler hat auch mit vulnerablen Gruppen in seiner Ausbildung gearbeitet und da musste gehandelt werden.
Nach solchen Situationen gehen wir auch mit uns selbst ins Gespräch und überlegen, ob wir diesem Raum, den wir in den Trialogen öffnen, vielleicht doch anders definieren und mehr Grenzen setzen müssen. Da sind wir noch im Gespräch miteinander – wir wollen ja eigentlich einen Raum schaffen, in dem erstmal über alles gesprochen werden kann. Wenn wir diesen Raum nicht anbieten, dann verlieren wir vielleicht auch die jungen Menschen, die sich nicht gehört und gesehen fühlen und die sich dann in anderen Räumen aufhalten, die von radikalen Akteuren bespielt werden.
Jouanna Hassoun: Besonders Islamisten nutzen ja genau dieses Narrativ von angeblichen Meinungsverboten für ihre Propaganda. Dadurch erreichen sie so viele junge Menschen – und dieses Gefühl wollen wir eben nicht vermitteln. Gleichzeitig ist es ein sehr aufgeladenes und sensibles Thema vor allem in Deutschland. In anderen Ländern wird ganz anders diskutiert. Als Erwachsene können wir das reflektieren und sehen die Debatte in Deutschland im Kontext der Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk. Für Jugendliche, die weder zur Tätergeneration noch zu deren Nachfahren gehören, ist diese Sichtweise oft unverständlich. Warum hört die Verantwortung für Menschenrechte bei dem palästinensischen Volk auf, fragen sich dann viele. Warum übernimmt Deutschland hier keine Verantwortung?
Was würdet ihr Lehrkräften jetzt in der aktuellen Situation mit auf den Weg geben? Wie kann man mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch kommen, wie kann man das Gespräch aufrechterhalten?
Jouanna Hassoun: Ich glaube es ist wichtig, sich erst einmal mit der eigenen Haltung und der eigenen Positionierung auseinanderzusetzen. Wenn ich mich mit einer Situation überfordert fühle, dann auch zu reflektieren: Was überfordert mich gerade? Was ist meine Haltung zu dem Thema? Wie differenziert bin ich? Lehrkräfte sind zwar zur Neutralität verpflichtet, was aber nicht bedeutet, dass sie keine Haltung oder Empathie zeigen dürfen. Am wichtigsten ist es zuzuhören und da Grenzen zu setzen, wo menschenverachtende Äußerungen getätigt werden. Wie man die Grenzen setzt, hat viel mit der Beziehung zu den Schüler:innen zu tun.
Wenn ich merke, dass meine Beziehung zur Klasse vielleicht eine solche Diskussion nicht ermöglicht, dann kann ich mir immer auch Hilfe holen. Ich kann Perspektiven in die Klasse einladen – auch von Betroffenen –, die nicht meine Perspektive widerspiegeln. Wichtig ist auf jeden Fall einen Raum zu schaffen, um über Emotionen sprechen zu können. Besonders, wenn in der Klasse auch betroffene Schüler:innen sitzen, sind sichere Räume, in denen die jungen Menschen gehört werden, wichtig.
Shai Hoffmann: Und ich glaube, dass wir eigentlich einen Systemwandel im Schulsystem brauchen, weil ohne einen Systemwandel werden wir diese großen Herausforderungen in der Welt nicht meistern können. Es braucht Räume in der Schule, um die großen Krisen, Konflikte und die Kriege besprechen zu können und auf die Bedürfnisse der Schüler:innen einzugehen, die noch eher als wir Erwachsenen unter diesen Krisen leiden werden. Das lässt sich nicht von heute auf morgen umsetzen, aber es braucht eine Veränderung im Bildungsbereich. Auch das Mitdenken einer diversen Schüler:innenschaft mit unterschiedlichen Erfahrungen, Perspektiven und Bedürfnissen ist zentral. Auch Lehrer:innen sind Menschen und daher auch mit ihren eigenen Emotionen in der Schule – auch hier bräuchte es Räume für Reflexion, Unterstützung und Austausch.
Gibt es denn Situationen, die euch überrascht haben in der Diskussion? Vielleicht auch positiv?
Jouanna Hassoun: Bei einem Trialog war da ein junger Mann aus Syrien, der selbst den Krieg erlebt hat und er hat zu uns gesagt, dass wir ihm Hoffnung machen und dass er sich vorstellen kann, seinen Lebensweg auch so auszurichten und auch Friedensaktivist werden möchte. Er war beeindruckt davon, wie wir uns mit unseren eigenen Geschichten zur Verfügung stellen und ins Gespräch kommen. Das hat mich richtig berührt und dann wein ich auch mit.
Shai Hoffmann: Es gibt immer mal wieder so schöne und überraschende Aussagen von Schüler:innen, aber es geht ja auch um Lehrer:innen und die sitzen auch oft dabei, wenn wir die Trialoge führen. Mir fällt eine Situation ein, in der ich ein besonderes Erlebnis mit einem Lehrer hatte. Es war die Situation, die ich schon geschildert hatte, in der die deutschen und palästinensischen Schüler:innen aneinandergeraten sind. Diese Schule hatte über den 7. Oktober Austauschschüler:innen aus Israel zu Gast. Direkt nach dem 7. Oktober hat sich die Schule pro-israelisch positioniert und hat das Leid der israelischen Schüler:innen sichtbar gemacht. Während des Trialogs haben die palästinensischen Schüler:innen mehrmals geäußert, dass sie von der Schule enttäuscht waren, dass diese sich nicht nach Beginn des Krieges auch solidarisch mit der palästinensischen Bevölkerung gezeigt hat. Nach dem Trialog stand die Lehrkraft auf und hat sich ganz aufrichtig bei den palästinensischen Schüler:innen entschuldigt und meinte, dass die Schule nach diesem Trialog versteht, dass sie sich nicht fair positioniert haben. Das hat mich sehr berührt, dass diese Lehrkraft während dieses Trialogs offenbar bereit war, auch anzuerkennen, dass die andere Seite eben auch einen Schmerz hat, den diese Schule nicht adressiert hat.
Welche Rolle spielen die Lehrkräfte in euren Trialogen?
Shai Hoffmann: Wir werden meist von Lehrkräften in die Schule eingeladen. Anfangs dachten wir, dass wir die Trialoge ohne die Anwesenheit der Lehrkräfte durchführen möchten und merkten, dass die Anwesenheit von Lehrkräften wichtig ist. Wenn wir jedoch merken, dass die Antworten der Schüler:innen sehr zäh sind, bieten die Lehrkräfte von sich aus an, den Raum zu verlassen, damit offener gesprochen werden kann. Meistens funktionierte es auch in Anwesenheit der Lehrkräfte erstaunlich gut und von den Schüler:innen kommen ganz viele Gedanken. Wir haben nun schon öfter die Erfahrung gemacht, dass Lehrkräfte sehr dankbar für die Teilnahme sind, denn auch sie sind mit der aktuellen Situation überfordert und nehmen viel aus den Trialogen mit, wie uns regelmäßig berichtet wird. Insofern freuen wir uns, wenn Lehrkräfte dabei sind, nur dann in der zweiten Reihe, denn der „braver space“ gehört nur ihren Schüler:innen. In der zweiten Reihe ist ihre Rolle dann vor allem aufs Zuhören beschränkt und sie sollen sich nicht aktiv beteiligen – aber auch das bewirkt schon ganz viel, und das hat mich sehr hoffnungsvoll gestimmt.
Wisst ihr wie es an den Schulen weitergeht, wenn ihr wieder weg seid?
Shai Hoffmann: Leider nein, aber das ist natürlich auch etwas, worüber wir uns Gedanken machen, dass wir die Gefühlsbox der Pandora öffnen und uns dann wieder zurückziehen. In manchen Runden äußern wir den Wunsch, dass die Lehrkraft das nochmal aufgreift. Wir müssen aber hier nochmal an unserem Konzept arbeiten und Übungen entwickeln, die die Trialoge im Nachgang besser auffangen können.
Danke euch beiden für das Gespräch und alles Gute.
Wenn Sie sich als Schule für einen Trialog interessieren, dann können Sie eine E-Mail an trialoge@gesellschaftimwandel.org senden. Weitere Informationen finden Sie Externer Link: hier