Hier finden Sie den 2015 erschienen Beitrag von Michaela Glaser, Maruta Herding und Joachim Langner:
Dass sich junge Menschen islamistisch-extremistischen Gruppen und Ideologien zuwenden, ist eine pädagogische und gesellschaftliche Herausforderung. Nicht zuletzt angesichts der Gewalttaten von Gruppen wie dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) oder „al-Qa’ida“ sind Fragen nach den Hintergründen, Motiven und Rahmenbedingungen solcher Hinwendungs- und Radikalisierungsprozesse ein Thema für wissenschaftliche Forschung geworden. Dieser Beitrag fasst zentrale empirische Forschungsperspektiven und ihre Ergebnisse zu diesem Thema kurz zusammen, wozu exemplarisch sowohl auf aktuelle als auch wegweisende ältere Forschungsarbeiten verwiesen wird.
Bedeutung der zentralen Begriffe „Hinwendung“, „Radikalisierung“ und „islamistischer Extremismus“
Gegenstand dieses Beitrags ist die Hinwendung und Radikalisierung zum islamistischen Extremismus. „Hinwendung“ beschreibt die Entwicklung einer ersten Offenheit für islamistisch-extremistische Ideologien und Akteure (Glaser/Herding/Langner 2018). Unter „Radikalisierung“ wird der daran anschließende Prozess der zunehmenden Übernahme extremistischer Einstellungen und der Legitimierung von Gewalt verstanden (Schmid 2013).
Islamistischer Extremismus wird hier als Sammelbegriff für unterschiedliche Gruppierungen herangezogen, die einerseits einen ideologischen Rahmen herstellen, der auf den Islam verweist, und die andererseits als extremistisch verstanden werden können, sich also durch eine Ideologie der Ungleichwertigkeit und Akzeptanz von Gewalt als ‚normaler‘ Konfliktregulierungsform auszeichnen (Heitmeyer 1987). In der Literatur werden davon abweichend ganz unterschiedliche Begriffe wie Externer Link: Dschihadismus, (Dschihad-)Salafismus, gewaltorientierter Islamismus oder religiös begründeter Extremismus verwendet, die ganz oder teilweise synonym zu „islamistischem Extremismus“ gefasst werden können. Wie diese definiert und verwendet werden, unterscheidet sich von Studie zu Studie sehr, wodurch teilweise erst ein Zusammenhang zwischen ganz unterschiedlichen Phänomenen konstruiert wird (Langner et al. 2023). Insbesondere in der internationalen Forschung bilden Befunde so eher Blitzlichter aus einem komplexen und vielschichtigen Spektrum von Erscheinungen (Glaser et al. 2018). Die Begriffe Islamismus und Salafismus können im wissenschaftlichen Diskurs derweil auch religiös-politische Reformbewegungen im Islam bezeichnen (Martin/Barzegar 2009; Steinberg/Hartung 2005), die in weiten Teilen nicht im Sinne der genannten Eingrenzung als extremistisch zu verstehen sind und entsprechend nicht Gegenstand dieses Beitrags sein sollen.
Wichtig ist aber festzuhalten, dass „islamistischer Extremismus“ kein systematisch abgrenzbares Phänomen darstellt, sondern es sich aus einer in Teilen normativen Problemwahrnehmung ableitet. Allein der Begriff „Extremismus“ ist stark durch die Perspektive der Verfassungsschutzbehörden geprägt (Schiffauer 2015; Forum für kritische Rechtsextremismusforschung 2011) und Externer Link: beschreibt selbst zu einem gewissen Grad eine Abweichung von gesellschaftlichen Normen. Wo die Grenzen des „Problematischen“ liegen, ist Teil immer neuer politischer und gesellschaftlicher Aushandlungen. Forschungsperspektiven auf islamistischen Extremismus unterliegen zu einem gewissen Grad auch der Aufmerksamkeitslenkung durch Medien, Sicherheitsbehörden und Politik, in denen das Themenfeld sehr präsent ist. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist in diesem Zusammenhang außerdem herausfordernd, dass diese Problemperspektiven teilweise an (negative) Islambilder anknüpfen (Amir-Moazami 2022; Franz 2018). Forschung zu islamistischem Extremismus hat daher ein Stigmatisierungspotential, das es erforderlich macht, Zuschreibungen und Eigenperspektiven der Akteure differenziert zu reflektieren.
Forschungslage
In den etwas mehr als zwei Jahrzehnten seit dem 11. September 2001 wurde eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten, Analysen und Überblicke veröffentlicht. Vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklungen des islamistischen Extremismus im selben Zeitraum und der Vielzahl unter dem Begriff fassbaren Phänomene ist die empirische Datengrundlage jedoch noch bruchstückhaft. Die Forschungsliteratur zeugt von einem stetigen Ringen der Wissenschaft darum, mit den dynamischen Entwicklungen trotz teils gravierender forschungspraktischer Herausforderungen Schritt zu halten.
Ab Mitte der 2000er Jahre leisteten diverse internationale Studien Grundlagenarbeit in der Untersuchung von Radikalisierungsprozessen. Diese wurden rückblickend überwiegend auf der Basis von Gerichtsakten, Zeitungsartikeln oder Propagandamaterialien (Vidino 2011; Gartenstein-Ross/Grossman 2009; Sageman 2008), teils aber auch anhand von Interviews und teilnehmender Beobachtung in unterstützenden und affinen Milieus (Kühle/Lindekilde 2010, Hemmingsen 2010, Buijs et al, 2006, Wiktorowicz 2005), durchgeführt. Diese Forschungsarbeiten konnten dadurch Radikalisierungsprozesse dokumentieren und darin Einflussfaktoren und Phasen herausarbeiten. Während mit Blick auf Deutschland nur wenige frühe Studien Bezüge zu islamistischem Extremismus herstellen (z.B. Brettfeld/Wetzels 2007, Schiffauer 2000; Bielefeldt/Heitmeyer 1998), wurden seit Mitte der 2010er Jahre vielfältige, vor allem qualitative empirische Forschungsarbeiten zur islamistischen Hinwendung und Radikalisierung junger Menschen in Deutschland durchgeführt (vgl. Kemmesies/Heimerl 2022), die überwiegend auf Interviews und Feldbeobachtungen beruhen. Darunter finden sich bspw. biografische Interviews mit Personen, die sich (zeitweise) islamistisch-extremistischen Gruppen oder Ideologien annäherten oder anschlossen (Frank/Scholz 2023). Selten sind dabei Analysen von Alltagsquellen aus dem Leben in extremistischen Gruppen, wie z.B. ein von Kiefer et al. (2018) ausgewerteter WhatsApp-Chatverlauf. Anhand quantitativer Befragungen untersuchten insgesamt nur einzelne Studien Ausgangsbedingungen für Radikalisierungsprozesse (Goede/Butt 2023; Goli/Rezaei 2010; Brettfeld/Wetzels 2007; Slootman/Tillie 2006).
Forschungsbedarfe liegen weiterhin - auch wenn eine Reihe aktueller Forschungsvorhaben eben diese Schwerpunkte verfolgen (Langner et al. 2023) .- auf geschlechterbezogenen Perspektiven, jugendbezogenen Eigenperspektiven der Betroffenen, Resilienz, Distanzierungsprozessen, Zusammenhängen zu Rassismuserfahrungen sowie Interaktionen mit pädagogischen Angeboten (ebd.).
Prozesse der Radikalisierung verstehen
Die Forschungsbefunde zeigen sehr deutlich, dass sich Radikalisierungsprozesse immer im Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Motive, Hintergründe und Einflüsse entwickeln (Baehr 2019; Glaser et al. 2018; Frindte et al. 2016). Das heißt, sie lassen sich nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen, und die einzelnen Einflussfaktoren stellen für sich genommen keine Radikalisierungsgefährdung dar. Es geht also um komplexe Prozesse, die ganz unterschiedlich und eben nicht einem geradlinig vorhersehbaren Weg folgend verlaufen können. Es sind letztlich Such- und Entwicklungsprozesse häufig junger Menschen, die diese selbst mitgestalten. Ein erstes Interesse an islamistisch-extremistischen Gruppen und Ideologien kann so im Lichte immer neuer Erfahrungen und Ereignisse wieder abbrechen oder in mehrfachen Phasen der Annäherung und Abwendung münden (Frank/Scholz 2023; Niang/Nordbruch 2022).
Um dennoch Gemeinsamkeiten und Strukturen von Hinwendungs- und Radikalisierungsverläufen nachvollziehbar zu machen, haben einige Forschende Modelle entwickelt, die Eckpunkte der Prozesse festhalten. Diese Modelle reichen von stark vereinfachenden Stufen von der Öffnung, Identifikation, Indoktrination zur Verfestigung- und Handlungsebene (Precht 2007; Silber/Bhatt 2007) hin zu komplexen Modellen, die die individuelle Verarbeitung unterschiedlicher Einflüsse sichtbar machen (Frank/Scholz 2023; Frindte et al. 2016).
Verarbeitung biografischer Krisen
Für den Anfang von Hinwendungsprozessen findet Quintan Wiktorowicz (2005) krisenhaft erlebte Erfahrungen, die eine „kognitive Offenheit“ hervorrufen, d.h. die überhaupt erst empfänglich machen für islamistisch-extremistische Botschaften. Diverse Studien aus der Biografieforschung zeigen daran anknüpfend, wie islamistisch-extremistische Angebote jungen Menschen subjektiv als Lösungen für biografische Krisen und Herausforderungen erscheinen können. Die Radikalisierung wird so subjektiv erst einmal als Empowerment bzw. als Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten oder als positive Umdeutung von Scheiternserfahrungen erlebt (Dickmann-Kacskovics 2023; Frank/Scholz 2023; Aslan et al. 2018, Schäuble 2011).
Diskriminierung und gesellschaftlicher Kontext
Die individuelle Verarbeitung biografischer Herausforderungen zeigt in der Forschungsliteratur starke Bezüge zum gesellschaftlichen Kontext, in dem die jungen Menschen aufwachsen. Vor allem, von antimuslimischem Rassismus betroffen zu sein, sowohl in Form individueller Diskriminierung (Meier et al. 2020; Toprak/Weitzel 2017) als auch kollektiv wahrgenommener Demütigung (Goede/Butt 2023; Brettfeld/Wetzels 2007) und Zuschreibungen einer vermeintlichen Gefährlichkeit (Attia/ et al. 2022; Kühle/Lindekilde 2010), zeigen sich als Ausgangspunkt einer Entfremdung von der eigenen Gesellschaft sowie einer Suche nach Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Veränderung. An diesen Erfahrungen können islamistisch-extremistische Ideologien etwa mit Erzählungen von vermeintlichen weltweiten Verschwörungen gegen Muslim:innen ansetzen und mit klaren Antworten auf eine noch größere Entfremdung von der Gesellschaft abzielen (Malthaner/Waldmann 2012; Sinclair 2011). Dadurch kann sich die Wahrnehmung der Diskriminierung sogar noch verstärken (Goli/Rezaei 2010). Dies macht es wissenschaftlich allerdings sehr herausfordernd, entsprechende Zusammenhänge zu belegen. Goede und Butt (2023) belegen jedoch einen Zusammenhang eines niedrigen Selbstwerts männlicher Jugendlicher zu einer hohen Belastung durch individuelle Diskriminierungserfahrungen.
Jugendspezifische Attraktivitätsmomente
Gerade in Bezug auf junge Menschen haben Forschungsarbeiten eine besondere Attraktivität islamistisch-extremistischer Angebote herausgearbeitet: Junge Menschen sind mit der Findung der eigenen Rolle und Identität in der Gesellschaft und gegenüber den Menschen in ihrer Lebenswelt befasst. Islamistischer Extremismus kann ihnen hier ein hohes Maß an Eindeutigkeit in Antworten auf Fragen der Lebensführung und des Lebenssinns geben (Frank/Glaser 2020), Identität stiften sowie Anerkennung und Gruppenzugehörigkeit bieten (Troprak/Weitzel 2017; Venhaus 2010). Zugleich ermöglichen islamistisch-extremistische Angebote Action (Hemmingsen 2010), etwa im Reiz, etwas Besonderes und Verbotenes zu erleben. Sie können so an einem jugendtypischen Bedürfnis nach Provokation und Abgrenzung anknüpfen, indem hier „eine Kombination aus einer radikal gesellschaftskritischen Haltung und sichtbarer Provokation auf der einen Seite und einer extremen Klarheit auf der alltagspraktischen Handlungsebene andererseits“ (El-Mafaalani 2014, S. 360f. ) ausgelebt werden kann. Die enge Zugehörigkeit in der Gruppe mit Abschottung nach außen kann sich schließlich in Hass auf alle, die nicht der eigenen Gruppe angehören, steigern (Sageman 2008, S. 86f.).
Radikalisierung und Religion?
Da sich islamistischer Extremismus in verschiedener Weise auf die Religion des Islam bezieht, stellt sich auch für die Forschung die Frage nach der Rolle von Religion in Radikalisierungsprozessen. Dabei zeigen Studien zu Radikalisierungsprozessen, dass die Betroffenen häufig gerade nicht aus besonders religiösen islamischen Elternhäusern kamen und den Islam für sich erst neu entdeckten oder sie aus einer anderen Religion zum Islam konvertierten. Entsprechend können sie islamistisch-extremistische Ideologien schlechter vor dem Hintergrund unterschiedlicher islamischer Diskurse einordnen (Eser-Davolio et al 2019; Venhaus 2010; Precht 2007). Michael Kiefer u.a. (2018) belegen anhand von Externer Link: Chatnachrichten einer islamistisch-extremistischen radikalisierten Gruppe junger Menschen, dass sich deren Vorstellungen vom Islam aus Internetquellen und eigenen Mutmaßungen zusammensetzen. Biografische Studien machen dennoch deutlich, dass einige junge Menschen mit dem Hinwendungsprozess dabei auch an ihre eigene religiöse Sozialisation im Elternhaus anknüpfen (Frank/Glaser 2020; Aslan et al-2018).
Geschlechterperspektiven
Vor allem aktuelle Forschungsarbeiten haben sich mit Externer Link: geschlechtsspezifischen Perspektiven in der Hinwendung zum islamistischen Extremismus befasst. Dabei wird eine Attraktivität klarer Rollenbilder sowohl für Männer als auch für Frauen betont. Kurt Möller u.a. (2023) arbeiten heraus, dass diese mit unerfüllten Bedürfnissen zur Lebensgestaltung verbunden sind und z.B. mit einer Aufwertung des Selbstbildes als Krieger oder als gute Mutter und Ehefrau einhergehen (ebd.). Gerade für junge Frauen kann das radikal einschränkende Rollenbild als Schutz und Entlastung gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen verstanden werden und so subjektiv als Kontrollgewinn erscheinen (ebd., S. 95f.; ähnlich bspw. Glaser/Johansson 2023).
Medien und Online-Radikalisierung?
Medien, Internet und „Social Media“ sind als selbstverständlicher Teil der Lebenswelt junger Menschen auch für Hinwendungs- und Radikalisierungsprozesse von Relevanz. Zum einen bieten sie eine Externer Link: Möglichkeit, überhaupt mit extremistischen Inhalten und Akteuren in Kontakt zu kommen (Baehr 2020, Gill et al. 2015), deren Online-Angebote teils als jugendnahe Informationen zum Islam wahrgenommen werden können. Grundsätzlich werden Kommunikationsräume im Internet als virtuelle Milieus hervorgehoben, die individuelle Radikalisierungsprozesse ermöglichen und befördern können (Post et al. 2014; Conway 2012). Vor diesem Hintergrund wird diskutiert, ob virtuelle Räume eine von sozialen Kontakten völlig losgelöste Radikalisierung ermöglichen, wie sie unter dem Stichwort „Einsame Wölfe“ diskutiert wird (von Berg 2022). Studien verweisen jedoch darauf, dass sich bei genauerem Hinsehen eine Einbettung in verschiedene On- und Offline-Kontakte zeigt (Gill et al 2015).
Schlussfolgerungen für die Praxis
Die Forschungsbefunde zeigen vielschichtige Hintergründe und Motivationen, die oft für sich genommen unproblematisch sind und erst im Zusammenspiel für die Jugendlichen zu einer Hinwendung und Radikalisierung zum islamistischen Extremismus führen können. Die Hinwendungsprozesse zeigen sich dabei oft als Teil der Bewältigung anderer individueller Problemlagen. Entsprechend empfiehlt es sich für die pädagogische Arbeit, Jugendlichen nicht mit voreiligen Zuschreibungen zu begegnen, etwa indem man sie als potentielle Extremist:innen problematisiert oder gesellschaftliche Problemdiskurse um „Islam“ oder „Einwanderung“ bedient. Stattdessen ermutigen die Forschungsbefunde, Jugendliche mit ihren Bedürfnissen und Wünschen sowie mit ihren Krisen und Herausforderungen des Aufwachsens in den Mittelpunkt pädagogischer Arbeit zu stellen, differenziert hinzuschauen, fallspezifischen Konstellationen Rechnung zu tragen, Anerkennungs-, Bindungs- und Zugehörigkeitserfahrungen zu unterstützen und multiperspektivische Weitsichten zu fördern.