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Türkischer Ultranationalismus als pädagogisches Arbeitsfeld | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

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Türkischer Ultranationalismus als pädagogisches Arbeitsfeld

Tobias Meilicke Sobitha Balakrishnan

/ 22 Minuten zu lesen

In den letzten Jahren haben zivilgesellschaftliche Träger und staatliche Akteure in Deutschland eine bemerkenswerte Zahl an innovativen Projekten in der Extremismusprävention aufgebaut. Arbeitsschwerpunkte waren dabei vor allem die Bekämpfung des deutschen Rechtsextremismus, sowie des religiös begründeten Extremismus. Phänomene wie der türkische Ultranationalismus hingegen wurden bisher hingegen eher stiefmütterlich behandelt – und das, obwohl die Verfassungsschutzberichte die Organisation "Grauen Wölfe" als eine der größten rechtsextremen Bewegungen in Deutschland klar benennen. Nach einer Einführung in das Thema des türkischen Ultranationalismus und die damit einhergehenden Herausforderungen für unsere Gesellschaft stellt dieser Beitrag die wenigen bestehenden Projekte vor und zeigt die Herausforderungen bei der Bearbeitung des Arbeitsfeldes auf.

Zahlreiche Menschen feiern Ende Mai 2023 auf dem Kurfürstendamm ausgelassen den Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Dabei zeigten viele Teilnehmende den sogenannten "Wolfsgruß". (© picture-alliance/dpa, Paul Zinken)

Hinweis

Dieser Beitrag erschien zunächst im Sammelband "'Graue Wölfe': Türkischer Ultranationalismus in Deutschland", herausgegeben von Lobna Jamal und Yaşar Aydın. Der Sammelband kann im Shop der Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: bestellt werden. Für den Infodienst Radikalisierungsprävention wurde der Beitrag überarbeitet.

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Türkischer Ultranationalismus – Begriff, Herkunft, Ideologie

Mit dem Begriff "Türkischer Ultranationalismus" wird in diesem Beitrag eine heterogene Bewegung in Deutschland beschrieben, die sich auf eine Ideologie der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit bezieht und ihre Wurzeln in der Türkei hat. Charakteristisch hierfür sind ein überhöhtes Nationalbewusstsein, die angenommene Höherwertigkeit der eigenen Nation beziehungsweise Ethnie sowie die Ausgrenzung der als nicht zugehörig empfundenen Menschen und ihre Markierung als Feinde – dazu gehören Armenier:innen, Kurd:inen, Jüd:innen, homosexuelle Personen oder auch politisch links orientierte Menschen. Mit dem Ziel der Errichtung eines großtürkischen Reiches namens "Turan" zeichnet sich die Bewegung zusätzlich aus durch ihren expansionistischen Charakter und Herrschaftsanspruch über türkischsprachige Länder vom Balkan bis zur Mongolei. Je nach Gruppierung spielt der Islam außerdem eine unterschiedlich starke, identitätsstiftende Rolle in der Szene – neben dem völkisch verstandenen Türkentum.

Auf die inhaltliche Ausrichtung des Begriffes "Ultranationalismus" gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Je nach Definition wird der Abwertungsgedanke als integraler Bestandteil des Begriffes verstanden. In diesem Text wird der Begriff verwendet, um ein Spektrum von ideologischen Schwerpunkten zu beschreiben – vom Rassismus bis hin zum Faschismus. Daher schließt er die Abwertung von bestimmten Personengruppen ein.

Der Grundstein für diese Ideologie wurde schon zu Zeiten des untergehenden Osmanischen Reiches Ende des 19. Jahrhunderts durch die Bewegung der Jungtürken gelegt. Im Laufe der Zeit wurde die Ideologie in verschiedenen Kontexten aufgegriffen und unterschiedlich weitergesponnen. Einer der ausschlaggebenden Momente für die heutige Bewegung ist die Parteigründung der MHP (Milliyetçi Hareket Partisi; türkisch für "Partei der Nationalistischen Bewegung") und ihrer Anhänger:innen, der sogenannten "Grauen Wölfe". Damit nahm die Ideologie auf parteipolitischer Ebene Form an. Daraus entstanden weitere Strukturen wie paramilitärische Organisationen, die insbesondere gegen Oppositionelle und als Feinde definierte Menschen in der Türkei eingesetzt wurden. Zwischen 1968 bis weit in die 1990er Jahre hinein begingen diese Organisationen hunderte politische Morde in der Türkei (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017).

Ende der 1970er Jahre entstanden in Deutschland die ersten ultranationalistischen (Kultur-)Vereine – unter anderem die "Föderation der türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Europa e. V." (ADÜTDF) – die durch die deutsche Politik lange Zeit geduldet wurden. Zum Teil wurden türkische Ultranationalisten aufgrund ihrer Ablehnung sozialistischer und kommunistischer Gruppen sogar begrüßt. Mit der Entstehung deutscher Ableger wurden teilweise auch politische Konflikte aus der Türkei nach Deutschland verlagert. Vor allem die Auseinandersetzungen mit kurdischen und politisch links zu verortenden türkischen Gruppierungen prägten von den 1970er- bis zu den 1990er-Jahren das Erscheinungsbild der Grauen Wölfe in deutschen Großstädten wie Berlin, Hamburg, Kiel oder auch dem Ruhrgebiet. Immer wieder kam es dabei zu Brandanschlägen, Sachbeschädigungen und Körperverletzungen. Den traurigen Höhepunkt bildete die Ermordung des türkeistämmigen Lehrers und Gewerkschaftlers Celattin Kesim 1980 in Berlin.

Gewalttätige Übergriffe sind jedoch keineswegs nur in der fernen Vergangenheit der ultranationalistischen Bewegungen zu finden. 2016 kam es zu mehrfachen Angriffen auf kurdische Einrichtungen und Bildungsvereine der Gülen-Bewegung. Diese Übergriffe werden Sympathisant:innen des türkischen Ultranationalismus zugeordnet (vgl. Bozay 2022).

Inzwischen ist es wieder etwas ruhiger um Gruppierungen und Netzwerke der türkischen Ultranationalist:innen geworden. Militante Auseinandersetzungen sind mit Ausnahme des ultranationalistischen Rocker-Milieus derzeit eher weniger zu beobachten und wenn dann vor allem bei Demonstrationsgeschehen. Dies mag auch damit zu tun haben, dass die heutige Generation der Grauen Wölfe die Konflikte in der Türkei nicht mehr unmittelbar erlebt (hat), sondern in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Was geblieben ist, ist das identitätsstifte Element der Bewegung – es vermittelt vor allem im Kontext immer noch schwellender Ausgrenzungs- beziehungsweise Integrationsdebatten einigen jungen Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte Stärke und Halt.

Weiterhin bezeichnet der Verfassungsschutz die Grauen Wölfen jedoch als die größte rechtsextremen Bewegung in der Bundesrepublik. Die Zahlen der zuletzt erschienenen Verfassungsschutzberichte sowie aus der Forschung untermauern den hier beschriebenen Bedarf (vgl. Bundesministerium für Inneres, Heimat und Bau 2020, S. 260, 279 ff.) sich mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. In Deutschland leben 12.100 Anhänger:innen der Grauen Wölfe laut Verfassungsschutzsschutzbericht 2022 (vgl. Bundesministerium für Inneres, Heimat und Bau 2023).

Der Einfluss dieser Ideologie der Ungleichwertigkeit lässt sich in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Miteinanders beobachten. So schildern beispielsweise Lehrer:innen und Schulsozialarbeiter:innen Vorfälle an deutschen Schulen, bei denen Jugendliche sich auf eine türkisch-ultranationalistische Identität berufen, um Mitschüler:innen abzuwerten und auszugrenzen. In Jugendclubs finden sich an Wänden Schriftzüge, die zur Gewalt gegen kurdischstämmige Personen aufrufen. In sozialen Medien werden im Umfeld türkischer Ultranationalist:innen antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet. Und auf YouTube finden sich zahlreiche Rap-Videos in deutscher und türkischer Sprache, die die Narrative der Grauen Wölfe aufgreifen. Auffallend ist dabei, dass viele der jungen Menschen ihre Identität oft explizit im Kontrast zu einer deutschen Identität zelebrieren. Und auch im sogenannten kriminellen Rocker-Milieu sind türkisch-ultranationalistische Gruppen auszumachen.

Diese Entwicklungen sollten uns als Gesellschaft zu denken geben. Für das friedliche Miteinander in einer pluralen Gesellschaft stellt der türkische Ultranationalismus eine Herausforderung dar – aufgrund des Überlegenheitsgedankens seiner Anhänger:innen, der aus der exklusiven ethnischen Selbstdefinition resultiert, sowie der damit in den meisten Fällen einhergehenden Abwertung von Personengruppen, die als nicht-zugehörig definiert werden. Diese Herausforderung gilt es präventiv zu bearbeiten in verschiedenen Räumen der politischen Bildungsarbeit, Jugendarbeit sowie der Sozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen.

Die Ideologie des Ultranationalismus und vor allem die Nutzung von Angeboten, die durch ultranationalistische Strukturen gemacht werden, können auch eine einfache Antwort auf erlebte oder wahrgenommene Entfremdungs- und Diskriminierungserfahrungen darstellen. Die Strukturen sind vertraute Räume, die Geborgenheit sowie Solidaritätsgemeinschaft in der Diaspora bieten und den Menschen auch bei Alltagsfragen unterstützend beiseite stehen. Die Präventionsarbeit in diesem Bereich muss sich daher auch mit nicht befriedigten sozialen Bedürfnissen von Menschen mit einer transnationalen Biografie beschäftigen.

An dieser Stelle muss jedoch angemerkt werden, dass Entfremdungserfahrungen selbstverständlich nicht zwangsläufig zu einer Hinwendung zum Ultranationalismus führen und dass außerdem keine Monokausalität unterstellt werden kann. Vielmehr sprechen wir von einem komplexen Geflecht von Pull- und Pushfaktoren, die ein ultranationalistisches Weltbild bedingen können.

Im Fokus einer oben beschriebenen Präventionsarbeit können dabei Jugendliche und junge Erwachsene stehen, die Versatzstücke der Ideologie in ihre Weltbilder integriert haben und/oder einschlägige Narrative reproduzieren. Es geht darum, die jungen Menschen in ihrer Lebensrealität abzuholen, sie zu verstehen und geschützte Sprechräume sowie alternative Erklärungsansätze anzubieten – wobei die Gleichwertigkeit aller Menschen im Zentrum stehen sollte.

Neben dieser jungen Zielgruppe muss sich die Präventionsarbeit in diesem Bereich aber auch eine neue Zielgruppe erschließen, nämlich die der 30- bis 60-Jährigen. Denn Menschen in diesem Alter gestalten und prägen derzeit bundesweit Veranstaltungen und das Vereinsleben von ultranationalistischen Organisationen der Ülkücüler und der Alperenler .

Überblicksdarstellung zur Präventionsarbeit und bestehenden Projekten

Im Folgenden werden die im deutschsprachigen Raum bereits vorhandenen Projekte in der Präventionsarbeit in Bezug auf türkischen Ultranationalismus kurz vorgestellt, um daran anknüpfend die oben angerissenen Herausforderungen in der pädagogischen Arbeit weiter auszuführen. Zielsetzungen sowie die intendierte präventive Wirkung dieser Initiativen werden in aller Kürze erläutert. Die jeweils genannten Verweise ermöglichen bei Interesse eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Projekten.

Diyalog – Fach- und Informationsstelle Türkischer Ultranationalismus

Die in Schleswig-Holstein tätige landesweite Fach- und Informationsstelle "diyalog" unter der Trägerschaft der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. leistet seit Mai 2019 in Form von verschiedenen Bildungsangeboten Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zum Thema des türkischen Ultranationalismus. Dazu gehören niedrigschwellige Workshops für Jugendliche, Fortbildungen unter anderem für Fachkräfte aus Schulen, Jugendhilfe und dem Bereich der Justizvollzugsanstalten sowie Fachvorträge. Darüber hinaus bemüht sich die Fachstelle um eine Weiterentwicklung des Themenfelds sowie eine Vernetzung mit relevanten Akteur:innen.

Kurswechsel – Ausstiegsarbeit Rechts

Kurswechsel ist ein für Hamburg zuständiges Projekt unter der Trägerschaft des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschlands, das über Distanzierungsprozesse aus rechtsextremen Zusammenhängen informiert und Angebote zum sozialraumorientierten Ausstieg macht. Fachkräfte und Multiplikator:innen werden zudem für das Thema sensibilisiert und in ihrer Handlungssicherheit gestärkt. Im Zuge dieser Arbeit entstand 2020 der Schwerpunkt "Nationalistische und (extrem) rechte Gedankenmuster in der (post)migrantischen Gesellschaft in Deutschland" (NaReMi), der Ausstiegsbegleitung für Menschen mit Einstellungen im Zusammenhang mit auslandsbezogenen Ideologien sowie Fach- und Umfeldberatung anbietet. Außerdem werden verschiedene Bildungsformate für Fachkräfte mit dem Ziel der Aufklärung und Sensibilisierung angeboten. In diesem Rahmen wird das Thema des türkischen Ultranationalismus von "Kurswechsel" bearbeitet. Ein wesentlicher Unterschied zu "diyalog" ist hier die angebotene Beratung beziehungsweise Begleitung im Distanzierungs- und Ausstiegsprozess neben den angebotenen Bildungs- und Aufklärungsangeboten.

Beratungsstelle Extremismus Wien

Die Beratungsstelle Extremismus in Wien unter der Trägerschaft von bOJA – dem bundesweiten Netzwerk für Offene Jugendarbeit – ist eine österreichweite Anlaufstelle für Fragen rund um Extremismus. Sie bearbeitet eine Bandbreite an Themen, wie politisch und religiös begründete Extremismen, Verschwörungserzählungen und fundamentalistische Gruppierungen. Mithilfe von Beratungsangeboten sowie fachlicher Expertise werden Hilfesuchende sozialpädagogisch begleitet. Ebenso bietet die Beratungsstelle für Fachkräfte verschiedene Bildungsangebote, die fachlichen Austausch sowie eine Sensibilisierung für die unter "Extremismus" zusammengefassten Phänomene ermöglichen. Teil einer von der Beratungsstelle produzierten Podcast-Reihe sind Beschreibungen von Beratungsfällen mit einem deutlichen Bezug zum türkischen Ultranationalismus nach den Ausschreitungen in Wien-Favoriten, die die Ansätze der Beratungsstelle praxisnah verdeutlichen.

Programm Wegweiser – gemeinsam gegen Islamismus

Seit 1. Oktober 2021 arbeitet das Land Nordrhein-Westfalen am Aufbau von Präventions- und Beratungsangeboten auch im Themenfeld des türkischen Ultranationalismus ("Graue Wölfe" oder "Ülkücü"-Bewegung). Im Rahmen eines zweijährigen Pilotprojektes ist dabei angedacht, die bisher schon bestehenden flächendeckenden Präventions- und Beratungsangebote des Programms "Wegweiser" zu nutzen und um diese neue Thematik zu erweitern. Zunächst bearbeiten die Wegweiser-Standorte in Aachen, Bochum, Bielefeld, Dortmund, Wuppertal und Neuss federführend das Phänomen. Je nach Entwicklung des Arbeitsfeldes und nach einer Evaluation des Pilotprojektes sollen perspektivisch mehr Standorte miteinbezogen werden. Das Angebot des Programms besteht derzeit aus Fortbildungen, Workshops und Sensibilisierungsveranstaltungen für verschiedene Sozialraumakteur:innen. Inwieweit dies fachlich durch die bereits angestellten Berater:innen geleistet werden kann beziehungsweise inwieweit die inhaltlich wichtige Differenzierung zwischen religiös begründetem Extremismus und dem Bereich türkischer Ultranationalismus auch in der Außendarstellung gelingt, bleibt abzuwarten.

Die Beratungsstelle (religiös begründeter) Extremismus Hessen

Unter Trägerschaft von VPN – Violence Prevention Network – bietet die Beratungsstelle in Hessen seit über zehn Jahren Angehörigen und Fachkräften Beratung im Themenfeld des religiös begründeten Extremismus und betreut darüber hinaus ausstiegswillige Personen auch direkt. Im vergangenen Jahr wurde – ähnlich wie in NRW – die Zuständigkeit des Projektes erweitert und auf das Arbeitsfeld des "Extremismus mit Auslandsbezug" ausgedehnt. Nach Angaben von VPN sind bereits erste Anfragen zum türkischen Ultranationalismus zu verzeichnen.

"Demokratie leben!"-Projekte im Themenfeld "Rechtsextremismus und Ultranationalismus im Migrationskontext"

Seit März 2023 unterstützt das Bundesprogramm "Demokratie leben!" über den Innovationsfond die Projekte im Themenfeld "Rechtsextremismus und Ultranationalismus im Migrationskontext". Im Fokus steht die Entwicklung von pädagogischen Ansätzen und Materialien zur Prävention und politischen Bildung. Folgende Projekte werden gefördert:

Es bleibt jedoch festzuhalten, dass es insgesamt wenige Initiativen gibt, die ausschließlich und tiefergehend zu dem Thema arbeiten. Die aktuelle Entwicklung deutet eher darauf hin, dass bereits bestehende Beratungsstellen im Themenfeld religiös begründeter Extremismus zukünftig eine Ausdehnung ihrer Zuständigkeit erleben könnten. Hinzu kommt, dass auch im Bereich der Forschung das Thema in den letzten Jahren nur von wenigen Personen bearbeitet wurde. Von einer flächendeckenden Forschungs- und erfahrungsbasierten Präventionsarbeit, die dem Thema gerecht wird, kann aktuell daher kaum die Rede sein. Im gesamten Bundesgebiet sind lediglich einzelne Anlaufstellen vorhanden, die durch vor Ort gegebene Förderstrukturen und damit zusammenhängende Restriktionen ihre Zuständigkeit auf vorgegebene Regionen begrenzen müssen. Das bedeutet, dass Herausforderungen und Fallaufkommen in vielen Bundesländern nicht sachgerecht von explizit dafür zuständigen Expert:innen bearbeitet werden können. In Nordrhein-Westfalen sind beispielsweise einige Fälle in der Präventionslandschaft der vergangenen Jahre bekannt geworden, die aufgrund fehlender spezifischer Angebote von anderen Anlaufstellen bearbeitet wurden, um die Hilfesuchenden mit ihren Anliegen nicht allein zu lassen. Diese Stellen waren aber eigentlich für Rechtsextremismus oder religiös begründeten Extremismus zuständig. Um eine professionelle Arbeit und eine langfristige Begleitung von Hilfesuchenden zu gewährleisten sowie nachhaltige Präventionsarbeit zu leisten, sollten daher flächendeckend Angebote geschaffen werden, die das Thema des türkischen Ultranationalismus explizit in ihrem Portfolio mitführen.

Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosMaterialien und Broschüren zum türkischen Ultranationalismus

Verschiedene Projekte und Träger haben Handreichungen und Broschüren zum türkischen Ultranationalismus entwickelt:

Herausforderungen pädagogischer Projekte

Die Zielgruppen erreichen und Orte möglicher Ansprachen

Wie für jede pädagogische Maßnahme und politische Bildungsarbeit stellt sich vorweg die Frage, wie relevante Zielgruppen für entsprechende Angebote überhaupt erreicht werden können. Im Kontext einer Prävention von türkischem Ultranationalismus erscheint diese Frage besonders sensibel. Denn wir sprechen hier von Zielgruppen, die nicht nur potenzielle Täter:innen sind, sondern teilweise selbst von täglicher Diskriminierung und Rassismus betroffen sind.

Als Schutzmechanismus haben sich daher entsprechende Personen zum Teil aus gesamtgesellschaftlichen Lebensbereichen wie beispielsweise Sportvereinen mit diversen Mitgliedern zurückgezogen und ihr Leben stark an Vereine gebunden, in denen sie nur noch mit Gleichgesinnten zusammen sind. Konkret ist zu beobachten, wie im Kontext des türkischen Ultranationalismus Vereine inzwischen zahlreiche Freizeitangebote wie Sport, Kultur und Religion oder Ferienaktivitäten für Kinder bereitstellen und fast geschlossene Systeme ausbilden. In diese Systeme mit Präventionsmaßnahmen hineinzukommen und kritische Impulse zu setzen, erscheint nur schwer möglich, werden entsprechende Maßnahmen doch meist direkt als negative Zuschreibung und erneute Diskriminierung empfunden. Hinzu kommen teilweise auch sprachliche Herausforderungen, ist das Vereinsleben doch bis heute vor allem türkischsprachig dominiert.

Die Schule als Institution ist dagegen ein Ort, an dem Menschen verschiedener Herkunft und Einstellungen zusammenkommen müssen und der daher für präventive Maßnahmen vor allem mit jungen Menschen besonders geeignet erscheint. Dabei ist es jedoch wichtig, wie das Thema in den Unterricht beziehungsweise ins Schulleben eingebettet wird. Eine einseitige Problematisierung migrantischer Milieus beispielsweise könnte auch als Ausgrenzungserfahrung wahrgenommen werden und schließlich eher zur weiteren Radikalisierung von jungen Menschen, mit und ohne familiäre Migrationsgeschichte, beitragen. Hinzu kommt, dass Schule heute als Ort der Prävention zahlreicher, vielleicht zu vieler Themen gesehen wird und den damit einhergehenden hohen gesellschaftlichen Ansprüchen aus zeitlichen und personellen Gründen kaum noch nachkommen kann.

Immer mehr entdeckt die Extremismuspräventionsarbeit auch das Externer Link: Internet als neues Arbeitsfeld. Insbesondere Soziale Medien sowie andere Multimedia-Plattformen und damit verbundene Phänomene wie zum Beispiel Influencer:innen und Gaming sind Teil der Lebenswelt von Jugendlichen und daher zur Zielgruppenansprache gut geeignet. Dies trifft im Besonderen für ein Phänomen zu, das sich nur transnational verstehen lässt und dessen Mitglieder ihre Informationen zum größten Teil über das Internet konsumieren und sich über Ländergrenzen hinweg mit anderen Menschen austauschen. Daher sollte dieser Bereich in einer zukunftsorientierten Präventionsarbeit einen festen Platz finden.

Ein weiterer bisher wenig beachteter Ort für die Ansprache von Personen mit Bezug zum türkischen Ultranationalismus sind Gefängnisse. Zwar sitzen anders als im Kontext von Rechtsextremismus oder Islamismus wahrscheinlich wenige Personen in deutschen Strafanstalten, die aufgrund politisch motivierter Gewalttaten mit Bezug zum türkischen Ultranationalismus verurteilt worden sind. Jedoch kann man durchaus feststellen, dass vor allem im Umfeld sogenannter Rocker- oder Boxclubs, wie den "Osmanen Germania" oder "Turkos MC", die Ideologie des türkischen Ultranationalismus ein verbindendes Element zwischen den Mitgliedern ist.

Aus einer ultranationalistischen Weltanschauung heraus werden in dieser Szene dabei auch toxische Männlichkeitsbilder konstruiert, die zum Teil zur vorhandenen Brutalität und Rechtfertigung von Straftaten beitragen. Trotz dieser Beobachtung und positiver Erfahrungen mit sogenannten Aussteiger:innenprogrammen im Kontext anderer Extremismen werden Gefängnisstrafen derzeit kaum genutzt, um entsprechend verurteilten Personen ein Angebot zu machen, gegebenenfalls die Ideologie des türkischen Ultranationalismus zu reflektieren und Distanzierungsprozesse zu unterstützen.

Das Problem thematisieren

Obgleich das Thema pädagogische Beachtung findet, sehen sich Fachkräfte in ihrem Berufsalltag diesbezüglich mit Verunsicherung konfrontiert. Zurückhaltung bei der Ansprache des Themas des türkischen Ultranationalismus wird oft mit der tatsächlich zu beobachtenden oder aber auch angenommenen Emotionalität der betreffenden Personen begründet, zum Beispiel bei der Thematisierung im Klassenkontext oder in einer außerschulischen Jugendeinrichtung.

Fachkräfte äußern in diesem Zusammenhang oft die Sorge, dass dabei Ressentiments auf verschiedenen Seiten geweckt werden könnten, die dem Miteinander, etwa im Klassenverband, schaden könnten beziehungsweise aufgrund von fehlender Expertise nicht adäquat aufgefangen werden können. Dabei handelt es sich um legitime Bedenken, die zunächst eine reflektierte Herangehensweise signalisieren. Problematisch werden derartige Gedankengänge jedoch, wenn kulturalisierende Tendenzen zu beobachten sind: Aussagen wie "Die türkischen Schüler:innen reagieren schon emotional, wenn die Türkei in einem kritischen Zusammenhang thematisiert wird" unterstellen Schüler:innen pauschal eine Unfähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung, die auf ihrer Türkischstämmigkeit fußt.

Wichtig ist hier, aus der in dem Zusammenhang durchaus zu beobachtenden Emotionalität bei einigen keine allgemein existierende Problemlage zu kreieren, sondern die Personen in ihrer Realität ernst zu nehmen und ressourcenorientiert zu arbeiten. Das heißt, es sollten Stärken, Kompetenzen und Fähigkeiten, die sich auch aus der familiären Migrationsgeschichte und dem Umgang mit Diskriminierung ergeben haben, ebenso thematisiert werden wie problematische Einstellungsmuster von Schüler:innen.

Ein weiteres Problem bei der Thematisierung ist eine ethno- und soziozentristische Herangehensweise vieler Fachkräfte, mit der eine Einordnung des Phänomens aus einer betrachtenden Perspektive von außen hervorgeht, die grundsätzlich keine Differenzierung zulässt. Das heißt, auf Grundlage von Normen und Maßstäben, die aus einer hiesigen bildungsbürgerlichen Sozialisation stammen, wird ein transnationales Phänomen mit Wurzeln in der Türkei gemessen. Wenn Jugendliche damit konfrontiert werden, fühlen sie sich unverstanden, was wiederum zu verhärteten Fronten führen kann, obwohl Fachkräfte "nur" Sensibilisierungsarbeit leisten wollten. Ein Ergebnis einer solchen Herangehensweise ist beispielsweise die Gleichsetzung des deutschen Rechtsextremismus ohne Auslandsbezug mit dem türkischen Ultranationalismus, die einen reduktionistischen Charakter mit sich bringt. Beide Ungleichwertigkeitsvorstellungen weisen inhaltliche Schnittmengen auf, sind jedoch nicht deckungsgleich.

Die richtigen Begriffe wählen

Eine Herausforderung, die mit der oben beschriebenen ethnozentristischen Perspektive einhergeht, ist die nicht einheitlich verwendete Begrifflichkeit. Beispielsweise erscheint es kaum förderlich, in der Arbeit mit Jugendlichen vom türkischen Ultranationalismus als "Rechtsextremismus" zu sprechen. Das würde eine Gleichsetzung beider Phänomene bedeuten, die von Jugendlichen mit familiärer Migrationsgeschichte in Deutschland nur schwer auszuhalten wäre. Schließlich greift der deutsche Rechtsextremismus auf generelle Vorurteilsstrukturen und rassistische Ressentiments in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft zurück, unter denen türkisch gelesene Jugendliche nicht selten leiden. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen würde dadurch höchstwahrscheinlich deutlich erschwert oder sogar blockiert werden.

Anhand der Berichterstattung besonders in der Zeit nach den religiös begründeten Anschlägen in Frankreich und Österreich Ende 2020 ließ sich zusätzlich eine undifferenzierte Thematisierung des türkischen Ultranationalismus im Kontext islamistischer Anschläge beobachten. Dabei fällt auf, dass Islamismus beziehungsweise islamistisch begründeter Extremismus und türkisch-ultranationalistische Erscheinungen oft über einen Kamm geschoren werden. Die Tagesschau berichtete beispielsweise am 2. November 2020 unter dem Titel "Frankreich will ‚Graue Wölfe‘ verbieten" von islamistischen Angriffen in Frankreich, ohne zwischen beiden Phänomenen angemessen zu differenzieren (vgl. Tagesschau 2020). Die Zeitung Die Welt brachte am 8. November 2020 unter dem Titel "CSU-Politiker will ‚Graue Wölfe‘ und radikale Moscheen verbieten" ebenfalls beide Phänomene in einem Titel zusammen, wodurch eine inhaltliche Nähe suggeriert wird, die jedoch in dem Artikel nicht differenziert beschrieben wird. Stattdessen wird der Titel durch ein Bild mit dem Wolfsgruß ergänzt.

In dem Artikel wird ein CSU-Politiker zitiert, der ebenfalls beide Themen zusammenbringt und von einem "Doppelschlag gegen Extremismus" sowie von "türkischen Ultranationalisten und radikalen Islamisten" spricht, die dieselben Maßnahmen wie Verbote treffen sollten (vgl. Beug 2020). Damit wird eine Wesensverwandtschaft der verschiedenen Phänomenfelder angedeutet: Islamismus und Ultranationalismus werden miteinander vermengt. Eine differenzierte Auseinandersetzung, die für eine angemessene Präventionsarbeit Grundvoraussetzung ist, wird so erschwert. Islamismus und türkischer Ultranationalismus weisen zwar eine ideologische Nähe und gewisse Schnittmengen auf, sollten jedoch als eigenständige Phänomene Beachtung finden.

Auch Begriffe wie "Ausländerextremismus", der weiterhin von einigen Sicherheitsbehörden verwendet wird, oder Formulierungen wie "sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländer:innen", die in der hier genannten oder leicht abgewandelten Form über die Sicherheitskreise hinaus Verwendung finden, sind irreführend. Vor allem sind sie für den Bereich der Prävention ungeeignet: Die Begriffe haben einen eindeutigen Fokus auf innere Sicherheit und externalisieren gleichzeitig das Problem ins Ausland, was bedeutet, dass es sich lediglich um importierte Konflikte handelt, die zusammenhangslos auf den deutschen Straßen ausgetragen werden. Dadurch kann keine sachgerechte Beschreibung vorgenommen werden, da eine eindeutige Problemverschiebung stattfindet. Leider ist diese Sichtweise allgemein in politischen Diskursen auch ohne die konkrete Verwendung der genannten Begriffe dominant (vgl. Kurier 2020).

In der Wissenschaft sind stattdessen alternative Begriffe eingeführt worden, die jeweils Vor- und Nachteile mit sich bringen. Der Begriff "Transnationaler Extremismus" rückt die transnationalen Verbindungen in den Fokus, die jeweils die lokalen Szenen bedingen und beeinflussen und bekräftigt die Ansicht, dass Ideologien nicht an nationalstaatlichen Grenzen haltmachen. Der Begriff beleuchtet damit ebenso die Bedingungen einer globalisierten Welt, in der Migrationsbewegungen und moderne Kommunikationswege integrale Bestandteile sind.

Der Begriff "Neuer deutscher Extremismus" ordnet Menschen mit Migrationshintergrund als selbstverständlichen Teil der deutschen Einwanderungsgesellschaft ein. Daher werden der türkische Ultranationalismus, aber auch andere Formen des Extremismus mit anderen Auslandsbezügen als Teil der deutschen Extremismuslandschaft gesehen (vgl. Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage 2019). Damit wird der Standpunkt, Extremismen mit Auslandsbezug als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu bewältigen, in den Vordergrund gerückt.

Die Bezeichnung "Neue Form des ethnischen Nationalismus" setzt den Schwerpunkt auf den ethnischen Bezugspunkt in der Ideologie, der unter anderem auch als Reaktion auf Diskriminierungs- und Entfremdungserfahrungen verstanden werden kann. Weder in der Wissenschaft noch in der Praxis gibt es einen Konsens darüber, welcher der genannten Begriffe das Phänomen des türkischen Ultranationalismus akkurat beschreibt. In der Praxis der Präventionsarbeit müssen stets die Implikationen der einzelnen Begriffe für das eigene Vorhaben reflektiert werden.

Die eigene Position reflektieren

Bei der Präventionsarbeit sollten ebenfalls die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen reflektiert werden, in denen sich das Phänomen des türkischen Ultranationalismus sowie die Pädagogik bewegen. Die Präventionsarbeit bewegt sich in einem ständigen Spannungsfeld zwischen dem Grundsatz einer rassismuskritischen sowie diversitätssensiblen Herangehensweise auf der einen Seite und der Stigmatisierungsgefahr durch Benennung von demokratiegefährdenden und menschenfeindlichen Positionen bei Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte auf der anderen Seite.

Allzu häufig werden entsprechend kritisch zu betrachtende Einzelpositionen zum Problem einer ganzen Ethnie oder eines Milieus erklärt und nicht zuletzt von rechten Akteur:innen in Deutschland zur politischen Stimmungsmache ausgenutzt. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass Positionen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit deshalb nicht mehr besprochen werden. Diese Gratwanderung ist richtigerweise Gegenstand einer konstanten Reflexion in der Arbeit der verschiedenen Akteur:innen. In der konkreten Zusammenarbeit mit Jugendlichen kann sie aber gleichzeitig zu einer Herausforderung werden. Ziemlich deutlich wird dieser Zwiespalt beispielsweise bei Organisationen, die einerseits in ihrer Jugendarbeit das Thema kritisch beleuchten möchten und sich andererseits parallel Gedanken machen müssen, wie sie dadurch ihre Zielgruppe nicht verlieren oder "verschrecken".

Weitere Herausforderungen entstehen durch Machtverhältnisse und Hierarchien, die Fachkräfte sowie die Zielgruppe von pädagogischen Angeboten umgeben. Aufgrund der Tatsache, dass sie nicht einfach eliminiert werden können, sollten sie in der Zielgruppenansprache stark berücksichtigt werden. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob eine Autoritätsperson ohne Migrationsbezug aus dem Schulkontext türkisch-ultranationalistische Erscheinungsformen problematisiert, eine Schulsozialarbeiterin aus reinem Interesse das Gespräch dazu sucht oder eine nicht pädagogische Vertrauensperson das Thema in einem neutralen Kontext niedrigschwellig anspricht.

Das bedeutet natürlich nicht, dass weiß gelesene Menschen nicht mit türkeistämmigen Personen über türkischen Ultranationalismus sprechen dürfen. Sie sollten sich dabei aber stets die damit einhergehenden unvermeidlichen Macht- und Hierarchieverhältnisse sowie die unterschiedlichen Lebensrealitäten vor Augen führen. In Gesprächen zwischen und mit Fachkräften fallen oft Sätze wie "Man muss über alles sprechen können" oder "Man muss gegen jegliche Art des Extremismus vorgehen, unabhängig davon aus welchem Land er kommt". Derartige Aussagen enthalten einen legitimen Kern und haben die Intention der Demokratieförderung. Natürlich sollte man über alle Arten des Extremismus sprechen können. Die entscheidende Frage ist jedoch, wie und mit welcher Zielsetzung dies geschieht.

Transnationalität und Diasporasituation mitdenken

Transnationalität sowie die oft damit verbundene tatsächliche oder wahrgenommene Diasporasituation sind zwei weitere Faktoren, die bei der Thematisierung des türkischen Ultranationalismus oft nicht berücksichtigt werden oder zumindest keine angemessene Beachtung finden. Jugendliche und junge Erwachsene in der dritten oder vierten Generation nach der Einwanderung der sogenannten Gastarbeiter:innen bewegen sich in transnationalen, grenzübergreifenden Bezugssystemen. Insbesondere moderne Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten tragen zur Intensivierung dieses Umstands bei. Um diese Menschen in ihrer Lebenswelt abzuholen, ist es dementsprechend unabdingbar, türkisch-ultranationalistische Erscheinungsformen auch als transnationale Phänomene einzuordnen.

Allerdings hält sich in Diskursen der Präventionsarbeit sowie der breiten Öffentlichkeit eine dualistische Sichtweise weiterhin hartnäckig. Deutschland und die Türkei werden in diesem Zusammenhang häufig als die einzigen Bezugspunkte erwähnt. Es wird von zwei voneinander getrennten, auf einer ideologischen Ebene jedoch deckungsgleichen Szenen in der Türkei und in Deutschland gesprochen, wobei die Szene in der Türkei in diesem Verhältnis als Ideengeberin verstanden wird, auf die die deutsche Szene lediglich reagiert. Dabei wird außer Acht gelassen, dass Ereignisse in Ländern wie Österreich und Frankreich oder der Palästina-Israel-Konflikt für die Entwicklung der einzelnen lokalen Szenen eine Rolle spielen. Dies wurde insbesondere im Zusammenhang mit Vorfällen in der zweiten Jahreshälfte 2020 deutlich. Ausschreitungen im Wiener Stadtteil Favoriten im Juni 2020, das Verbot der "Grauen Wölfe" in Frankreich im November 2020 sowie das Aufflammen des Konfliktes zwischen Aserbaidschan und Armenien sind einige Beispiele, anhand derer Auswirkungen festgemacht werden können.

Transnationale Zusammenhänge im Kontext des türkeibezogenen Ultranationalismus sind insbesondere auf einschlägigen, auch deutschsprachigen Social-Media-Kanälen zu beobachten.

Auch weltweit relevante Diskurse, wie etwa in Frankreich, werden aufgegriffen und zum Teil benutzt, um einerseits das "Türkentum" zu glorifizieren und andererseits ein permanentes Bedrohungsszenario für Türk:innen aufrechtzuerhalten. Solidarität mit und Verteidigung der eigenen Gemeinschaft wird dadurch implizit oder direkt eingefordert und die Abgrenzung (zum Schutz) nach außen thematisiert.

Die in diesem Abschnitt eingangs erwähnte Diasporasituation erweitert die Perspektive auf das komplexe Zusammenspiel von verschiedenen Einflussfaktoren. Menschen, die sich als in einer Diasporagemeinschaft lebend verstehen, haben einen besonderen Bezug zum Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern, das sie womöglich als ihre Heimat sehen, pflegen eine idealisierte Vorstellung dessen und zeigen durchaus Überlegenheitsvorstellungen in Bezug auf ihre ethnische oder nationale Zugehörigkeit. Unabhängig davon, ob konkrete Pläne zu einer Verschiebung des Lebensmittelpunktes vorhanden sind, wird der aktuelle Wohnort vielleicht nicht als Endstation wahrgenommen, sondern das als Heimat empfundene Land. Nicht selten spielen dabei starke patriotische Gefühle eine Rolle. Die entscheidende Frage ist, was diese Vorstellungen für die betreffende Person bedeuten.

Für die praktische Arbeit bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass bei der präventiven Bearbeitung des türkischen Ultranationalismus die Wechselwirkung zwischen den Verflechtungen der bisher beschriebenen Einflussfaktoren adäquat berücksichtigt werden muss.

Grundsätze für die Präventionsarbeit und Handlungsbedarf

Abschließend lassen sich einige Grundsätze für eine diversitätssensible Präventionsarbeit zum Thema des türkischen Ultranationalismus zusammenfassen. Es bleibt festzuhalten, dass grundsätzlich ein öffentliches Problembewusstsein vonnöten ist, um die Herausforderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anzunehmen und somit einen sensiblen und produktiven Umgang mit dem Phänomen zu finden. Dazu gehört, dass Jugendliche in ihren individuellen Lebenswelten gesehen und ernst genommen werden. Dies hilft dabei, Vorannahmen und Pauschalisierungen vorzubeugen und einer von außen zugeschriebenen Homogenität entgegenzuwirken. Oft liegen derartigen Annahmen induktive Argumentationsformen zugrunde: Ein Einzelfall aus einer Klasse wird beispielsweise schnell zum Exempel einer ganzen Bevölkerungsgruppe.

Aus den bisherigen Ausführungen wird ein Handlungsbedarf in der Präventionsarbeit deutlich. Neben dem Rechtsextremismus ohne Auslandsbezug, religiös begründetem Extremismus und diversen anderen demokratiegefährdenden Bewegungen braucht der türkische Ultranationalismus ebenfalls einen eigenen Platz in der Präventionslandschaft.

Neben einem öffentlichen Problembewusstsein bedarf es unter anderem an Strukturen und Fördermitteln. Wie im Beitrag deutlich geworden ist, gibt es bundesweit weiterhin nur vereinzelt Initiativen – staatliche Geldgeber:innen haben bisher nur wenig Fördermittel dafür bereitgestellt. Inzwischen ist jedoch ein Umdenken bei Behörden und Politik zu beobachten, wie die die Förderung von themenspezifischen Bildungsprojekten durch das Bundesprogramm "Demokratie leben!" zeigt. Eher zögerlich werden hingegen Beratungsprojekte gefördert, die Distanzierungsprozesse unterstützen könnten. Hier fehlt es an flächendeckenden Förderungen.

Die folgenden Überlegungen können daher als Ideengeber für zukünftige Projekte und Initiativen verstanden werden, die sich explizit mit türkisch ultranationalistischen Erscheinungsformen auseinandersetzen. Dabei sollte zunächst zwischen verschiedenen Zielgruppen differenziert werden, die jeweils unterschiedliche Herangehensweisen erfordern. Hierbei kann grob zwischen Jugendlichen, (jungen) Erwachsenen, straffällig gewordenen Personen sowie Fachkräften unterschieden werden.

Bei Jugendlichen steht der Präventionsgedanke im Vordergrund. Sie sollen im Idealfall niedrigschwellig für demokratiegefährdende Tendenzen sensibilisiert und dagegen gestärkt werden, indem lebensweltorientierte Konzepte in einem dafür geeigneten, geschützten Raum, unter anderem auch online in Sozialen Medien umgesetzt werden. Dabei ist ein wertschätzender, ressourcenorientierter und anerkennender Umgang wichtig.

Für Erwachsene braucht es vor allem Angebote, die es ihnen ermöglichen, positive Erfahrungen mit Diversität zu machen und dadurch gegebenenfalls auch eher den "Schutz" der geschlossenen Systeme türkisch-ultranationalistischer Vereine aufgeben zu können beziehungsweise diesen zu hinterfragen. Hierbei könnten vor allem Migrant:innenselbstorganisationen entscheidende Brückenbauer:innen sein, deren Angebote aufgrund sprachlicher und kultureller Nähe niedrigere Hemmschwellen mit sich bringen.

Darüber hinaus wäre die Bereitstellung von (mehr) sozialpädagogischen Aussteiger:innenprogrammen auch für Personen des türkischen Ultranationalismus durchaus wünschenswert. Denn eine Abwendung von dieser Ideologie geht nicht selten auch mit einem Bruch mit Freund:innen und Familie einher und ist deshalb ein schmerzhafter Prozess, bei dem Unterstützung zum Teil dringend gebraucht wird.

Entsprechend der Zielgruppe verschiebt sich der Fokus der Angebote für Fachkräfte. Hier sollten die Herausforderungen im Berufsalltag, eine wissenschaftsbasierte differenzierte Auseinandersetzung, kritische Eigenreflexion sowie das Finden einer eigenen kritisch zugewandten Haltung zu entsprechenden Personen im Mittelpunkt der Beschäftigung mit dem Thema türkischer Ultranationalismus stehen. Fachkräfte sollten ermutigt werden, sich dem Thema zuzuwenden, statt aus falscher Scheu die Augen davor zu verschließen.

All diese Ansätze folgen der Grundprämisse der ganzheitlich gedachten politischen Bildungs- und Präventionsarbeit, die nicht im luftleeren Raum, sondern mit Einbezug der verschiedenen Einflussfaktoren erfolgt.

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studierte Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Naher Osten, Islamwissenschaft und Soziologie und ist seit vielen Jahren in verschiedenen Positionen im Bereich der Extremismusprävention tätig. 2022 gründete er mit Kolleg:innen das Interdisziplinäre Zentrum für Radikalisierungsprävention und Demokratieförderung e. V. (IZRD), in dem er derzeit Geschäftsführer ist.

ist Kontaktbeamtin für muslimische Institutionen beim Polizeipräsidium Bochum. Davor war sie tätig im Programm "Wegweiser – gemeinsam gegen Islamismus" sowie bei der Fachstelle diyalog, die Präventions- und Aufklärungsarbeit zum Türkischen Ultranationalismus anbietet. Sie hat Kultur- und Sozialanthropologie, Religionswissenschaft sowie Migration und Diversität studiert.