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Im Februar 2021 wurde Ahmad Abdulaziz Abdullah Abdullah, besser bekannt als "Abu Walaa", wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie Terrorismusfinanzierung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehneinhalb Jahren verurteilt. Er hatte über Jahre als Hauptimam in der Moschee des "Deutschsprachigen Islamkreises Hildesheim" (DIK) gewirkt und in dieser Funktion zu Anschlägen in der Bundesrepublik Deutschland aufgerufen und Ausreisen in das Gebiet des sogenannten Islamischen Staates unterstützt – auch durch persönliche Kontakte zur Führung der Terrororganisation.
Über Jahre war die Hildesheimer Moscheegemeinde – auch durch das Betreiben von Abu Walaa – "das faktische Zentrum des IS in Deutschland" (Klevesath et al. 2022, S. 7) und ein Brennpunkt dschihadistischer Ausreiseaktivität in Deutschland – ein sogenanntes "Hotbed"
Der DIK Hildesheim
Entstehung
Die Moscheenlandschaft in Hildesheim bestand vor der Gründung des DIK im Jahr 2012 über Jahrzehnte aus zwei Moscheen: einer DİTİB-Moschee und der Ayasofya-Moschee. Letztere war die erste Moschee in der Stadt und steht der Millî Görüş-Bewegung nahe, wenngleich sie formal nicht deren Dachverband angehört. In der Phase der Spaltung der Millî Görüş 1984 sympathisierte die Gemeinde der Ayasofya-Moschee zwischenzeitlich mit dem sich abspaltenden "Kalifatstaat" von Cemaleddin Kaplan, der 2001 verboten wurde.
Während die Ausrichtung der DİTİB-Moschee – in Übereinstimmung mit ihrer Zugehörigkeit zum türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten Diyanet – sich sehr stark an türkeistämmige Musliminnen und Muslime richtete, war die Ayasofya offener gegenüber arabischstämmigen und anderen Besucherinnen und Besuchern. Dennoch war auch die Ayasofya-Moschee – zumindest hinsichtlich des Anteils der Gläubigen – von Türkeistämmigen dominiert. Ein Streit innerhalb der Gemeinde der Ayasofya-Moschee und insbesondere im Vorstand in den frühen 2010er-Jahren führte zu einer Abspaltung, aus der schließlich die Moscheegemeinde des DIK hervorgehen sollte. Die Einschätzungen bezüglich der Ursache des Streits weichen stark voneinander ab – die beiden konkurrierenden Auffassungen innerhalb der muslimischen Community sind einerseits, dass ein Teil der Gemeindemitglieder stärker salafistisch geprägte Überzeugungen vertreten habe, und andererseits, dass der Konflikt teilweise einen ethnischen Hintergrund gehabt und sich am Führungsverhalten einiger Vorstandsmitglieder entzündet habe.
In der 2012 gegründeten Moscheegemeinde des DIK fanden fortan Predigten in deutscher Sprache statt, was mehr Inklusivität gewährleistete, gleichzeitig aber auch der salafistischen Mainstreamüberzeugung entspricht, dass Predigten in der Landessprache besser zur Da'wa
Ehemalige Besucher der DIK-Moschee erinnern sich, dass die Moschee in der Zeit ihrer Gründung ein Ort war, der durch Gemeinschaft und Zusammenhalt gekennzeichnet war und an dem eine entspannte Atmosphäre herrschte. Wenngleich der DIK ein großes Spektrum an Gläubigen versammelte, war die Gemeinde in ihrer Ausrichtung schon vor Abu Walaa salafistisch geprägt. Zwar waren die Partizipation in der Gemeinde und ein Lebensstil, der von den Normen des orthodoxen Islams abweicht, zu diesem Zeitpunkt noch nicht unvereinbar. Jugendliche nahmen jedoch bereits eine zunehmend rigide Glaubenspraxis des puristischen Salafismus an und dienten als Multiplikatoren in ihren Freundeskreisen. Eine Peer-to-Peer-Rekrutierung war also bereits gegeben.
Konsolidierung
Der DIK war gut in der salafistischen Szene vernetzt und hatte schon kurz nach der Gründung einschlägige Prediger wie Ahmad Armih ("Abul Baraa"), Muhamed Ciftci, Sven Lau, Efsthathios Tsiounis und Abdelilah Belatouani ("Abu Rumaisa") zu Gast. Unter anderem wurden dort Islamseminare über die Weihnachtsfeiertage oder während des Ramadans abgehalten, welche die Sicherheitsbehörden schnell in einen Zusammenhang mit erhöhter Ausreiseaktivität zu dschihadistischen Gruppen nach Syrien und in den Irak bringen konnten. Die Seminare hatten überregionale Anziehungskraft. Auch Anis Amri, der 2016 den Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz verübte, hatte im Jahr zuvor in der Moschee des DIK über die Weihnachtsfeiertage ein Seminar Abu Walaas besucht, der ab 2012 in der Gemeinde tätig war.
Mit Abu Walaa als charismatischer Führungsfigur entwickelte die Gemeinde ihre volle Anziehungskraft. Wie andere Prediger war er ab dem Zeitraum zwischen 2012 und 2013 öfter zu Gast, ab 2014 war er dann regelmäßig vor Ort und wurde auf Betreiben eines Vorstandsmitglieds, das ihn schon länger kannte, als Hauptimam und "Amir"
Zusätzlich zu den öffentlichen Predigten fanden auch Treffen im Keller der Moschee statt. Zwar wurden diese Islamseminare öffentlich und bundesweit beziehungsweise international beworben, jedoch waren die Schutzmaßnahmen vor Ort umfangreich. Wenn sich der Zirkel um Abu Walaa traf, mussten elektronische Geräte zuvor eingeschlossen werden, es wurde Geheimhaltung angemahnt und Verrätern sogar mit dem Tod gedroht. Auch die digitale Kommunikation wurde zur Abschottung nach außen vom Messenger WhatsApp zu Telegram verlegt, da der Messengerdienst nach eigenen Angaben einen größeren Schutz der Privatsphäre versprach.
Die Islamseminare hatten eine zentrale Rolle bei der dschihadistischen Radikalisierung. In diesem Rahmen wurden etwa Naschids des "IS" gesungen (Naschids sind religiöser A-Capella-Gesang im Islam) und die persönliche Bewunderung für die Terrororganisation offen ausgedrückt. Im Nachgang der Seminare kam es vermehrt zu Ausreisen und Ausreiseversuchen von Personen nach Syrien oder in den Irak.
Es wird deutlich, wie bedeutend Abu Walaa für die Radikalisierung von Teilen der Gemeinde war. Diese Rolle auszufüllen gelang ihm auch durch seine Wirkung – insbesondere auf junge Menschen. Er befriedigte das Bedürfnis junger Musliminnen und Muslime nach spiritueller Erfahrung im Glauben und Wissen über den Islam. Seine Koranrezitation wird von ehemaligen Moscheebesuchern als kunstvoll und schön beschrieben, der Stil seiner Predigten emotionalisierte die Gläubigen. Er präsentierte Jugendlichen ohne Schulabschluss oder berufliche Perspektive den bewaffneten Kampf für den Islam und den Tod als Märtyrer als sinnstiftende Ziele für ihr Leben. Das intensive Gemeindeleben mit Freizeitaktivitäten abseits der religiösen Praxis wirkte für junge Menschen gemeinschaftsbildend und identitätsstiftend, und manche rekrutierten wiederum Gemeindemitglieder aus ihrem eigenen Freundeskreis. Abu Walaas eigene Lebensführung, die streng an Koran und Sunna
Razzia und Schließung
Schon vor der ersten direkten Intervention der Sicherheitsbehörden hatte es sowohl extern als auch gemeindeintern Kritik an den Inhalten und dem Führungsstil Abu Walaas gegeben. Nach der ersten Razzia im Juli 2016 gab es regelmäßige Auseinandersetzungen. Letztlich wurden Kritiker jedoch verdrängt. Im November desselben Jahres wurde Abu Walaa schließlich verhaftet, ebenso wie vier weitere Personen, denen vorgeworfen wurde, ein Netzwerk zur Beförderung von Ausreisen gebildet zu haben.
Der niedersächsische Verfassungsschutz hatte nach eigener Aussage bereits kurz nach der Gründung vom DIK Notiz genommen, da schon in der Satzung die salafistische Ausrichtung klar zum Ausdruck gekommen sei. Insbesondere das Gewaltpotenzial habe man jedoch lange unterschätzt (Klevesath et al. 2022, S. 56). Die intensive Beobachtung ab 2013 habe ergeben, dass die Moschee im klaren Zusammenhang mit Ausreisen zum "IS" stand, sodass 2016 zweimal Durchsuchungen stattfanden und schließlich die Festnahmen erfolgten. Im Rahmen der Verhaftungen stürmten Einsatzkräfte auch die Räumlichkeiten der Moschee.
Im März 2017 wurde der Moscheeverein dann endgültig durch das niedersächsische Innenministerium verboten und sechs Monate später das Strafverfahren gegen Abu Walaa und vier Mitstreiter vor dem Oberlandesgericht Celle aufgenommen.
Nachwirkungen in der Stadtgesellschaft und der muslimischen Community
Die Geschehnisse rund um den Deutschsprachigen Islamkreis Hildesheim haben in der Stadt und insbesondere in der muslimischen Community deutliche Spuren hinterlassen. Während der Einsatz und das Vorgehen gegen den DIK von behördlicher Seite aus eine Notwendigkeit darstellte, äußerten vor allem einige Musliminnen und Muslime auch Kritik an der Art und Weise der Intervention. Ihre Kritik betraf vor allem die mangelnde Sensibilität der Sicherheitsbehörden gegenüber religiösen Gefühlen, welche unter anderem durch den Polizeieinsatz in der Moschee verletzt wurden – hier wurden die Scheiben eingeschlagen, die Tür mit einem Rammbock geöffnet und Einsatzkräfte hatten den Gebetsraum mit Stiefeln betreten. Kritik dieser Art wurde sowohl von Gemeindemitgliedern als auch von Musliminnen und Muslimen geübt, die keinen Bezug zum DIK hatten.
Auch der nachträgliche Umgang mit den Räumlichkeiten des Vereins wurde von ehemaligen Gemeindeangehörigen beanstandet. Die Beschlagnahmung der Immobilie durch die Behörden wurde von ihnen als ungerecht empfunden und sie sahen darin eine Kriminalisierung der Gemeinde als Ganzes. Zur negativen Bewertung durch einige Musliminnen und Muslime hat auch der Eindruck beigetragen, dass durch den Einsatz und die mediale Berichterstattung darüber die muslimische Community Hildesheims insgesamt in Verruf gebracht worden sei.
Die Stadt traf diverse Maßnahmen, um auf den "DIK-Komplex" zu reagieren: So wurden Einrichtungen zur Begegnung und zur Kinderbetreuung geschaffen, um den sozialen Zusammenhalt im Stadtteil zu stärken. Grundsätzlich wurde und wird versucht, die sozioökonomische Situation in der Nordstadt zu verbessern. Zudem wurde eine lokale Anlaufstelle gegen religiös begründete Radikalisierung und Demokratiefeindlichkeit unter dem Dach der Caritas geschaffen und eine kommunale Konfliktberatung über das Forum Ziviler Friedensdienst eingeleitet.
Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass die dschihadistische Szene heute in Hildesheim keinen Anlaufpunkt außerhalb von Privatwohnungen mehr hat (Klevesath et al. 2022, S. 63). Anhänger Abu Walaas haben in Teilen ihren Aufenthaltsort in andere Städte Niedersachsens verlagert.
Implikationen für die Prävention dschihadistischer Radikalisierung
Die Betrachtung des Falles des Deutschsprachigen Islamkreises Hildesheim als ein dschihadistisches Hotbed zeigt, dass sich durchaus verallgemeinerbare Faktoren identifizieren lassen, welche zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Am geringsten kann hierbei der Aspekt der lokalen Missstände – jedenfalls im Hinblick auf sozioökonomische Variablen – gewichtet werden. Zwar trifft es zu, dass die Hildesheimer Nordstadt in diesem Kontext schlechter aufgestellt ist als andere Stadtteile; dies ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal. In vielen Städten Deutschlands, in denen es "Brennpunktviertel" gibt, etabliert sich dennoch keine dschihadistische Moschee.
Betrachtet man das religiöse Angebot, welches offensichtlich von jungen Musliminnen und Muslimen als unzureichend wahrgenommen wurde, als lokalen Missstand, zeigt sich allerdings die Bedeutung dieses Faktors. Auch die Peer-to-Peer-Rekrutierung unter den Jugendlichen und die damit einhergehende soziale Bindung in der Moscheegemeinde des DIK sind von großer Relevanz. Der entscheidende Punkt, welcher die Entwicklung des DIK hin zu einem dschihadistischen Hotbed möglich machte, ist jedoch die charismatische Führungsfigur Abu Walaa selbst. Erst durch seine Präsenz wuchs die Gemeinde stark an, seine Wirkung auf junge Menschen band diese an den DIK.
Zwar war der DIK in der Lage, das vollständige Ausmaß der eigenen Radikalität in der Außendarstellung in der Stadtgesellschaft zu verbergen – so nahm die Moschee an interreligiösen Dialogformaten oder dem Tag der offenen Moschee teil und war nie verschlossen. Dennoch galt sie außenstehenden arabischstämmigen Musliminnen und Muslimen schon früh unter der Führung Abu Walaas als "IS-Moschee" (Klevesath et al. 2022, S. 50). Aus der Unverhandelbarkeit der eigenen Standpunkte machten Vertreter des Vereins bei öffentlichen Auftritten ebenfalls kein Geheimnis. Auch die Freitagspredigten, in denen der Dschihad verherrlicht und "IS"-Apologetik betrieben wurde, waren öffentlich zugänglich.
Die Isolierung solch charismatischer Führungsfiguren kann nur in resilienten muslimischen Communitys und Gesellschaften gelingen, in denen insbesondere junge Gläubige ein religiöses Angebot vorfinden, das ihren Bedürfnissen entspricht. Auch die Art der Kommunikation durch Sicherheitsbehörden ist von Bedeutung. Inwiefern in einem Einsatzszenario das Betreten eines Gebetsraumes ohne Schuhe realistisch ist, ist fraglich. In einen respektvollen Dialog mit der muslimischen Community zu treten und retrospektiv die taktischen Notwendigkeiten eines Polizeieinsatzes zu kommunizieren, hätte einen Teil des Unmuts abbauen können. Grundsätzliche Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle und Kommunikation auf Augenhöhe kann zu einem Vertrauensverhältnis beitragen, in dem problematische Akteure schneller identifiziert und gemeinsam Strategien erarbeitet werden können.
Fazit
Der Fall des DIK als Zentrum des "IS" in Deutschland besitzt für die Betrachtung dschihadistischer Hotbeds in der Bundesrepublik große Bedeutung. Aus einer Moscheegemeinde mit bereits vorhandenen religiösen Spannungen und ungedecktem spirituellem Bedarf ging eine salafistisch geprägte Gemeinde hervor, in der auch nicht-salafistische Gläubige verkehrten. Der Einfluss der charismatischen Führungsfigur Abu Walaa resultierte in einem starken Anstieg der Zahl der Besucherinnen und Besucher und gleichzeitig in einer drastischen Radikalisierung eines Teils der Gemeinde hin zum Dschihadismus. In diesem Zusammenhang kam es auch zu zahlreichen Ausreisen in das Gebiet des sogenannten Islamischen Staates. Abu Walaa war in der Lage, mit gemeinschafts- und identitätsstiftenden Angeboten insbesondere junge Musliminnen und Muslime an sich zu binden, welche wiederum weitere Anhängerinnen und Anhänger aus ihren sozialen Bezugsgruppen rekrutierten.
Der Fall zeigt, wie bedeutsam auch Präventionsansätze sind, die sich nicht nur mit Individuen befassen, sondern auch soziale Räume wie den DIK beziehungsweise die Hildesheimer Nordstadt als Ganzes in den Blick nehmen sowie Ansätze, die Resilienz in muslimischen Communitys aufbauen und Vertrauen im Umgang mit der Gesamtgesellschaft und Behörden schaffen. Moscheegemeinden müssen daran arbeiten, religiöse Angebote zu schaffen, mit denen sie die Bedürfnisse junger Gläubiger bedienen.
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