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Die Schule ist neben der Familie der zentrale Ort, an dem Kinder und Jugendliche sozialisiert werden. Ihre Sonderstellung verdeutlicht sich daran, dass sie als institutionelle Instanz nahezu alle Kinder und Jugendlichen erreicht und einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leistet (Hurrelmann/Bauer 2015). Dabei spielt sie eine wichtige Rolle in der Vermittlung von Wissen und Qualifikationen, ebenso wie in der Stärkung sozialer Bindungen und der sozialen Identitätsbildung (Fend 2008).
Zahlreiche Präventionsprojekte im Phänomenbereich Islamismus setzen im Klassenzimmer an, um Radikalisierung frühzeitig zu erkennen und vorzubeugen. Ihr Grundgedanke ist, dass sich gesellschaftlich-kohäsive Wirkungen entfalten, wenn sich Kinder und Jugendliche verschiedener (religiöse) Weltanschauungen, sozialer und ethnischer Herkünfte sowie sexueller Orientierungen kennenlernen und anerkennen. Idealerweise fungieren Lehrkräfte hier als Vorbilder für einen gleichberechtigten und wertschätzenden Umgang mit Vielfalt und schaffen Erfahrungsräume des respektvollen Miteinanders und Demokratielernens.
Der vorliegende Beitrag diskutiert die Rolle der Schule im Kontext von Prävention und Deradikalisierung auf Grundlage zweier Untersuchungen im Rahmen des Forschungsprojektes "Distanz"
Die zweite Studie ist eine quantitative teilstandardisierte Bedarfserhebung. Befragt wurden pädagogische Fachkräfte zu ihren Herausforderungen und Bedarfen im Kontext von religiöser Vielfalt und (vermeintlicher) islamistischer Radikalisierung im Schulalltag. Die nicht-repräsentative Stichprobe umfasst 168 pädagogische Fachkräfte an Schulen einer deutschen Großstadt. An der Erhebung haben vor allem Lehrkräfte (73,8 Prozent) und Schulsozialarbeitende (16,1 Prozent) teilgenommen. Diese waren zum Zeitpunkt der Erhebung insbesondere an Berufs(fach)schulen (44 Prozent), Gymnasien (31 Prozent) sowie Realschulen (17,3 Prozent) tätig.
Die Ergebnisse beider Untersuchungen werden im Folgenden genutzt, um die Bedeutung von Schule im Kontext von Radikalisierungsprävention zu erörtern.
Schule als Ort der Prävention
Zunächst lohnt ein Blick auf die Daten des Forschungsverbundes "Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung" (MAPEX). Diese weisen die Schule als eines der wichtigsten Felder der Radikalisierungsprävention aus. So waren im Jahr 2020 74 Prozent der Präventionsprojekte in Deutschland im Handlungsfeld Schule verortet, 94 Prozent davon im Bereich der primären/universellen Prävention (Behr et al. 2021).
Während primäre Prävention Radikalisierung vorbeugen soll, wird mit sekundärer Prävention anteilig sowie mit tertiärer Prävention maßgeblich eine Deradikalisierung beziehungsweise Distanzierung angestrebt (für eine ausführliche Übersicht und Diskussion der etablierten Präventionstrias siehe Ceylan/Kiefer 2018 sowie den Infodienst-Beitrag "
Doch auch innerschulisch gibt es Chancen, demokratische Kompetenzen zu vermitteln und Extremismen zu thematisieren – etwa in Unterrichtsfächern, die sich mit Werteerziehung und politischer Bildung befassen. Hohe gesellschaftspolitische Erwartungen werden dabei in den islamischen Religionsunterricht gesetzt, der im Schuljahr 2019/2020 an etwa 900 Schulen erteilt wurde, überwiegend im Rahmen von Modellprojekten (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2021). Durch den islamischen Religionsunterricht sollen die Repräsentation und Teilhabe muslimischer Jugendlicher gestärkt werden. Zudem zielt islamischer Religionsunterricht auf eine Glaubensvermittlung ab, die sowohl wissenschaftlich fundiert und bekenntnisorientiert ist als auch mit Menschenrechten und Menschenwürde im Einklang steht (Stein et al. 2021).
Es besteht jedoch die Gefahr, dass der islamische Religionsunterricht durch zu viele Erwartungen thematisch überfrachtet wird: Er soll Integration und Zusammenhalt fördern, die gesellschaftliche Wahrnehmung des Islams normalisieren sowie Radikalisierung vorbeugen. So kann angemahnt werden, dass diese Ansprüche nicht dem Grundgedanken eines schulischen Religionsunterrichts entsprechen und dass Lehrkräfte diesen kaum gerecht werden können.
Neben primärpräventiven Maßnahmen spielt Schule auch eine wichtige Rolle in der Sekundär- und Tertiärprävention. Pädagogische Fachkräfte sehen sich zunehmend damit konfrontiert, islamistische Radikalisierungstendenzen zu erkennen und sich an sogenannten Clearingverfahren zu beteiligen, in denen Hilfebedarfe und die Anbindung an konkrete Unterstützungsangebote geklärt werden. Um diese Aufgaben erfüllen zu können, erhalten sie Fort- und Weiterbildungen, zum Beispiel durch Mitarbeitende von Präventionsprojekten.
Herausforderungen in der Früherkennung von Radikalisierung
In der nicht-repräsentativen teilstandardisierten Bedarfserhebung an Schulen geben 31,3 Prozent der befragten Fachkräfte an, im Schulkontext Erfahrungen mit radikal-islamistischen Aussagen oder Einstellungen gemacht zu haben. Hierbei werden vor allem folgende Aspekte benannt:
Ablehnungshaltungen gegenüber Nicht-Musliminnen und Nicht-Muslimen (28,6 Prozent),
Antisemitismus (25,7 Prozent),
Sexismus (22,9 Prozent),
Ablehnung von LGBTIQ sowie
positiver Bezug auf extremistische Gruppen und/oder Attentate (jeweils 14,3 Prozent).
Nach ihren konkreten Erfahrungen mit radikal-islamistischen Aussagen oder Einstellungen im Schulkontext befragt, berichten die Fachkräfte von Äußerungen wie "Juden sind Verbrecher" und "Israel hat kein Recht auf sein Land". Sie beschreiben, dass Schülerinnen unter "Druck [stehen] sich 'islamischer' zu kleiden" und berichten von "(scheinbar) religiös begründete[r] Ablehnung andere[r] Lebenswelten, insbesondere im Bereich (Homo-)Sexualität, Ehen, Beziehungen". Teilweise werden die Aussagen in direkten Bezug zu fundamentalistischen Tendenzen gesetzt. Es muss jedoch festgehalten werden, dass vielfach gruppenbezogene Ablehnungshaltungen geschildert werden, die nicht ohne weiteres als islamistisch eingeordnet werden können – auch wenn sie so von den Fachkräften entsprechend gedeutet werden.
Lehrkräfte und Schulsozialarbeitende stehen vor der Herausforderung, menschenfeindlichen Einstellungen entschlossen zu begegnen. In einem Schulalltag, der von vielschichtigen pädagogischen Aufgaben geprägt ist, suchen die Fachkräfte nach angemessenen Reaktionsmöglichkeiten auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – insbesondere, sobald ein Verdacht auf islamistische Radikalisierung besteht. Dementsprechend gibt die Mehrheit der Befragten (57,4 Prozent) an, dass die Mitarbeitenden der Schulen Fortbildungsbedarfe im Zusammenhang mit islamistischer Radikalisierung haben.
Akteurinnen und Akteure der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit betonen in der qualitativen Interviewstudie die wichtige Rolle der sogenannten Regelstrukturen – etwa Bildungsinstitutionen oder Jugendarbeit – um Radikalisierungsprozesse frühzeitig zu erkennen. Die Beraterinnen und Berater der Radikalisierungsprävention sind auf Hinweise von Mitarbeitenden aus diesen Strukturen angewiesen, da sie "nicht durch die Lande ziehen können und sagen, ach, wir gucken mal, wo radikalisierte Menschen sich aufhalten" (Distanz, Interview 4).
Gleichzeitig mahnen die Beraterinnen und Berater für den Bereich Schule eine sensible Vorgehensweise an. Eine interviewte Person äußert unter dem Eindruck, dass "Fachkräfte auch unter einem enormen Druck [stehen], […] nicht den nächsten Terroristen zu übersehen" (Distanz, Interview 5) zwar Verständnis für frühzeitige Interventionen. Dies kann jedoch auch negative Auswirkungen auf Radikalisierungstendenzen haben: "Zu frühes Alarmglockenläuten bestätigt die Positionen, die junge Menschen eventuell annehmen: 'Aufgrund meiner Religion […] fahre ich gerade voll gegen die Wand.' Und […] da merken wir, […] da gehen die voll in diese jeweilige Gruppe, die das vorher schon prophezeit hatte […]. Es wird zur self-fulfilling prophecy." (Distanz, Interview 5)
Da Begrifflichkeiten und Zuschreibungen im Kontext (vermeintlicher) islamistischer Radikalisierung oftmals unpräzise oder vorschnell verwendet und vorgenommen werden, sollte die Anforderung an Lehrkräfte und Schulsozialarbeitende Islamismus frühzeitig zu erkennen bedacht formuliert werden. Kritische Aspekte zeigen sich bereits daran, dass Islamismus kein einheitlich definierter Begriff ist. Betrachtet man Islamismus aus einer an der Verfassung orientierten Perspektive, richtet er sich durch Denk- und Handlungsweisen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung (FDGO). In der höchsten Eskalationsstufe sind hier dschihadistische Gewalt und Terror zu nennen. Damit wird das komplexe Phänomen jedoch auf Verfassungsfeindlichkeit reduziert und ideologische Elemente bleiben gegebenenfalls außen vor.
Sozialwissenschaftliche Betrachtungen definieren Islamismus unter anderem als Sammelbegriff für verschiedene politische Auffassungen, "die im Namen des Islam die Errichtung einer allein religiös legitimierten Gesellschafts- und Staatsordnung anstreben" (Pfahl-Traughber 2011). Es ist allerdings strittig, anhand welcher Indikatoren diese Bestrebungen festgemacht werden sollen, wo etwa strenge Religionsausübung endet, und Islamismus beginnt.
Betrachtet man diese Grauzone genauer, so weisen die Ergebnisse der quantitativen Bedarfserhebung auf die Gefahr hin, dass muslimisch gelesene Schülerinnen und Schüler durch eine vermeintliche Früherkennung stigmatisiert werden könnten. Zum Beispiel, wenn Unsicherheiten von Lehrkräften und Schulsozialarbeitenden im Umgang mit religiösen Praktiken (wie dem Gebet oder Ess-, Trink-, und Kleidungsgewohnheiten) dazu führen, dass fälschlicherweise eine islamistische Radikalisierung vermutet wird. Ebenso könnten jugendtypische, provokative und möglicherweise auch abwertende Äußerungen von muslimisch gelesenen Schülerinnen und Schülern als islamistisch gedeutet werden. Somit besteht die Gefahr, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder (vermeintlicher) soziokultureller Merkmale stereotypisiert und Ungleichheiten im Schulsystem reproduziert werden.
Mit der gelesenen Ethnizität wird dabei oftmals eine (vermeintliche) religiöse Zugehörigkeit angenommen. So kann es dazu kommen, dass Fachkräfte Jugendliche gedanklich in bestimmte Gruppen einordnen und beispielsweise ein christliches "Wir" gegenüber einem islamischen "Ihr" konstruieren (Hummrich 2017, S. 346). Diese Prozesse der Abgrenzung und Fremdmachung von Gruppen werden als Othering bezeichnet und zeichnen sich stellenweise auch in der Bedarfserhebung ab. Mehrere Befragte unterscheiden zwischen "den Muslimen" und "den Deutschen". So beispielsweise eine Lehrkraft, nach deren Wahrnehmung "gerade Muslime Ressentiments gegenüber ihrer Religion wittern und oftmals etwas flapsig formulierte Antworten nicht richtig einordnen können. Sie nehmen ihre Religion viel ernster, als dass das deutsche junge Erwachsene tun".
Vor diesem Hintergrund kann festgehalten werden, dass im Schulkontext nicht eine frühzeitige Beurteilung islamistischer Tendenzen erfolgen sollte, sondern vielmehr eine Früherkennung eines Unterstützungsbedarfes im Umgang mit religiösen Praktiken sowie inner- und interreligiösen Konflikten.
Good Practice in Clearingverfahren
Wenn pädagogische Fachkräfte und fachlich qualifizierte Beraterinnen und Berater bedarfsorientiert zusammenarbeiten, können individuelle Problemlagen früher erkannt und besser eingeordnet werden. In sogenannten Clearingverfahren klären sie gemeinsam den jeweiligen Hilfebedarf der Schülerinnen und Schüler und suchen nach Möglichkeiten für einen angemessenen Umgang mit auffälligem Verhalten. In diesen Prozess werden verschiedene Akteurinnen und Akteure je nach Problemlage einbezogen, beispielsweise das Jugendamt und Sportvereine. Auf diese Weise lassen sich wertvolle Informationen über biografische und soziale Hintergründe zusammentragen und Maßnahmen konzipieren, die an den jeweiligen Bedarfen orientiert sind.
In der qualitativen Interviewstudie betonen die Beraterinnen und Berater die pädagogische Verantwortung von Lehrkräften und Schulsozialarbeitenden, zumindest mit einer kooperativen Haltung zur Aktivierung von Unterstützungssystemen beizutragen – dazu zählen etwa innerschulische (psychologische) Beratungsangebote oder Angebote der Freizeitgestaltung in AGs. Anders als punktuell hinzugezogene Akteurinnen und Akteure aus der Präventionsarbeit, können Lehrkräfte die individuelle Entwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler langfristig nachvollziehen und die Beraterinnen und Berater entsprechend über Entwicklungen informieren.
In der praktischen Gestaltung von Clearingverfahren zeigt sich jedoch hin und wieder ein Mangel an Unterstützungsbereitschaft durch die Schulen, "wenn Schulen merken, da ist jemand extremistisch. Dann wollen sie sich dieses Problems entledigen" (Distanz, Interview 1). Beraterinnen und Berater äußern in diesem Zusammenhang mehrfach das Gefühl, als Anwälte der Jugendlichen gegenüber den Lehrkräften auftreten zu müssen. Ein wesentlicher Bestandteil erfolgreicher Clearingverfahren ist daher, dass sich die schulischen Fachkräfte auf ihre pädagogischen beziehungsweise sozialarbeiterischen Aufträge besinnen. Wenn Radikalisierung befürchtet wird, gehört hierzu unweigerlich ein besonders sensibler und vertrauensvoller Umgang. Sofern die betroffenen Jugendlichen unmittelbar miteinbezogen werden, ist es wichtig, ein Klima zu schaffen, in dem alle Beteiligten "das Gefühl haben, über solche Sachen reden zu können, ohne dass […] am nächsten Tag die Polizei in der Schule steht, [… denn] keinem jungen Menschen ist geholfen, wenn [das] alle […] rauskriegen" (Distanz, Interview 9).
Wie kann Schule Deradikalisierung unterstützen?
Die Abwendung vom Islamismus ist ein komplexer Prozess. Trotz unklarer Trennlinien in der Praxis unterscheiden wissenschaftliche Konzeptualisierungen meist zwischen Deradikalisierung und Distanzierung/Demobilisierung. Deradikalisierung umfasst eine Abkehr von der extremistischen Ideologie und menschenfeindlichen Einstellungen auf kognitiver Ebene, während sich Distanzierung/Demobilisierung auf die Verhaltensebene bezieht – etwa das Verlassen von extremistischen Gruppen.
Radikalisierungsprozesse sollten dabei jedoch nicht einfach umgekehrt werden, da sich betroffene Personen dann wieder in der gleichen Lebenssituation wie vor der Radikalisierung wiederfinden würden. Abwendungsprozesse beinhalten also nicht nur eine kognitive Abkehr von ideologischen Elementen. Sie erfordern in der Regel auch eine langfristig ausgerichtete soziale und sozioökonomische Stabilisierung der Betroffenen. Die interviewten Beraterinnen und Berater betonen in diesem Kontext die Bedeutung der schulischen Sozialisation (Fend 2008). In der Schule können zentrale Entwicklungspotentiale von Kindern und Jugendlichen erschlossen werden, vor allem auf den Ebenen sozialer Stabilisierung und der Entwicklung von Zukunftsperspektiven.
Soziale Stabilisierung
Die Beraterinnen und Berater berichten, dass der (erneute) Anschluss an Peergroups einen wichtigen Impuls für eine soziale Stabilisierung der Betroffenen setzen kann, "wenn sie […] mit anderen [interagieren] und bereit sind, wieder Freundschaften zu schließen […] [und] Sachen zu machen, die sie früher nicht gemacht haben. Zum Beispiel Fußball [zu] spielen oder Musik [zu] hören oder ins Kino zu gehen" (Distanz, Interview 24). Als zentrale soziale Bezugsgruppe spielen Peers gerade in Umbruchphasen des Jugendalters eine wichtige Rolle – sowohl um sich zu orientieren als auch um Grundbedürfnisse nach Anerkennung und sozialer Einbindung zu befriedigen (Reindl 2022).
Bei der Abwendung vom Islamismus benötigen Jugendliche in der Regel Unterstützung, um "sich einzufinden in dieses Ganze, in die Schule, […] man […] ist in einem Kokon und man bricht aus diesem Kokon aus. Und dann muss man wieder diese Verbindung nach draußen herstellen" (Distanz, Interview 24). Lehrkräfte und Schulsozialarbeitende können hierbei durch eine wertschätzende und tragfähige zwischenmenschliche Interaktion ein Anker im Bezugssystem Schule sein. Eine verbindliche und tragfähige Beziehung zu den Jugendlichen verleiht der positiven wie negativen Kritik der pädagogischen Fachkräfte Gewicht, sodass sie entscheidende Reflexionsprozesse anstoßen können – ohne dies zwangsläufig als "Deradikalisierung/Distanzierung" zu betiteln.
So kann durch die oftmals langfristige und alltägliche Begleitung über die Schule ein Raum geschaffen werden, in dem Lehrkräfte eine "Identifikationsfläche als Grundlage [bieten], [damit die Jugendlichen] sich […] nicht weiter mit entsprechend extremistischen Gruppierungen identifizieren […] müssen" (Distanz, Interview 22). Die befragten Fachkräfte betonen, dass es "unheimlich stark [ist], wenn die Personen sehen: die Gesellschaft, egal wer jetzt, gibt mir eine zweite Chance" (Distanz, Interview 20). Als wichtiger Faktor in der Begleitung von Abwendungsprozessen ist somit die Bereitschaft des sozialen Umfelds hervorzuheben, die jungen Menschen zu reintegrieren.
Entwicklung von Zukunftsperspektiven
Wendepunkte in Abwendungsprozessen machen die Beraterinnen und Berater oftmals daran fest, dass in den Jugendlichen eine intrinsische Motivation entsteht, etwas im Leben zu erreichen. Die Ergebnisse der Interviewstudie weisen darauf hin, dass über die identitätsbildende Funktion der Schule entscheidende Impulse für entsprechende Entwicklungen gesetzt werden können. Zentral sind hier didaktisch in den schulischen Unterricht, Projektarbeit sowie in AGs integrierte Erfahrungsräume, in denen Kinder und Jugendliche Anerkennung für ihre Persönlichkeit, ihre Meinungen und Empfindungen erfahren. Durch solche Angebote kann die Schule einen Beitrag zur individuellen Identitätsbildung leisten und Interesse an ähnlichen Erfahrungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen wecken.
Die in der Schule vermittelten Kompetenzen und Werte bergen das Potenzial, die Lebensplanung der Schülerinnen und Schüler entscheidend zu prägen, und damit einhergehend das "Verhältnis zur Gesellschaft, wie man seine Rolle in der Gesellschaft, sein eigenes Leben" (Distanz, Interview 19) sieht. Formal spielen dabei Bildungsabschlüsse mittel- bis langfristig eine wichtige Rolle. Sie ermöglichen es den Jugendlichen in Ausbildung und Studium ihren Interessen nachzugehen und neue Fähigkeiten und Kenntnisse zu erlangen. Schließlich können die Jugendlichen in einem für sie passenden Beruf Selbstwirksamkeit erfahren. Wenn Schülerinnen und Schüler Erfolgserlebnisse haben und gesellschaftliche Anerkennung für ihre Leistungen erfahren, setzt das zudem einen wichtigen Gegenpol zur islamistischen Szene und Ideologie.
Fazit
Das Erfahrungswissen von Beraterinnen und Beratern der Präventions- und Interventionsarbeit ist in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Abwendungsprozessen bisher wenig abgebildet (Emser et al. 2022). Diese Forschungslücke wurde durch die Interviewstudie aufgegriffen. Außerdem wurde der Fokus auf die Schule im Kontext (vermeintlicher) islamistischer Radikalisierung geschärft, indem die Herausforderungen und Bedarfe von Lehrkräften und Schulsozialarbeitenden analysiert wurden.
Die empirischen Ergebnisse untermauern die in zahlreichen praxisorientierten Handlungsempfehlungen hervorgehobene Bedeutung der Schule. Als zentrale Sozialisationsinstanz kann Schule eine wichtige Rolle in der Prävention und Auseinandersetzung mit islamistischer Radikalisierung einnehmen – insbesondere im Vorfeld sowie bei ersten (vermeintlichen) Anzeichen von Radikalisierungsprozessen. So bietet schulischer Unterricht etwa die Möglichkeit, sich mit verschiedenen Extremismen zu befassen sowie demokratische Kompetenzen im täglichen Miteinander zu fördern. Zudem können über die Schule universale Werte vermittelt werden, um die Schülerinnen und Schüler beim Hereinwachsen in die Gesellschaft zu unterstützen.
In der professionellen Begleitung von Abwendungsprozessen stellen Lehrkräfte und Schulsozialarbeitende darüber hinaus wichtige soziale Ressourcen zur Stabilisierung und Integration der Betroffenen dar, die aktiviert werden können. Dabei sollten sie jedoch nicht mit Präventions- oder Lösungserwartungen überlastet werden, denen sie nicht gerecht werden können.
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