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Die salafistische Szene in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Seit dem Zusammenbruch des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) in Syrien und im Irak und der Zerschlagung zahlreicher militanter Gruppen in Deutschland versuchen sich die unterschiedlichen Milieus neu zu ordnen. Altgediente Akteurinnen und Akteure und Gruppen sind verschwunden und neue hinzugekommen, die stärker an Sichtbarkeit gewinnen. Legalistische Islamistinnen und Islamisten gefährden durch ihre innovativen Aktionen und Medieninhalte zunehmend die jahrelange propagandistische Vormachtstellung der Salafistinnen und Salafisten. Die zunehmende Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen Milieus hat in den vergangenen zwei Jahren immer häufiger zu Spannungen geführt.
Im Zuge der Corona-Pandemie haben sich die meisten Aktivitäten der Salafistinnen und Salafisten ins Internet verlagert. Selten waren während dieser Zeit Präsenztreffen möglich, die für eine langfristige Anbindung der Zielgruppen an die jeweiligen Gruppen schon immer wichtig waren. Stattdessen versuchten die Salafistinnen und Salafisten über Videokonferenzen auf Instagram, TikTok oder Twitch oder Sprachkonferenzen auf Discord mit ihren Zielgruppen intensiver in Kontakt zu treten. Dazu gehörten insbesondere politische Aktivistinnen und Aktivisten, die mit jugendkulturellen Inhalten und angepassten Ansprachestrategien mit Zuschauerinnen und Zuschauern ins Gespräch zu kommen versuchten.
In den vergangenen Monaten drängte sich aber in der Szene vor allem das sogenannte takfiristische Lager in den Vordergrund. Mit dem arabischen Begriff „Takfir“ wird die Praxis bezeichnet, anderen Musliminnen und Muslimen aufgrund ideologischer Differenzen das Muslimischsein abzusprechen und sie zu Ungläubigen (arabisch: Kuffar) zu erklären. Doxing-Attacken (die Veröffentlichung persönlicher Informationen wie etwa Adressdaten), Beschimpfungen und gar Drohungen gegen ehemalige Verbündete verdeutlichen, dass die salafistische Szene im Zuge des syrischen Bürgerkrieges in unterschiedliche Lager zerfallen ist, deren Differenzen nun auch in Deutschland fortwirken. Grundsatzdebatten über die Legitimität des Kalifats, die Zulässigkeit des „Takfirs“ oder auch die Einstellung gegenüber bestimmten Herrschern und Gruppen prägen nach wie vor die Diskurse.
Im Rahmen dieses Beitrags soll der salafistisch-dschihadistische Teil der islamistischen Szene einer Bestandsaufnahme unterzogen werden, die folgende Fragen aufgreift: Wie lässt sich dieser Teil der Szene derzeit beschreiben? Wie lassen sich unterschiedliche Milieus einordnen und welche Konfliktlinien gibt es? Welche Akteurinnen und Akteure sind in den sozialen Medien aktiv und welchen Einfluss üben sie auf die Szene aus?
Die salafistische Szene in Deutschland
Salafistinnen und Salafisten sind Anhängerinnen und Anhänger einer islamistischen Strömung, die sich in ihrer Glaubenspraxis stark an den Überlieferungen der Musliminnen und Muslime im 7. bis 9. Jahrhundert und an deren angenommener Lebens- und Glaubenspraxis orientieren. Diese verkörpern in ihrer idealisierten Vorstellung besonders fromme Vorbilder eines gelebten Islams, dem alle folgenden Generationen von Musliminnen und Muslimen nacheifern sollen. Ursprünglich handelt es sich bei den „Salafiyya“ („die Altvorderen“) um eine Reformbewegung im 18. und 19. Jahrhundert, die versuchte, ethische, moralische, politische und religiöse Vorstellungen der sogenannten "Altvorderen" mit der Moderne in Einklang zu bringen. Heutige Salafistinnen und Salafisten verfolgen dagegen eine Glaubenspraxis, deren Umsetzung sich quasi wortwörtlich an ihren Vorstellungen des Korans und dem Leben des Propheten Mohammed orientieren soll. Teilweise spricht man deshalb auch von Neosalafismus, auch wenn der Begriff umstritten ist. Dieser Neosalafismus besteht aus unterschiedlichen Strömungen, die aufgrund der fließenden Übergänge jedoch manchmal nicht klar voneinander zu trennen sind. Nach Wiktorowicz (2006) gibt es puristische, politische und dschihadistische Salafisten (weitere Informationen dazu finden Sie im Infodienst-Beitrag "
Der aktuelle Zustand der salafistischen Szene – zwischen syrischem Bürgerkrieg und Corona
Salafistische Gruppierungen und Moscheen sind heute in nahezu allen Großstädten aktiv. Meistens sind die Ideologie, die Sprache, die Nähe des Wohnorts zu den religiösen Treffpunkten und das Charisma der Prediger wichtige Faktoren für Gruppenbildungen. Es gibt aber auch zahlreiche überregional tätige Vereine und Akteure, die über das Internet Bekanntheit erlangen und zu denen Anhängerinnen und Anhänger reisen.
Die salafistische Szene ist gegenwärtig allerdings geschwächt, das zeigt der aktuelle Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV): Die Zahl der Anhängerinnen und Anhänger sei 2021 von 12.150 auf 11.900 Personen leicht gesunken und die Salafistinnen und Salafisten hätten an „Strahlkraft“ verloren. Die Gründe lägen im Zusammenbruch des „IS“ und dem Rückgang von Missionierungsaktivitäten wie Islamseminaren oder Koranverteilungen. Doch, so die Einschätzung des BfV, bedeute dies nicht, dass damit das Gefährdungspotenzial durch dschihadistische oder terroristische Aktivitäten gesunken sei (Bundesamt für Verfassungsschutz 2022: S. 179 f.).
Die Coronapandemie hat die allmähliche Neuordnung in der Szene, die bereits vor Jahren begonnen hat, noch einmal beschleunigt. Salafistinnen und Salafisten konnten kaum noch überregionale Netzwerke aufbauen, Präsenz in den Innenstädten zeigen oder sich in Gruppen organisieren. Viele ihrer Aktivitäten sind daher noch stärker ins Internet abgewandert. Dort nutzen Akteure innovative Ansprachestrategien. Vor allem Livestreams auf Plattformen wie Twitch, YouTube und Instagram sowie Gesprächsrunden auf Discord ermöglichen es, mit den meist jugendlichen Zielgruppen direkt zu kommunizieren. Doch sie sind kein Ersatz für die gemeinsamen Freizeitaktivitäten.
Gleichzeitig ist das Image dieser religiösen Bewegung durch den syrischen Bürgerkrieg und die Gräueltaten des „IS“ nachhaltig beschädigt worden. Deshalb haben sich auch innerhalb der Szene manche Akteurinnen und Akteure und Gruppierungen einem Neustart verpflichtet – zumal der Konkurrenzdruck durch andere islamistische Bewegungen wie die Furkan-Gemeinschaft, die Hizb ut-Tahrir (HuT) oder die Muslimbruderschaft stetig zugenommen hat. So sagte sich beispielsweise der Prediger Marcel Krass öffentlichkeitswirksam von den Salafistinnen und Salafisten los und suchte mit der Gründung des Lobbyvereins "Föderale Islamische Union" (FIU) nach strategischen Partnerschaften mit anderen schlagkräftigen Gruppen wie der HuT (FIU 2022). Mit der Deutschsprachigen Muslimischen Gemeinschaft e. V. (DMG) hat sich zudem ein Netzwerk von bundesweit agierenden Predigern wie Abul Baraa, Abu Rumaisa und Amir al-Kinani etabliert, das sich abseits des extremistischen und unter Beobachtung stehenden Teils der salafistischen Szene zu profilieren versucht.
Im Folgenden sollen vor allem das dschihadistische Spektrum und seine Entwicklung näher beleuchtet werden.
Die Aktivitäten der dschihadistischen Szene im Überblick
Die Schwächung der salafistisch-dschihadistischen Szene lässt sich auch abseits des Berichts des Verfassungsschutzes konstatieren. Der Syrienkrieg als Mobilisierungsfaktor ist quasi zum Erliegen gekommen. Derzeit lässt sich auch kein Krisenherd ausmachen, der eine vergleichbare Ausreisedynamik in Gang setzen könnte. Zudem gelang es den Sicherheitsbehörden, eine Reihe von Anschlagsplanungen frühzeitig zu verhindern. Seitens der Politik wurden Vereine und Gruppierungen mit dschihadistischen Verbindungen verboten. Dies betraf 2021 etwa die salafistische Hilfsorganisation „Ansaar International“: Aufgrund des Vorwurfs „unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe weltweit den Terror“ (Litschko 2021) zu unterstützen, wurde sie verboten. Im selben Jahr verbot der Berliner Innensenat die Gruppe „Tauhid Berlin“, die Bezüge zum „IS“ hatte und als Auffangbecken ehemaliger Anhängerinnen und Anhänger der verbotenen Fussilet-Moschee galt (Flade/Steinke 2021). Beide Gruppen waren auch im Internet aktiv.
Aktivitäten auf Social Media
Im Bereich Social Media sind die Propagandaaktivitäten dschihadistisch motivierter Akteure ebenfalls rückläufig. Die Zeiten, in denen Islamistinnen und Islamisten auch auf Twitter und Facebook für den bewaffneten Kampf werben konnten, sind vorbei. Die Plattformbetreiber gehen mittlerweile viel konsequenter gegen dschihadistische Inhalte vor. Und dennoch lassen sich hie und da Angebote finden, die entweder explizit oder auch mittels Anspielungen auf Bezüge zu militanten Gruppierungen hindeuten. Zentrale Aufhänger sind dabei Syrien, der dortige Bürgerkrieg und die unterschiedlichen Gruppierungen vor Ort.
Nach wie vor versuchen deutschsprachige „IS“-Anhängerinnen und -Anhänger im Internet für die Ziele und Ideologie der Organisation zu werben. Vor allem auf Telegram sind sie präsent, einzelne Akteure unterhalten auch auf anderen Plattformen Ableger. Die Strategien zur Verbreitung der Inhalte haben sich in den vergangenen Jahren aufgrund der Sanktionsgefahr jedoch verändert. So versuchen die Kanalbetreiberinnen und -betreiber in ihren Textbeiträgen bestimmte Schlagwörter, die mit dem Dschihad oder dem „IS“ in Verbindung stehen, zu vermeiden oder zu umschreiben. Diese Veröffentlichungen werden allgemein als journalistische Arbeit getarnt, indem über aktuelle Ereignisse rund um den „IS“ wie Kämpfe oder Anschläge im Stil einer Nachrichtenagentur berichtet wird. Außerdem werden Bilder und Videos des „IS“ mit bekannteren Personen der Organisation sowie einschlägigen Emblemen und Logos verfremdet. Solche Verschleierungstaktiken haben allerdings auch zu Konflikten innerhalb der „IS“-affinen Szene geführt, da manche mit der Verfremdung so weit gingen, den „IS“ dezidiert als „Terrororganisation“ zu bezeichnen.
Meistens werden aber auf den Kanälen audiovisuelle Medieninhalte geteilt, die keine aktuellen Ereignisse betreffen. Es sind häufig Übersetzungen aus älteren Beiträgen (z. B. aus der Zeitschrift Dabiq oder vom „IS“-Medienableger al-Hayat), Anaschid (dschihadistische und islamische Gesänge) und Audio-Ansprachen von Führungsfiguren des „IS“. Eine offenkundige Eigenproduktion aus deutschsprachiger Quelle stellt das Magazin „al-Aan“ dar, dessen Erstausgabe Anfang 2022 auf Telegram veröffentlicht wurde. Auf sieben Seiten lassen sich meist Übersetzungen von älteren Artikeln aus dem offiziellen „IS“-Magazin „al-Naba“ identifizieren. Einen großen Platz nimmt in der deutschsprachigen „IS“-Propaganda auch die Gefangenenhilfe für inhaftierte Männer, Frauen und Kinder in den kurdischen Haftlagern ein, für die Spenden gesammelt werden.
Aktivitäten deutscher Dschihadisten in Syrien
Propaganda von deutschsprachigen Dschihadistinnen und Dschihadisten, die sich außerhalb von Gefängnissen in Syrien aufhalten, lässt sich ebenfalls primär auf Telegram und vereinzelt auf anderen Plattformen finden. Dabei handelt es sich vor allem um das mit dem "IS" konkurrierende Lager von Anhängerinnen und Anhängern, die in den Herrschaftsgebieten von al-Qaida-nahen Rebellengruppen leben – wie der Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), Hurras al-Din und der Dschunud asch-Scham. Ihre Operationsgebiete liegen vor allem in den syrischen Provinzen Latakia, Aleppo und Idlib. Deutsche Sicherheitsbehörden schätzten 2020, dass sich etwa 60 bis 100 deutsche Anhängerinnen und Anhänger dort frei bewegen (Hechler/Beres 2020).
Die Schwerpunkte ihrer Aktivitäten variieren dabei: Einige betätigen sich als „Ansari“ (Helfer), indem sie Spenden für syrische Flüchtlinge, Waisen und Witwen getöteter Kämpfer einwerben. Dabei konnten sie in der Vergangenheit auf einen stabilen Unterstützerkreis zählen – der seinerseits regelmäßig in den Fokus der Ermittlungen von Sicherheitsbehörden rückte.
Andere Akteure in Idlib verbreiten Propaganda, in der sie zur Hidschra (Auswanderung) auffordern und dabei ihre Sympathien für al-Qaida ausdrücken. Regelmäßige (posthume) Huldigungen von al-Qaida-Größen wie Osama bin Laden, Aiman al-Zawahiri und Anwar al-Awlaki oder auch deutschen Afghanistan-Veteranen wie Bekkay Harrach und Mounir Chouka werden ebenfalls veröffentlicht. Auch Videos und Bilder von Schießtrainings und Kämpfen mit der syrischen Armee gehören zu den bewusst martialischen Auftritten der deutschsprachigen Kanäle. Zwar sind Aufrufe zu neuen Anschlägen bislang kaum zu beobachten gewesen, doch regelmäßig werden beispielsweise die Anschläge vom 11. September 2001 glorifiziert.
Verstärkte Aufmerksamkeit richteten mehrere Akteurinnen und Akteure aus diesen Gebieten mit ihren Kanälen seit dem Abzug der internationalen Truppen auf Afghanistan und die Taliban. Dies lässt auf Sympathien mit dem neu entstehenden Emirat schließen – was wiederum zu Konflikten mit „IS“-Anhängerinnen und -Anhängern führte, die mit den Taliban verfeindet sind. Diese Konflikte wurden auch auf Telegram ausgetragen.
Darüber hinaus verfolgen die deutschen Dschihadistinnen und Dschihadisten in Syrien aufmerksam die Entwicklungen in der Szene hierzulande und kommentieren – nicht selten spöttisch – zahlreiche etablierte Prediger wie Pierre Vogel, Marcel Krass und Abul Baraa. Wie so oft geht es dabei um die Frage, was (aus ihrer Sicht) als islamisch gilt und was nicht. Dies ist einer der Gründe, warum die salafistische Szene in Deutschland tief gespalten ist.
Die gespaltene salafistische Szene in Deutschland
Die salafistische Szene lässt sich aktuell nicht eindeutig in spezifische Lager einteilen. Mittlerweile sind Akteure in den Vordergrund gerückt, die sich mit aggressiver Agitation und Provokationen gegenüber dem „Mainstream“ der Szene zu profilieren versuchen. Dabei wirken mit der Praxis des „Takfirismus“ auf der einen Seite und einem strategischen Pragmatismus auf der anderen Seite offenkundig Konflikte nach, die bereits beim „IS“ für Unruhe sorgten und sogar zu Spaltungstendenzen führten. Um die aktuellen Debatten in der Szene nachvollziehen zu können, könnte ein Blick in die Vergangenheit helfen.
Die Takfiristen und der "Islamische Staat"
Der Aufstieg und die Expansion des „IS“ zwischen 2014 und 2018 stellte alle anderen extremistischen Strömungen in den Schatten. Tausende Menschen aus Europa, dem Kaukasus und arabischen Ländern reisten nach Syrien und in den Irak, um sich am Aufbau eines Kalifats zu beteiligen – bereit für dieses Ziel zu kämpfen und zu sterben. Ihrem Anführer Abu Bakr al-Baghdadi und dessen Entscheidungen schienen sie dabei blind zu vertrauen. Doch mit der zunehmenden Expansion des „IS“ in Syrien und im Irak und einer wachsenden heterogenen Bevölkerung von Einheimischen sowie Ausländerinnen und Ausländern wuchsen die Herausforderungen. Denn um das riesige Herrschaftsgebiet unter Kontrolle zu bringen und die Bevölkerung langfristig einem Verwaltungsapparat zu unterwerfen, musste die „IS“-Führung ihre ideologische Programmatik stärker realpolitischen Handlungslogiken unterwerfen.
Zu dieser Pragmatik neigten insbesondere die einheimischen „IS“-Leute aus dem Irak und Syrien, die die Bedürfnisse der jeweiligen Bevölkerungen kannten und wussten, dass deren Befriedigung zur Stabilisierung des Kalifats unabdingbar waren. Das führte beispielsweise dazu, dass der „IS“ Menschen nicht per se anklagte, wenn diese andere nicht denunzierten, nachdem sie Verstöße gegen (vermeintlich) islamische Regeln beobachtet hatten. Diese Praxis führte zu Konflikten vor allem mit den ausländischen Anhängerinnen und Anhängern. Diese fühlten sich vor den Kopf gestoßen durch die realpolitische Kompromissbereitschaft der "IS"-Führung bei der Umsetzung vermeintlich islamischer Lehren als Grundlage von semi-staatlichen Strukturen. Denn viele hatten darauf gehofft, mit dem "IS" in einem Staat zu leben, der die salafistischen Lehren wortwörtlich in die Tat umsetzen würde.
Durch diese Desillusionierung bildete sich innerhalb der Terrororganisation ein oppositionelles Lager, das in der Forschung als „Takfiristinnen“ und „Takfiristen“ beschrieben wird. Als „Takfir“ wird die Praxis bezeichnet, anderen Muslimen das Muslimsein abzusprechen, sie zu Ungläubigen zu erklären und sie so aus der Gemeinschaft auszuschließen. Die „Takfiristen“ kamen vor allem aus den arabischen Ländern, dem Kaukasus und Europa (Steinberg 2021/Hamming 2021). Unter anderem folgten sie dem saudischen Prediger Ahmad al-Hazimi, der für eine noch strengere Auslegung des Islams stand als der „IS“. Diejenigen unter der „IS“-Gefolgschaft, die mit dem Kurs ihrer Führungsspitze nicht einverstanden waren, wandten sich nun gegen die eigenen Leute – eine ernsthafte Bedrohung für die Organisation des „IS“. Nach Auffassung der „Takfiristen“ sollten all diejenigen, die nicht den harschen Vorstellungen von al-Hazimi folgten, exkommuniziert und nach Scharia-Recht bestraft werden.
Diese Vorstellungen, die auch von deutschen Kämpfern wie Silvio K. geteilt wurden, hätten in der Praxis weitreichende Konsequenzen gehabt: Es hätte bedeutet, dass im Kalifat alle zu Ungläubigen hätten erklärt werden können, die auch nur ein bisschen von der rigiden Haltung der Takfiristen abwichen. Das gleiche Schicksal wäre denjenigen zuteilgeworden, die solche Verfehlungen nicht denunziert und umgehend geahndet hätten. Dass diese extreme Haltung quasi von niemanden im „IS“ erfüllt werden konnte und zum Chaos führen musste, erkannte damals die Führung der Terrororganisation. Sie ging daraufhin massiv gegen die Takfiristen-Querulanten in den eigenen Reihen vor.
Diejenigen, die der Führungslinie des „IS“ treu blieben und die Anhänger al-Hazimis („Hazimiyoun“) als zu radikal betrachteten, äußerten sich gegenüber den deutschen Abweichlern deutlich ablehnend. So kursierte in „IS“-Kreisen der Begriff des „Ghulat“ (Übertreiber) gegen al-Hazimi und seine Unterstützerinnen und Unterstützer.
Der Konflikt zwischen Takfiristen und „IS“-Gefolgschaft beschäftigte auch die salafistische Szene in Deutschland. Diese Spaltungstendenzen unter den ohnehin extremen Radikalen schwächten das Potenzial des „IS“, in Deutschland eine dauerhafte und nennenswerte Basis aufzubauen.
Es führte auch dazu, dass im salafistischen Milieu eine weitere Spielart von Dogmatikerinnen und Dogmatikern erstarkte, die im Wesentlichen einer takfiristischen Strömung zuzurechnen ist, zugleich aber nicht mit den Anhängerinnen und Anhängern von al-Hazimi oder mit dem „IS“ gleichzusetzen ist.
Abu Suleyman und andere Dogmatiker mit saudisch-akademischer Prägung
Dieses Lager, das sich aufgrund seines rebellischen Veränderungsdrangs in den letzten Jahren als attraktive Alternative für Hardliner in Deutschland konstituiert hat, besteht aus Predigern, deren salafistische Ideologie eine starke saudisch-akademische Prägung aufweist. Gleichwohl lassen sich inhaltliche Überschneidungen zu takfiristischen und dschihadistisch-missionarischen Inhalten finden. Sie ähneln – auch mit ihrer aggressiven Öffentlichkeitsarbeit und den Angriffen auf andere Gruppen und Akteure der Szene – sowohl den „Hazimis“ als auch „IS“-Anhängern und können mit diesen leicht verwechselt werden.
Seit 2018 sind zahlreiche Konflikte zwischen Vertretern dieser heterogenen Strömung und etablierten Predigern der Mainstream-Szene wie Abul Baraa und Eyad Hadrous zu beobachten. Der Grund könnte darin liegen, dass die führenden deutschen Prediger sich infolge des „IS“-Terrors einem gewissen Pragmatismus verschrieben haben, weshalb sie von vielen Salafistinnen und Salafisten als feige und inkonsequent betrachtet werden.
Es stellt sich deshalb die Frage, ob sich durch die Formierung eines neuen dogmatischen Lagers, das sich takfiristischen Narrativen bedient, eine neue Dynamik in der salafistischen Szene in Gang setzt, die auch zur Inklusion von Anhängerinnen und Anhängern militanter Gruppierungen führen könnte. Diese Befürchtung formulierte Guido Steinberg in einem Beitrag der Stiftung Wissenschaft und Politik: Es sei unklar, ob der Takfirismus eine neuartige Bedrohung oder eine „Exit-Strategie“ für Dschihadistinnen und Dschihadisten sei. Die nachgewiesenen Verbindungen von Attentätern zu Takfiristen – wie im Fall von Kujtim Fejzulai, der 2020 in Wien mehrere Menschen tötete – unterstrichen allerdings die Gefährlichkeit dieses Milieus (Steinberg 2021, S. 8). Gleichwohl könnte die Aufnahme von Militanten in eine hochdogmatische Strömung des Salafismus, die kaum koalitionsfähig ist, eine Schwächung der dschihadistischen Szene bedeuten.
Tatsache ist, dass die saudisch-wahhabitisch orientierten Prediger den etablierten Predigern in Deutschland seit mehreren Jahren zunehmend ernsthafte Konkurrenz machen. Sie nennen sich beispielsweise Abu Suleyman al-Kurdi, Abu Muhammad al-Albani, Abu Saliha, Abu Ubayd und Abu Muʾadh. Sie sind auf zahlreichen Plattformen in den sozialen Medien aktiv. Hinzu kommt eine Reihe von „Schülerinnen“ und „Schülern“, die ihre Lerninhalte weiterverbreiten. Diese weisen dabei Bezüge zu takfiristischen Lehren auf, vor allem was die Radikalität ihrer Takfir-Praxis angeht. Für einige von ihnen gelten viele bekannte Prediger als sogenannte Murdschiʾa (Aufschieber), deren Lehren aus einem aus ihrer Sicht laxen Islamverständnis erfolgen.
Allen voran erregt Abu Suleyman seit geraumer Zeit erhebliches Aufsehen in der Szene – sogar bei den Deutschen in Syrien. Sein bürgerlicher Name und sein Aussehen sind bis heute unbekannt. Sein Auftreten erinnert an Abu Walaa, der mit der Aura eines „Predigers ohne Gesicht“ das Interesse von Beobachtenden und Beratungsstellen auf sich gezogen hatte. Und tatsächlich scheinen beide auch eine gemeinsame Vergangenheit zu haben. Auf „Islam-Study.de“, einer Lernplattform für Arabisch und islamische Inhalte, wirkten beide eine Zeit lang als Lehrer mit. Ende 2015 kam es jedoch offenbar aufgrund ideologischer Differenzen zum Bruch. Die Gründe erscheinen nicht ganz klar. Doch Abu Walaas Takfir-Praxis gegen saudische Prediger und Glaubensbrüder spielte offenkundig eine Rolle dabei. Zudem stand Abu Walaa mit der Meinung, mit dem „IS“ sei ein rechtmäßiges Kalifat entstanden, konträr zur Position der anderen Mitwirkenden (Islam Study 2018).
Im Rhein-Main-Gebiet trat Abu Suleyman zwischen 2011 und 2016 als Lehrer, Vorbeter und Prediger in mehreren Moscheen in Erscheinung, darunter in der Abu Hanifa Moschee in Frankfurt am Main. In den letzten Jahren scheint er aber seine Aktivitäten überwiegend ins Internet verlagert zu haben. Neben „Islam-Study.de“ verantwortet er den deutschen Ableger von „islamqa.info“, eine der einflussreichsten salafistischen Internetseiten. Darüber hinaus veröffentlichen Abu Suleyman und seine Gesinnungsgenossen zahlreiche Übersetzungen und Bücher auf Portalen wie „IslamHouse.com“, einer Internetseite, die sich als größte und authentischste Referenz zu islamischem Wissen bezeichnet und Schriften in siebzig Sprachen anbietet. Sie wird mutmaßlich von saudischen Missionierungseinrichtungen finanziert (Wiedl 2017).
Abu Suleyman strahlt durch seine Verbindungen nach Saudi-Arabien, seine Ausbildung in Medina und seine geheimnisvollen Auftritte eine gewisse Faszination auf einen Teil der derzeit orientierungslosen Szene aus. Es ist eine bewusst gewählte Inszenierung, denn der Prediger verfolgt ein klares Aufbauprogramm für die deutschsprachige Szene: „Der deutschsprachige Raum ähnelte in den letzten Jahren einer misslungenen Baustelle, an der sich Hobby-Bauarbeiter versuchten, aber jämmerlich versagten & einen Haufen Schutt hinterließen. Nun gilt es, diesen Schutt zu entfernen, den Boden zu säubern & dann vieles neu auf[zu]bauen“ (Abu Suleyman 2022 / Twitter).
Zu diesem Zweck nutzt Abu Suleyman sein mittlerweile reichweitenstarkes Netzwerk. Allein auf Telegram lassen sich ihm über ein halbes Dutzend Kanäle zuordnen, mit jeweils weit über 1.000 Abonnentinnen und Abonnenten. Dort veröffentlicht er Videos und Audiobotschaften, beantwortet Fragen zum Islam und Hadithe (Q&A) und wirbt für seine Kurse auf „Islam-Study.de“. Hinzu kommen Ableger auf zahlreichen anderen Plattformen. Bei der Verbreitung seiner Lehren hilft Abu Suleyman außerdem ein ganzes Netzwerk von Anhängerinnen und Anhängern, die bei ihm lernen sollen.
Mit dem Wahrheitsanspruch der eigenen Überzeugungen und der Rigidität gegenüber anderen Strömungen haben sich Abu Suleyman und sein Anhang bereits sehr viele Feinde gemacht. Ende Januar 2022 hatte der Prediger beispielsweise unter „IS“-Anhängerinnen und -Anhängern für Empörung gesorgt, als er sich zwar verklausuliert, aber eindeutig gegen die Terrororganisation positionierte und dem "IS" absprach, seinerzeit in Syrien und im Irak ein legitimes Kalifat errichtet zu haben (vgl. Islam Q&A | Abu Suleyman 2022/Telegram). Deshalb bleibt es offen, welcher salafistischen Strömung Abu Suleyman tatsächlich zugeordnet werden kann. Konkurrenten wie Abu Rumaisa spekulierten neuerdings über eine Nähe des Predigers zu einer besonders aggressiv auftretenden Strömung der Madchalisten (Abu Rumaisa 2022/Instagram). Unwahrscheinlich ist das deshalb, weil Abu Suleyman auch unter politisch-salafistischen Predigern wie Abu Abdullah, Abu Dujana und Bernhard Falk Anerkennung gefunden hat. Wahrscheinlicher lässt er sich einer salafistischen Strömung zuordnen, die einer Mischung von Qutbismus und saudisch-wahhabitischen Lehren folgt.
Der Mainstream der salafistischen Szene steht unter Druck
Die Konflikte zwischen Hardlinern wie Abu Suleyman und den etablierten Predigern der politisch-salafistischen Mainstream-Szene toben bereits seit 2018. Mitte 2018 sind mehrere Kanäle entstanden, von denen aus massive Attacken auf andere islamistische Gruppierungen und Akteurinnen und Akteure geführt wurden. Die Hardliner veröffentlichten beispielsweise private Informationen, Audioaufnahmen und Chatverläufe aus Unterhaltungen zwischen diesen Predigern. Sie warfen ihnen vor, sich mittels gefälschter Lebensläufe und trotz fehlendem Wissen als religiöse Autoritäten zu profilieren. Vor allem auf folgende Mainstream-Prediger hatten es die Kanalbetreiber abgesehen:
Abul Baraa (Berlin),
Abu Mikail (Villingen-Schwennigen),
Abu Rumaisa (Duisburg),
Amen Dali (Mannheim/Frankfurt am Main),
Amir al-Kinany (Berlin),
Eyad Hadrous (Berlin),
Hassan Dabbagh (Leipzig),
Ibrahim al-Azzazi (München),
Wisam Kouli (Köln).
Betroffene wie Abu Mikail verteidigten sich vehement gegen die Angriffe der „extremistischen Khawaridsch“ (Stigmabegriff für innerislamische Sekte) und riefen ihre Anhänger auf, sich „gegen Extremismus und Radikalismus“ zu positionieren (Abu Mikail 2021/Instagram). Abu Rumaisa sah die Schuld bei Abu Suleyman, „ihrem Kopf“, der ein „Mutaalim“ (Hochstapler) sei und Lügen über die Gelehrten verbreiten würde, um seinen „Takfir zu bestätigen“ (Abu Rumaisa 2022/Instagram).
Dabei kann das Niveau der Konflikte selten als sonderlich anspruchsvoll bezeichnet werden: Beleidigungen und Unflätigkeiten prägen die Auseinandersetzung. Sogar mit einem „Kopfgeld“ wurde aus Ibrahim al-Azzazis Umfeld gedroht, sofern die Angreifer aus dem gegnerischen Lager ihre kritischen Beiträge gegen den Prediger nicht löschen würden.
Bedeutung für die Präventionsarbeit und ein Ausblick
Angesichts der dynamischen Entwicklung der salafistischen Szene und der Konflikte, die sie beschäftigen, ist es für die Präventionsarbeit wichtig, ihre Akteurinnen und Akteure weiterhin fest im Blick zu behalten. Die universelle Präventionsarbeit kann entsprechende Gegenstrategien entwickeln und über die Szene, ihre Inhalte und ideologischen Orientierungen aufklären. Die selektive und indizierte Präventionsarbeit kann von diesem Wissen auch in der konkreten Beratungsarbeit mit Klientinnen und Klienten profitieren. Damit eine solche Unterstützung gelingen kann, ist ein intensives Monitoring der sozialen Medien mittels qualitativer und quantitativer Methoden notwendig. Das nimmt viel Zeit in Anspruch, über die Fachkräfte häufig nicht verfügen.
Das quantitative Monitoring hilft dabei, thematische und akteursbezogene Trends abzulesen, indem bestimmte Indikatoren erfasst werden – wie Aufrufzahlen von Medieninhalten, ihre Beliebtheit anhand von „Likes“ und die Anzahl der Kommentare und Hashtags, die sie erhalten. Ein qualitatives Monitoring hilft dabei, aktuelle Inhalte und Diskurse in den verschiedenen Milieus der salafistischen Szene zu identifizieren und genauer zu untersuchen. Hierdurch können neue und relevante Akteure sowie Ideologien identifiziert und gegebenenfalls auch Trends ausgemacht werden.
Ein entsprechendes Angebot bietet die Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit modus | zad an (zum Infodienst-Beitrag "
Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der Szene können aus Sicht der zivilgesellschaftlichen und staatlichen Präventionsarbeit sowohl positive als auch negative Aspekte ausgemacht werden: Der Aufbau von überregionalen Strukturen mit Potenzial der Verselbstständigung wird für die Salafisten schwierig bleiben, solange sich die hochgradig dogmatischen Lager gegenseitig bekämpfen und zugleich gemäßigtere Strömungen zu Alternativbündnissen mit pragmatischen Milieus gedrängt werden.
Es scheint jedoch gerade die jüngere Generation zu sein, die das Ziel verfolgt, gemäßigtere und ältere Akteurinnen und Akteure der Szene entweder auf ihre eigene, sehr radikale Linie zu bringen oder sie zu verdrängen. Das bedeutet möglicherweise, dass diese mit ihren Provokationen und ihrem rebellischen Image verstärkt zu (jugendlichen) Menschen durchdringen oder aber auch abschrecken könnten.
Die Diskurse der vergangenen zehn Jahre im salafistisch-dschihadistischen Milieu sind nicht zuletzt durch die Konflikte um den Takfirismus geprägt – die Praxis anderen Musliminnen und Muslimen aufgrund ideologischer Differenzen das Muslimischsein abzusprechen und sie aus der Gemeinschaft auszuschließen. Diese nehmen auch konkreten Einfluss auf die Anschlussfähigkeit von extremistischen Gruppierungen in Richtung dschihadistischer Aktivitäten. Genauso wie der Takfirismus islamistische Gruppierungen in Syrien und im Irak lähmen und gleichzeitig neue Lagerbildungen und Koalitionen anregen konnte, könnte er auch in der hiesigen Szene zu weiteren dynamischen Entwicklungen und einer stärkeren Ausdifferenzierung führen.
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