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Soziale Arbeit und Radikalisierungsprävention: Schnittmengen & Unterschiede
Infodienst Radikalisierungsprävention: Wie würden Sie das Verhältnis der Arbeitsfelder Soziale Arbeit und Radikalisierungsprävention beschreiben? Welche Schnittmengen, aber auch Unterschiede gibt es?
Jens Ostwaldt: Radikalisierungsprävention und Soziale Arbeit weisen fachlich viele Überschneidungen auf. Einerseits können sie sich gegenseitig befruchten, andererseits gibt es aber auch einige Punkte, die man kritisch betrachten muss.
In der Landschaft der Radikalisierungsprävention werden viele Methoden der Sozialen Arbeit angewendet. Problematisch ist aus meiner Sicht, dass dies in der Fachdiskussion nur wenig reflektiert wird. Es fehlt ein Methodendiskurs in der Radikalisierungsprävention.
Die Herangehensweise an soziale Problemlagen der Klient:innen ist in beiden Arbeitsfeldern erstmal grundsätzlich verschieden. Soziale Arbeit hat vor allem eine Ermöglichungsperspektive und fördernde Ansätze, es geht also darum, Menschen dabei zu unterstützen, ihr Leben "auf die Reihe zu kriegen" und soziale Problemlagen zu lösen. Radikalisierungsprävention hingegen hat ganz klar eine Verhinderungslogik: Ein problematisches Verhalten oder eine Sicherheitsgefährdung soll vermieden werden. Das ist ein deutlicher Unterschied. Allerdings ist die Präventionslogik bis zu einem gewissen Punkt auch Teil der Sozialen Arbeit, etwa als Strukturmaxime in der Kinder- und Jugendarbeit seit dem 8. Kinder- und Jugendbericht von 1990.
Studien haben gezeigt, dass viele Präventionsprojekte von sich sagen, dass sie eigentlich empowernde (Migrations-)Sozialarbeit machen mit Jugendlichen, die von den Regelstrukturen vermeintlich nicht erreicht werden. Gegenüber den geldgebenden Förderprogrammen müssen sie es aber Prävention nennen. Das ist tatsächlich ein Spannungsfeld, in dem sich vor allem die primäre Präventionsarbeit befindet. Ein Großteil der Präventionsarbeit hat aus meiner Sicht eigentlich fördernde Ansätze, also Ansätze der Sozialen Arbeit oder auch der politischen Bildung. Es ist sinnvoll, das kritisch zu hinterfragen: Muss man das unter Prävention framen? Muss zum Beispiel Arbeit mit muslimischen Jugendlichen als Präventionsarbeit gefasst werden – kann das nicht einfach unter Soziale Arbeit laufen?
Mathieu Coquelin: Aus Perspektive der Praxis erscheint mir die Trennung der Arbeitsfelder Prävention und Soziale Arbeit rein akademisch. Eine Kollegin hat mal treffend formuliert: Radikalisierung kann auch verstanden werden als eine Antwort auf das Scheitern an klassischen Identitätsfindungsaufgaben. Mit einem solchen Verständnis sind wir im Urfeld der Sozialen Arbeit. Gewaltprävention und Suchtprävention zum Beispiel sind in der Sozialen Arbeit schon seit Langem tief verankert als Aufgaben. Ich finde, die Radikalisierungsprävention ist ebenso ein Teil der Sozialen Arbeit, das ist im Feld nur noch nicht überall so angekommen. Das liegt aus meiner Sicht zum Teil an diesen großen und schweren Begriffen "Extremismus" und "Radikalisierung", die eher eine abschreckende Wirkung haben. Das scheint vielen Praktiker:innen der Sozialen Arbeit weit weg von der eigenen Profession und den eigenen Möglichkeiten zu sein.
Mathieu Coquelin (© Jochen Faber)
Mathieu Coquelin (© Jochen Faber)
Ein Beispiel: Bei einem Verdacht auf Radikalisierung in einer Schulklasse wird häufig mit einem Workshopangebot der politischen Bildung reagiert. Ich will das mal mit einem Fall von Suchtproblematik vergleichen: Da würde man doch ganz anders reagieren! Es würde eine ganzheitliche Fallanamnese stattfinden – eine klassische Methode der Sozialen Arbeit. Das heißt, wir schauen uns an: Wie weit ist diese Drogenproblematik vielleicht in der Klasse ein Gesamtgruppenproblem? Also inwieweit müssten wir Gruppendynamiken mit bearbeiten, inwieweit ist Einzelarbeit nötig? Wo müssten wir eine Suchtberatung, also spezielle Fachstellen mit einbeziehen? Wo hat die Schulsozialarbeit Aufgaben? Welche Rolle spielt die Familie? Und ja, auch: Welche Themen können wir auf der Bildungsebene mit der gesamten Klasse in Form eines Workshops, zum Beispiel mit einem Film und Diskussion bearbeiten?
Was kann die Präventionsarbeit von der Sozialen Arbeit lernen? Welche Methoden der Sozialen Arbeit eignen sich besonders für die Radikalisierungsprävention – welche werden bereits eingesetzt, und wo sehen Sie noch Potenziale?
Ostwaldt: In der Sozialen Arbeit gibt es seit Jahrzehnten eine ausgeprägte Methodendiskussion und sie verfügt über sehr ausdifferenzierte Methoden. In dem relativ jungen Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention fehlt diese Methodendiskussion aus meiner Sicht. Ich will drei Beispiele für übertragbare Methoden nennen, die sich für die Präventionsarbeit eignen:
Eine zentrale Methode der Sozialen Arbeit ist die Multiperspektivische Fallarbeit (vgl. Ostwaldt 2022, i. E.). Sie besitzt ein hohes analytisches Potenzial. Diese wird an mancher Stelle auch schon angewendet, unter anderem bei der "Clearingstelle Radikalisierungsprävention" (
Zweitens ist die Sozialraumorientierung ein großes Thema. Es geht dabei darum, nicht nur auf die einzelnen Fälle oder Menschen zu schauen, sondern auf Quartiere beziehungsweise Sozialräume, in denen Menschen leben. Dabei wird gefragt: "Wie kann das Leben in diesen Sozialräumen gestaltet werden? Wie muss ein Stadtteil aussehen, damit sich Menschen dort wohlfühlen? Welche Angebote braucht es vor Ort?" Das halte ich für einen ganz wichtigen Aspekt, und man sieht auch hier, dass die Perspektiven ganz klar anschlussfähig sind für die Präventionsarbeit. Das muss wissenschaftlich analysiert werden, aktuell gibt es zum Beispiel ein Projekt der FH Münster mit der Uni Bielefeld zu radikalisierenden Räumen (Externer Link: zur Website des Projekts). International gibt es bereits ein paar Ansätze zu dieser Raumperspektive.
Und drittens: die funktionalen Äquivalente (vgl. Böhnisch 2018). Diese Technik beschreibt das, was auch in der Radikalisierungsprävention und Distanzierungsarbeit oft schon angewandt wird, nämlich dass man Alternativen oder Ventile finden muss für gewisse Emotionen, für Identitätssuche et cetera. In der Praxis bedeutet das zum Beispiel erlebnispädagogisch zu arbeiten oder mit Sport, um die Lücken zu füllen, bei denen extremistische Gruppierungen mit ihren Angeboten ansetzen könnten.
Coquelin: Über die ganzheitliche Fallanamnese beziehungsweise soziale Diagnostik habe ich ja vorhin bereits gesprochen. Diese ist aus meiner Sicht sehr wichtig, also am Anfang genau zu schauen, was der Fall ist und das Umfeld zu analysieren und gegebenenfalls zuständige Akteure zu identifizieren, um dann zu entscheiden, mit welchen Maßnahmen man sinnvollerweise reagiert.
Die zentrale Grundlage der Sozialen Arbeit ist selbstverständlich die Beziehungsarbeit – und diese spielt auch für Fälle von religiös begründeter Radikalisierung eine essenzielle Rolle. Da ist es nicht mit einem punktuellen Workshop politischer Bildung getan.
Für uns als Fachstelle Extremismusdistanzierung spielt darüber hinaus das Case Management eine wichtige Rolle. In diesem Verfahren identifizieren wir verschiedene Ziele und Handlungsansätze. Es gibt in der Sozialen Arbeit zum Beispiel parteiliche Ansätze, bei denen es darum geht, den Jugendlichen bei ihren Anliegen zur Seite zu stehen, auch mal Lobbyarbeit für ihre Interessen zu betreiben. Bei sozialraumorientierten Ansätzen, etwa in der mobilen Jugendarbeit, wird zum Beispiel geschaut, welche Ausschlüsse und Verdrängungsmechanismen es in Sozialräumen gibt und dann wird dort angesetzt.
Rolle von Förderstrukturen
Welche Rolle spielen die staatlichen Förderprogramme und -strukturen und die finanzielle Ausstattung der Akteure im Verhältnis von Sozialer Arbeit und Radikalisierungsprävention?
Ostwaldt: Es gab in den letzten Jahren viel Geld für Radikalisierungsprävention. Es entstanden neue Programme und viele neue Projekte, damit auch Arbeitsplätze. Natürlich ist diese "Projektitis" ein Problem. Träger wollen ihre Projekte weiterführen und brauchen eine weitere Förderung, auch um Stellen zu erhalten – das ist ja auch verständlich. Insofern haben sie ein Interesse an der Fortführung der Präventionsprogramme. Wenn wir aber schauen, wie diese Projekte ausgerichtet sind, könnte ich mir vorstellen, dass viele Fachkräfte ihre Arbeit auch gern ohne das "Präventionslabel" machen würden. Sie würden wahrscheinlich sagen: "Wenn wir unsere Arbeit mit muslimischen Jugendlichen nicht mehr Radikalisierungsprävention nennen müssten, wäre das eigentlich cooler." Dann könnten sie den Jugendlichen zum Beispiel auch Teilnahmezertifikate ausstellen, was einige Projekte derzeit vermeiden, weil dann gegebenenfalls das stigmatisierende Präventionslabel im Projektnamen auftauchen würde.
Mein Vorschlag wäre daher, das stärker auseinanderzudividieren. Man sollte die Präventionsförderung engführen auf Projekte der sekundären oder tertiären Prävention. Diese könnten auf einer Art Meta-Ebene eine Case Management-Funktion einnehmen und die Regelstrukturen beraten und fortbilden. Gleichzeitig könnte man den bisherigen Sektor der Primärprävention überführen in die Regelstrukturen und sagen: Wir fördern auch gern weiter Projekte, aber da muss nicht unbedingt Prävention draufstehen. Oder: Die Regelstrukturen bekommen einfach grundsätzlich mehr Geld und sind dadurch in der Lage, flexibel auf Bedarfe einzugehen und auch Projekte zu machen. Das wäre mein Vorschlag, um die Präventionslogik aus der fördernden, empowernden Arbeit herauszubekommen.
Coquelin: Im Förderprogramm "Demokratie leben!" sind die Fördersummen seit 2015 stark gestiegen. Und die Entwicklung dieser Summen hängt immer mit politischen Reaktionen auf globale Ereignisse zusammen, die nicht unbedingt aus einer fachlichen Perspektive heraus passieren. Dieser Zuwachs an Mitteln insbesondere im Bereich religiös begründeter Extremismus deckt sich nicht unbedingt damit, wo Bedarfe sind. Auch entsprechen die Förderschwerpunkte häufig nicht den fachlichen Bedürfnissen der Träger, vor Ort bestimmte Maßnahmen zu entwickeln und Strukturen zu fördern. Das ist ein Riesenproblem, dass wir als Träger von diesem politischen Kalkül abhängig sind.
In Baden-Württemberg haben wir damals sehr pragmatisch reagiert und geschaut, wie wir mit phänomenübergreifenden Ansätzen und der Beschäftigung mit Wechselwirkungen auch das Thema Rassismus bearbeiten können, obwohl laut Förderrichtlinien der religiös begründete Extremismus inhaltlich gesetzt war.
Das andere Problem ist: Wenn alles nur in Förderstrukturen stattfindet und die im Themenfeld aktiven Träger ihre gesamten Einkünfte und Kosten auch nur in den Förderstrukturen haben, dann fehlt die Basis, um ein eigenes Arbeitsfeld zu entwickeln. Genauso fehlt die Grundlage dafür, Einfluss zu nehmen auf eine politische Willensbildung, im Sinne von Lobbyarbeit. Wir brauchen Aus- und Weiterbildung, Lehrstühle, Professionalisierung, um uns im Arbeitsfeld kritisch mit Dingen auseinanderzusetzen und um Qualitätsstandards zu entwickeln! Da geht es um methodische Fragen, aber auch um banale Dinge wie tarifliche Eingruppierungen. Durch die Projektlogik fehlen Perspektiven für Träger und Mitarbeitende, es gibt häufige Stellenwechsel, die Leute bleiben nicht lange in ihren Jobs, die Professionalisierung leidet darunter.
Professionalisierung der Radikalisierungsprävention
Die Radikalisierungsprävention ist ein relativ junges und sehr breites Arbeitsfeld – von primärpräventiven Bildungsangeboten bis hin zu Maßnahmen der Deradikalisierung und Reintegration in die Gesellschaft. Wie sehen Sie den Stand der Professionalisierung – auch im Vergleich zur Sozialen Arbeit? Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial?
Ostwaldt: In der Forschung zur Professionalisierung unterscheidet man zwei Ebenen: Zum einen die strukturelle Ebene – da untersucht man zum Beispiel, ob es spezifische Ausbildungsgänge, Fachverbände und Qualitäts- oder Fachstandards für das Arbeitsfeld gibt. Und auf der individuellen Ebene geht es darum, dass man sich auf spezifische Fachkompetenzen geeinigt hat, die Fachkräfte in diesem Feld benötigen.
Im Bereich Radikalisierungsprävention würde ich sagen, dass in den Feldern Distanzierung/Deradikalisierung und Beratung eine stärkere Professionalisierung zu sehen ist. Die Beratungsstellen für den Bereich religiös begründeter Extremismus, die für das BAMF tätig sind, arbeiten zum Beispiel mit Qualitäts- und Fachstandards. Im Phänomenbereich Rechtsextremismus ist man aus meiner Sicht bereits weiter professionalisiert als im Bereich religiös begründeter Extremismus, was natürlich auch daran liegt, dass es Rechtsextremismusprävention schon wesentlich länger gibt. An der Universität Marburg entsteht beispielsweise gerade ein Masterstudiengang "Beratung im Kontext Rechtsextremismus".
In der Primärprävention von religiös begründetem Extremismus hingegen lässt sich eine solche Professionalisierung des Arbeitsfeldes nicht oder kaum feststellen. Die Fachkräfte, die in diesem Bereich arbeiten, sind sehr gut ausgebildet und haben fachliche Qualifikationen. Aber es gibt kein klares Kompetenzprofil für das Arbeitsfeld. Was müssen die Leute wissen und können? Das ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich kämen wir bei der Beantwortung dieser Frage zu dem Schluss, dass sie im Bereich der Sozialen Arbeit oder im Bereich der politischen Bildung fit sein müssten – was die meisten in dem Feld ja sind.
In den existierenden Weiterbildungen wird aufgebaut auf Grundkompetenzen, die im Studium erworben wurden – und diese sind eben häufig Methoden und Kompetenzen der Sozialen Arbeit. Ich finde es wichtig, dass diese Professionalisierungsdiskussion jetzt stattfindet. Die Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) versucht bereits, hier Standards zu etablieren. Erste Ansätze dazu finden sich zum Beispiel in einer grundsätzlichen Positionierung zivilgesellschaftlich getragener Präventionsarbeit (vgl. BAG RelEx 2019; zum Direkt-Download von "Externer Link: Standards für das zivilgesellschaftliche Engagement gegen religiös begründeten Extremismus").
Eine Engführung der Prävention auf den Bereich sekundäre Prävention und Distanzierung würde eine weitere Professionalisierung und Profilentwicklung aus meiner Sicht erleichtern. Wenn man sagen würde, wir haben Fachstellen und Projekte, in denen die Mitarbeitenden konkret am Phänomenbereich arbeiten und sich mit Radikalisierung und Extremismus beschäftigen. Diese könnten dann die Regelstrukturen coachen und beraten. Und auf der anderen Seite hätten wir einen Sektor, der dann nicht mehr Primärprävention hieße, sondern der in den Regelstrukturen verankert wäre. Diese Stellen und Projekte wären dann professionalisiert im Sinne der Sozialen Arbeit oder der politischen Bildung. Mir ist klar, dass dies aus einer recht theoretischen Perspektive betrachtet ist, und dass es in der Praxis einige Limitierungen gibt. Aber ich finde, auch diese Diskussion muss jetzt geführt werden.
Coquelin: Wir beide sind uns einig darin, dass ein großer Teilbereich der primären Prävention eigentlich in die Regelstrukturen gehört und man keine speziellen Ansätze braucht. Die Ausstiegsarbeit bzw. Tertiärprävention würde ich auch als ein eigenes Feld sehen. Aus der Praxisperspektive könnte man nun allerdings die Gretchenfrage stellen, ob für den Bereich dazwischen – also für die sekundäre oder selektive Prävention – überhaupt genug übrig bleibt für ein eigenständiges Arbeitsfeld mit einer hinreichend unterscheidbaren Professionalisierung.
Wir als Fachstelle Extremismusdistanzierung in Baden-Württemberg zum Beispiel stehen gar nicht in direktem Kontakt mit den Klient:innen. An uns wenden sich Fachkräfte aus der Schule oder der Jugendarbeit mit Fragen oder Problemfällen. Diese begleiten wir und unterstützen sie darin, in ihren Kompetenzen und Möglichkeiten selbst Lösungsansätze zu sehen, wir zeigen ihnen aber auch Grenzen auf. Das gehört für mich zur tertiären beziehungsweise indizierten Prävention: zu schauen, inwiefern man mit pädagogischen Mitteln noch etwas erreichen kann, oder wo Schluss ist, weil eine gewisse Sicherheitsrelevanz zum Tragen kommt.
Bleibt also noch genügend übrig für ein eigenes Arbeitsfeld der sekundären Prävention? Ich würde sagen, dass es sich eher um ein Unter-Feld der Sozialen Arbeit handelt. Diese muss begreifen, dass sie hier einen klaren Auftrag hat. Und der muss transparenter werden, auch in der Ausbildung.
Radikalisierungsprävention als Teil der Sozialen Arbeit
Welche Inhalte und Erfahrungen der Radikalisierungsprävention sollten Einzug in die Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit finden?
Coquelin: Dazu machen wir gerade ein Forschungsprojekt in Kooperation mit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Wir haben Inhalte aus der radikalisierungspräventiven Praxis in das Curriculum eines Wahlmoduls im Rahmen des Studiengangs Soziale Arbeit gegossen. Da stellen die Studierenden fest, dass bei vielen Facetten eines Radikalisierungsprozesses klassische Aufgaben der Sozialen Arbeit zum Tragen kommen, also Dinge wie Empathie stärken, Perspektivwechsel unterstützen, Impulskontrolle, parteilich an der Seite von Jugendlichen stehen.
ForschungsprojektRadikalisierungsprävention in Wissenschaft und Praxis – ein Transfermodell
Das Forschungsprojekt "Radikalisierungsprävention in Wissenschaft und Praxis – ein Transfermodell" wird unter der Federführung der LAG Mobile Jugendarbeit / Streetwork e. V. Baden-Württemberg in Kooperation mit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg durchgeführt. Das Modellvorhaben implementiert Inhalte der Radikalisierungs- und Extremismusprävention und Erfahrungen aus der präventiven Praxis in die Lehre der Sozialen Arbeit.
Es nehmen insgesamt acht Gruppen von Studierenden teil an dem Wahlmodul in der Studienrichtung Kinder- und Jugendarbeit der Fakultät Sozialwesen. Das Projekt läuft von 2020 bis 2024 und die Inhalte werden extern evaluiert. Untersucht werden die Relevanz und Anwendbarkeit der Inhalte.
Generell ist für die Soziale Arbeit – auch durch die Radikalisierungsprävention – deutlich geworden, dass es wichtig ist, sich mit der Religion Islam zu beschäftigen. Diese spielt in der Arbeit mit Jugendlichen eine große Rolle. Die einen haben Vorurteile gegen "den Islam", andere haben einfach Fragen zu ihrer kulturellen Identität. Wiederum andere radikalisieren sich vermeintlich auf Grundlage des Islams. Fachkräfte brauchen daher zumindest ein gewisses Grundverständnis, um auch keine Angst davor zu haben in einen Diskurs mit den Jugendlichen zu gehen.
Das Meta-Thema Identität und Zugehörigkeit und auch Mehrfach-Zugehörigkeiten ist von zentraler Bedeutung für die Arbeit mit Jugendlichen. Dies kann Studierende dafür sensibilisieren darauf zu achten, welche – auch extremistischen – Gruppierungen welche Angebote machen, welche Narrative bei Jugendlichen verfangen und welche Wechselwirkungen es zwischen verschiedenen Gruppierungen gibt. Auch Wissensstände und -defizite werden in der Beschäftigung mit den vielen Phänomenbereichen und Gruppierungen im Rahmen unseres Modell-Studienmoduls deutlich.
Durch die Arbeit im Feld der Radikalisierungsprävention wurden in den vergangenen Jahren viele spezifische Problembereiche viel stärker sichtbar, etwa weil bestimmte Communitys in den Blick genommen wurden. Ich denke da etwa an kroatische oder serbische Diaspora-Communities, wo in Kirchen extremistische Redner auftraten, oder auch an die Grauen Wölfe, also türkischen Ultranationalismus. Diese Themen greifen wir im Rahmen des Wahlmoduls auf und suchen jeweils Expert:innen, die uns weiterhelfen können. So lernen die Studierenden auch, dass es Fach- und Beratungsstellen gibt, die sie in der späteren Praxis bei spezifischen Problemen unterstützen können.
Demokratiefördergesetz: Mögliche Maßnahmen, Impulse & Gefahren
Welche Maßnahmen und Impulse wünschen Sie sich vom neuen Demokratiefördergesetz, das derzeit diskutiert und entwickelt wird? Welche Gefahren sehen Sie?
Coquelin: Aus der Praxisperspektive würde ich sagen, dass eine Entfristung der Förderungen natürlich der größte Wunsch ist. Dies würde eine langfristige Perspektive schaffen. Denn nur mit einer solchen Perspektive und finanziellen Absicherung kann sich vieles, worüber wir hier gesprochen haben, entwickeln. Ich würde mir außerdem wünschen, dass das Gesetz bei der Ausgestaltung der Förderstrukturen und -schwerpunkte die Expertise der Fachverbände, der Bundesarbeitsgemeinschaften und wissenschaftlichen Disziplinen stärker gewichtet als politische Interessen. Nicht der politische Wille als Reaktion auf aktuelle Ereignisse sollte die Schwerpunkte definieren, sondern die Fachlichkeit sollte mehr zum Tragen kommen.
Ostwaldt: Da gehe ich voll mit. Es braucht eine längerfristige Perspektive, und gerade dann sollte man die fördernden und empowernden Ansätze – es ist ja schließlich ein Demokratiefördergesetz – stärker trennen von spezifischen Präventionsangeboten. Das ist natürlich Wunschdenken, und die Debatte wird ja auch schon länger geführt. Die Forderung aus der Wissenschaft ist, dass man nur das Prävention nennt, was tatsächlich einer Verhinderungslogik folgt.
Viele Praktiker:innen plädieren hingegen ja sogar für ein breiteres Verständnis von Prävention. Sie sagen: "Soziale Arbeit ist Prävention, Teilhabe ist Prävention, Bürgerschaftliches Engagement ist Prävention …" Ein solch breites Präventionsverständnis ist aus meiner Sicht wirklich problematisch und ich würde dem widersprechen. Es geht sowohl am Ziel von Prävention als auch am Ziel von Sozialer Arbeit vorbei. Diese Diskussion müsste man im Rahmen der Vorbereitung eines Demokratiefördergesetzes führen.
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