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Prävention nimmt einen zentralen Stellenwert ein, wenn es darum geht, Extremismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen zu begegnen. In Forschung und Praxis hat sich in den letzten Jahren dabei die Ansicht durchgesetzt, dass bei der Vorbeugung von Radikalisierung von Individuen und Gruppen stets zwei oder mehrere Phänomenbereiche gemeinsam adressiert werden sollten. Einerseits, um Stigmatisierungseffekten vorzubeugen, andererseits, weil sich die Phänomene auch wechselseitig bedingen können.
Dies belegen unter anderem zahlreiche Beispiele der wechselseitigen Radikalisierung ("mutual radicalization"), die Moghaddam (2018) aufgearbeitet hat. Sie legen nahe, dass es sinnvoll ist, Extremismen und Radikalisierungsprozesse gesamtheitlich zu betrachten und zugleich einen universalen Präventionsansatz zu verfolgen (siehe auch Neumann 2015, S. 204). Wie notwendig das ist, wird vor allem dann deutlich, wenn Radikalisierungsphänomene beziehungsweise präventives Handeln in schulischen Lebenswelten untersucht und behandelt werden. Probleme, die sich in Schulen abzeichnen, beschränken sich zumeist nicht nur auf einzelne Phänomenbereiche. Vielmehr zeigt sich eine ganze Bandbreite politischer Extremismen (Kiefer 2021, S. 31).
Infos zum ForschungsprojektMAPEX – "Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten"
MAPEX – "Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung" ist ein Forschungs-Verbundprojekt (Dezember 2017 bis Februar 2021), das zum Ziel hatte, einen bundesweiten Überblick zu entwickeln – über alle öffentlich zugänglichen Maßnahmen der Prävention sowie der Deradikalisierung und Distanzierung im Bereich des islamistischen Extremismus.
Eine Übersicht aller Angebote ist auf der interaktiven MAPEX-Plattform abgebildet. Dafür wurden alle in den Jahren 2018 und 2019 aktiven Projekte und dauerhaft tätigen Maßnahmen befragt, die entweder einer religiös begründeten Radikalisierung (Islamismus bzw. Neo-Salafismus) vorbeugen oder im Bereich der Distanzierung beziehungsweise Deradikalisierung islamistischer Extremistinnen und Extremisten tätig sind.
Zusätzlich wurden Projekte und Maßnahmen der universellen beziehungsweise Primärprävention interviewt, die sich gegen die Abwertung von Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer Weltanschauung engagieren – Projekte also, die sich zwar nicht unbedingt an eine konkrete Ziel- beziehungsweise Risikogruppe richten, aber dennoch einen indirekten Phänomenbezug aufweisen.
Im Rahmen des MAPEX-Forschungsprojekts wurden neben einer bundesweiten quantitativen Befragung insgesamt vier verschiedene qualitative Studien durchgeführt. Die Aussagen der Praktikerinnen und Praktiker aus den Präventionsprojekten aus einer der Befragungen bilden eine wichtige Basis für diesen Artikel. Die MAPEX-Plattform sowie weitere Informationen zum Verbundprojekt finden Sie unter Externer Link: https://www.mapex-projekt.de.
Aber was zeichnet eine phänomenübergreifende Perspektive in diesem Zusammenhang aus? Wie kann diese in der Präventionspraxis gewinnbringend angewandt und umgesetzt werden? Und wo liegen ihre Möglichkeiten, Herausforderungen und Grenzen? Diesen Fragen geht dieser Beitrag nach. Er stützt sich dabei vor allem auf eine qualitative Studie, die im Rahmen des MAPEX-Forschungsprojekts durchgeführt wurde. Vorab lohnt sich jedoch ein kurzer Blick auf die zugrundeliegenden Begriffskonzepte der phänomenspezifischen, phänomenunspezifischen und phänomenübergreifenden Radikalisierungsprävention.
Begriffe und Konzepte
Phänomenspezifische Präventionsarbeit behandelt ausschließlich ein Phänomenfeld, wie zum Beispiel den islamistischen Extremismus. Vor allem bei ideologiefokussierten Ansätzen stellt sich im Bereich des Islamismus dabei immer auch die Frage nach dem Stellenwert beziehungsweise der Wirkweise des Faktors Religion. Dies wird in der Forschung aktuell noch unterschiedlich diskutiert (siehe hierzu Aslan 2017 und Kiefer et al. 2017). Einerseits wird die Wirkweise häufig überschätzt, andererseits kann der Religion in der Verschränkung mit anderen Faktoren auch eine mehr oder weniger große Rolle bei Radikalisierungsprozessen zukommen (Kiefer 2020, S. 30). Das Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention (FNRP) stellte dazu fest, dass vor allem in den Anfangsphasen von Radikalisierungsprozessen meist noch keine verfestigte Ideologie und oft auch nur wenig Kenntnisse über den Islam und religiöse Handlungspraktiken vorliegen (FNRP 2020).
Im Bereich der universellen und selektiven Prävention könnten sich daher phänomenübergreifende Ansätze als vorteilhaft erweisen, also Ansätze, die zwei oder mehrere einschlägige Phänomenbereiche gleichzeitig adressieren. Diese Ansätze können sowohl auf Gemeinsamkeiten in den Radikalisierungsprozessen aufbauen (Schröder et al. 2020)
Meist früher und weit im Vorfeld von Radikalisierungsprozessen setzt die phänomenunspezifische Präventionsarbeit an. Diese hat nach der Definition von Gruber und Lützinger (2017) allgemein die Prävention von Extremismus zum Ziel, ohne dabei ein konkretes Phänomen wie den islamistischen Extremismus, Rechtsextremismus oder Linksextremismus in den Blick zu nehmen. Die Präventionsarbeit behandelt also eher universelle "Risiken". Unspezifische Ansätze berühren daher nicht zwangsläufig und in direkter Weise extremistische Inhalte. Oft ist dabei auch die Grenze zur politischen Bildung oder zu allgemeinen demokratiefördernden Maßnahmen fließend, so dass manche Projekte beziehungsweise Maßnahmen den Präventionsbegriff stark (über)dehnen. Zum Teil spielen hierbei auch förderstrukturelle Überlegungen mit hinein (Greuel 2020).
Um mit dem Begriff der "Radikalisierungsprävention" aber eben nicht ganze Gruppen der Radikalisierung verdächtig zu machen und auch Projekte nicht zu überfordern, ist daher gerade im Bereich der universellen Prävention auf Grenzbestimmungen und eine genaue Analyse des Ansatzes zu achten (Freiheit et al. 2018, S. 25).
Durch die eingangs erwähnte, im Rahmen von MAPEX durchgeführte qualitative und quantitative Studie konnten vielfältige und wichtige Stimmen aus der Praxis zu den unterschiedlichen Ansätzen eingefangen werden. Wie werden diese in der praktischen Präventionsarbeit definiert und wie gestaltet sich dabei gelingende phänomenübergreifende Präventionsarbeit?
Zunahme phänomenübergreifender Arbeit
Zunächst lässt sich mit Blick auf die Daten festhalten, dass phänomenübergreifendes Arbeiten in der Radikalisierungs- beziehungsweise Extremismusprävention in den letzten Jahren in Deutschland stark ausgeweitet wurde. Stellten Gruber und Lützinger in ihrer Untersuchung von 2014/2015 noch fest, dass "lediglich" 13 Prozent der Präventionsangebote mindestens zwei oder mehr Phänomenbereiche adressieren, beträgt der Anteil in aktuellen Vergleichsdaten (2021) bereits 25 Prozent.
Dies trifft jedoch, wie beide Befragungen zeigen, in erster Linie auf den Bereich der universellen und selektiven Prävention zu und weniger auf den Bereich der indizierten Prävention und Intervention (Informationen zu den verschiedenen Begriffen im Kontext der Prävention finden Sie im Infodienst-Betrag "
Auffallend ist zugleich, dass sich phänomenübergreifende und phänomenspezifische Ansätze nicht wesentlich in ihren konkreten Formaten voneinander unterscheiden. Lediglich die Fokussierung auf einen Phänomenbereich oder die spezifisch religiöse beziehungsweise politische Auseinandersetzung entfällt. Diese Tendenz spiegelt sich auch in den 25 vertiefenden qualitativen Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Präventionsprojekten wider, die im Rahmen des Bielefelder Teilprojekts des MAPEX-Verbundprojekts durchgeführt wurden.
Ansätze und Methoden der universellen und selektiven Prävention
Weit verbreitete phänomenübergreifende beziehungsweise phänomenunspezifsche Ansätze im Bereich der universellen Prävention bestehen demnach darin, über die verschiedenen extremistischen Erscheinungsformen zu informieren und die adressierten Zielgruppen über die extremistischen Argumentationsmuster und Wirkmechanismen aufzuklären (siehe auch Milbradt et al. 2019, S. 164). Entsprechend ihres phänomenübergreifenden Verständnisses werden von den Angeboten dabei immer auch verschiedene Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit, Sexismus, homofeindliche und andere gruppenbezogen-menschenfeindliche Einstellungen aufgegriffen sowie Prozesse wechselseitiger Beeinflussung kritisch reflektiert.
Eine Mitarbeiterin eines Präventionsprojekts im Bereich der universellen Prävention im Handlungsfeld Schule sagte beispielweise: "Phänomenübergreifendes Arbeiten heißt für uns, die jugendkulturelle Bildung so zu erweitern, dass auf verschiedene Radikalisierungstendenzen und deren wechselseitige Verstärkung in bestimmten Kontexten flexibel eingegangen werden kann. Es bedeutet vor allem auch, weit vor einer Radikalisierung anzusetzen – also Jugendliche, die zum Beispiel von Diskriminierung betroffen sind, zu stärken, alternative Wege des Umgangs aufzuzeigen, so dass es bestenfalls gar nicht zur Radikalisierung kommt."
Ganz ähnlich argumentiert auch eine Mitarbeiterin eines Präventionsprojekts, das sich vor allem im Bereich der selektiven Prävention verortet: "Einen phänomenübergreifenden Ansatz zu verfolgen, bedeutet für uns, sich nicht einseitig auf einen Phänomenbereich wie beispielsweise den religiös begründeten Extremismus zu fokussieren, sondern zu schauen, welche Phänomenbereiche in Bezug auf Radikalisierung an Schulen überhaupt eine Rolle spielen."
Gleichzeitig bedeute phänomenübergreifendes Arbeiten aber auch, "sich mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden auseinanderzusetzen – zum Beispiel der Phänomenbereiche Rechtsextremismus und religiös begründeter Extremismus". In beiden Kontexten fänden sich ähnliche Mechanismen und Feindbilder, etwa "die Juden und die Demokratie". Auch würden sich in beiden Zusammenhängen antisemitische Narrative häufig in Form von Verschwörungstheorien äußern. Eine weitere Gemeinsamkeit sei eine blinde beziehungsweise unreflektierte Autoritätshörigkeit, die aber sehr unterschiedlich ausfallen könne. Im Rechtsextremismus sei dies "die Nation beziehungsweise Rasse", im religiös begründeten Extremismus "die Umma, die Glaubensgemeinschaft". Gemeinsam sei beiden jedoch, dass ‚da oben‘ jemand sei "der sagt, wie und was richtig ist", so die Mitarbeiterin des Projekts aus dem Bereich der selektiven Prävention.
Anders als bei der universellen Prävention gehören zum Handlungsfeld der selektiven Prävention jedoch nicht alle Schulen und die mit ihnen verbundenen Sozialräume. Hier geht es eher um schulische Lernorte und Sozialräume, die erwiesenermaßen in sogenannten Brennpunkten liegen oder wo erste Vorfälle aufgetreten sind (Kiefer 2015).
Ebenso wie im Bereich der universellen Prävention werden jedoch auch im Rahmen dieser Projekte und Maßnahmen, die einen phänomenübergreifenden beziehungsweise phänomenunspezifischen Zugang verfolgen, zumeist partizipative Gesprächsworkshops oder Projekttage an Schulen und außerschulischen Einrichtungen durchgeführt. Diese verbinden inhaltliche Diskussionen mit Übungen und sollen die Schülerinnen und Schüler zur Reflexion über eigene Erfahrungen, Perspektiven und Erwartungen anregen. Häufig geht damit auch die Auseinandersetzung mit Themen einher wie Menschenrechte, Demokratie, Diskriminierung, Vielfalt, identitäts- oder religionsbezogene Fragen, geschlechterspezifische Rollenvorstellungen sowie mit aktuellen innen- und außenpolitischen Themen. Methodisch wird in diesem Zusammenhang oft auf sogenannte Peer-Ansätze zurückgegriffen. Bei diesen werden junge Erwachsene im Vorfeld zu sogenannten Teamerinnen und Teamern ausgebildet, um ihr Wissen und ihre Erfahrungen an andere junge Menschen weiterzugeben (Freiheit et al. 2021, S. 239).
Andere phänomenübergreifende Angebote verfolgen einen stärkeren jugendkulturellen Zugang. Hierbei werden die Heranwachsenden in Workshops zu Hip-Hop, Breakdance, Skateboarding, Parkour oder auch zu Comics und Graffiti an zivilgesellschaftliche Themen und Haltungen herangeführt. Eine Interviewpartnerin betont, diese jugendkulturellen Praxen seien "wahre Türöffner für die Auseinandersetzung mit verschiedenen Diskriminierungsformen". Sie seien aufgrund "ihres vielfach rassismuskritischen und emanzipatorischen Ursprungs" überaus geeignet, die Vermittlung von jugendgerechter politischer Bildung und Prävention zu unterstützen. Außerdem würden sie Haltungen der gegenseitigen Anerkennung, aktiven Toleranz und Weltoffenheit bestärken. Eine besondere Bedeutung habe die Auseinandersetzung mit verschiedenen Jugendkulturen auch durch den Umstand erhalten, dass sowohl rechtsextreme als auch islamistische Gruppierungen etwa die Popularität von Hip-Hop nutzen, um junge Menschen zu rekrutieren und ihre Propaganda zu verbreiten.
Neben diesen Ansätzen werden im Bereich der phänomenübergreifenden, aber vor allem auch in der phänomenunspezifischen Prävention, häufig Methoden des interkulturellen Lernens eingesetzt, die sich zwischenzeitlich zu diversity-orientierten Ansätzen weiterentwickelt haben (siehe auch Milbradt et al. 2019, S. 168). Der präventive Grundgedanke dahinter ist, dass Fremdheitswahrnehmungen zu Ängsten und Abwehrhaltungen führen, die wiederum eine Affinität zu extremistischen Haltungen herstellen können.
Auch Angebote zur Förderung kritischer Medienkompetenz werden in den letzten Jahren verstärkt eingesetzt, um extremistische Argumentationen wie Fake News und Verschwörungsmythen zu erkennen und mit eigenen Beiträgen entsprechend auf diese reagieren zu können.
Neben den beschriebenen Ansätzen werden prinzipiell auch alle anderen (sozial-)pädagogischen Vorgehensweisen präventiv gewendet. Entsprechend lassen sich auch sport-, erlebnis-, theater- und/oder musikpädagogische Ansätze im Bereich der phänomenübergreifenden und phänomenunspezifischen Radikalisierungs- und Extremismusprävention finden (siehe auch Milbradt et al. 2019, S. 170). So werden zum Beispiel im Rahmen eines Planspiels Jugendliche "unmerklich mit Methoden, Argumenten und Denkweisen von extremistischen Gruppen konfrontiert und zu moralisch bedenklichen Handlungen im Spiel bewegt", wie ein Mitarbeiter eines Projekts erklärt. Ziel des Spiels sei es, Jugendlichen bewusst zu machen, mit welch einfachen Methoden radikale Gruppen sie zu beeinflussen versuchen, sowie die Teilnehmenden "über die körperliche Erfahrung für gruppendynamische Prozesse, Machtstrukturen und Entmenschlichungsprozesse zu sensibilisieren".
Von zentraler Bedeutung im Bereich der phänomenübergreifenden Radikalisierungsprävention an Schulen sind auch mehrstufige strukturierte Clearingverfahren. Darunter ist ein Maßnahmenbündel zu verstehen, welches zunächst klärt, ob eine Radikalisierung vorliegt und mit welchen Mitteln ihr begegnet werden kann. Doch ebenso wie bei Fach- und Beratungsstellen bedeutet phänomenübergreifend in diesem Kontext, dass verschiedene Formen von Radikalisierung bei einem entsprechenden Verdacht (getrennt) in den Blick genommen werden und spiegelt das breite Verständnis von phänomenübergreifender Radikalisierungsprävention in der Praxis wider.
Je nach Präventionsebene und je nach Angebot wird phänomenübergreifendes Arbeiten also recht unterschiedlich definiert. Auch werden die beiden Begriffe "phänomenübergreifend" und "phänomenunspezifisch" zum Teil synonym, zumindest nicht trennscharf voneinander abgegrenzt verwendet.
Ein weiteres Arbeitsfeld, in dem phänomenübergreifende beziehungsweise phänomenunspezifische Ansätze der Radikalisierungsprävention eine wichtige Rolle spielen, sind Maßnahmen vollzugsspezifischer Gruppenangebote. Diese stellen sich der besonderen Herausforderung extremistischer Rekrutierung und potenzieller Radikalisierung im Justizvollzug. Den vorwiegend selektiven Präventionsformaten liegt dabei die Annahme zugrunde, dass "spezifische soziale, emotionale und juvenile Bedürfnisse [...] zur Anfälligkeit für extremistische Ideologien oder entsprechend agitierenden Personen (im Gefängnis) führen" können (Milbradt et al. 2019, S. 170).
Ansätze und Methoden der indizierten Prävention und Intervention
Im Bereich der phänomenübergreifenden und phänomenunspezifischen indizierten Prävention beziehungsweise Intervention gibt es zudem verschiedene einzelfallorientierte Hilfsangebote (zum Beispiel in Schule/Ausbildung und Beruf) und Unterstützungsangebote (wie im Falle der Ausstiegsbegleitung/-beratung). Hinzu kommen Trainingsformate, in denen eine intensive und direkte pädagogische beziehungsweise psychotherapeutische Auseinandersetzung mit den problematischen Haltungen und Verhaltensweisen der betroffenen Personen erfolgt.
Im Unterschied zu phänomenspezifischen Ansätzen gehen diese Angebote aber nicht davon aus, "dass Radikalisierungsprozesse in erster Linie ideologisch oder religiös motiviert" seien, sondern, dass diese, wie eine Projektmitarbeiterin erklärt, "ähnliche Ursachenbündel aufweisen wie deviant und delinquent handelnde Jugendliche". Ursächlich seien vor allem frühkindliche und biografische Erfahrungen sowie daraus resultierende psychosoziale Einschränkungen und Erlebnisse (wie zum Beispiel Traumata, negative Entwicklungsverläufe, familiäre Gewalt-, Desintegrations- und/oder Krisenerfahrungen).
Die zur Anwendung kommenden Methoden umfassen psychologische Beratung, psychotherapeutische und psychoanalytische Therapieformen, aber auch sozialarbeiterische und systemische Ansätze. Diese sollen den emotionalen Gesundheitszustand der betroffenen Personen fördern und sie in ihren Beziehungsgefügen stärken (Familie, Freundeskreis, wichtige Mitmenschen). Quer dazu verlaufen Methoden der Traumapädagogik und -therapie, Anti-Aggressions- und Gewalt-Trainings, Deeskalationsübungen sowie Drogenberatung und -therapie (für eine nähere Aufschlüsselung der angewandten Methoden siehe Waleciak 2021).
Herausforderungen, Vorteile und Perspektiven der verschiedenen Ansätze
Die befragten Praxisakteurinnen und -akteure stellen heraus, dass insbesondere aufsuchende oder offene Formate der pädagogischen beziehungsweise Sozialen Arbeit immer größere Schwierigkeiten haben, die Zielgruppen zu erreichen. "Die Crux" sei, wie ein Mitarbeiter der offenen Jugendarbeit formuliert, "die Jugendlichen zu erreichen. Durch neue Medien und die Nutzung von Smartphones hat sich die Freizeitgestaltung von Jugendlichen stark verändert". Der Zugang zu ihnen stelle von daher eine der größten Herausforderungen in der phänomenspezifischen wie phänomenübergreifenden Arbeit dar (siehe auch Koc 2019, S. 110). Kritisch sei dies auch insofern, "als Rekrutierungs- und Mobilisierungsversuche extremistischer Milieus im Internet und in sozialen Netzwerken subtil und unterhalb des Radars ablaufen und sich somit der Aufmerksamkeit und dem Einflussbereich von Eltern, Lehrern und Sozialarbeitern entziehen."
Der Vorteil phänomenübergreifender oder auch phänomenunspezifischer Ansätze sei jedoch, dass Angebote, insbesondere der universellen und selektiven Prävention, bereits vor einer möglichen Hinwendung ansetzen – ohne dadurch gleichermaßen Gefahr zu laufen, Stigmatisierungs- oder Etikettierungsprozesse in Gang zu setzen. "Vorteilhaft am phänomenübergreifenden Ansatz ist", wie eine Mitarbeiterin der Universalprävention im Handlungsfeld Schule zusammenfasst, "dass die gemeinsamen Mechanismen in den Blick geraten und weniger die Gefahr besteht, sich auf ein Phänomen zu fixieren und Personen und Gruppen, wie im Falle des Islamismus, zu stigmatisieren".
Problematisch bei phänomenspezifischen Ansätzen sei zudem, dass stets Vorannahmen über Zielgruppen oder bestimmte sozialräumliche Kontexte getroffen werden müssten. Auch die Fokussierung auf den islamistischen Extremismus auf der einen und den Rechtsextremismus auf der anderen Seite könne nach Aussage einiger Interviewpartnerinnen und Interviewpartner zu Schwierigkeiten führen. Dies sei beispielsweise dann der Fall, wenn sich an Schulen Phänomene von Radikalisierung abzeichnen, die keinem der beiden Phänomenbereiche eindeutig zugeordnet werden können. "Dies stellten wir im Projektverlauf zum Beispiel in Bezug auf den herkunftsbezogenen Ultranationalismus, also zum Beispiel den Grauen Wölfen, fest", erklärt eine Projektmitarbeiterin.
Überdies erwecke eine isolierte Bearbeitung nur eines Phänomenbereichs schnell den Eindruck einer fragwürdigen Parteilichkeit und verhindere, andere in diesem Zusammenhang wichtige Aspekte, wie antimuslimischen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) angemessen zu thematisieren. "Gut am phänomenübergreifenden Ansatz" sei, so eine Mitarbeiterin der Universalprävention, "nicht zu sagen, das sind Menschen mit Rassismuserfahrungen, daher sind sie per se die besseren Menschen, sondern, dass GMF-Facetten in allen Bereichen und Schichten zu finden sind, und hier in der Prävention anzusetzen und junge Menschen demgegenüber zu stärken."
Dies impliziere immer auch eine ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit tief verankerten, oft latenten Vorurteilen gegenüber Menschen anderer Herkunft und Religionen. Die Mitte-Studien des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung sowie die der Kolleginnen und Kollegen der Universität Leipzig zeigen, dass Einstellungen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft weit verbreitet sind (siehe zum Beispiel Decker & Brähler 2020; Zick & Küpper 2021).
Umso wichtiger sind laut mehrerer Befragter auch flankierende Präventions- und Fortbildungsangebote, die sich nicht nur an junge Menschen wenden, sondern beispielsweise auch an Lehrkräfte oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in öffentlichen Behörden. Dabei zeigt sich mit Blick auf die bundesweite und qualitative Befragung des MAPEX-Verbundprojekts, dass diese Angebote in den letzten Jahren zwar deutlich zugenommen haben. Eine Umfrage des Infodienst Radikalisierungsprävention unter Fachleuten im Juni 2020 zeigt aber auch, dass vor allem im Bereich der universellen Prävention ein noch "größeres Angebot zur phänomenübergreifenden Behandlung der Thematik" wünschenswert ist (zur
Maßnahmen für Fachkräfte und Multiplikatoren umfassen Fortbildungen und Weiterbildungsseminare. Diese informieren beispielsweise über verschiedene Phänomene und Formen der Radikalisierung und zeigen Handlungsoptionen im Umgang mit sich radikalisierenden oder bereits radikalisierten Personen und deren sozialem Umfeld. Zugleich geht es in den Fortbildungen und Weiterbildungsseminaren meist auch um eine Sensibilisierung für eigene mögliche Vorurteile und Verhaltensweisen. Eine Herausforderung sei jedoch, so ein Praxisakteur im Bereich der Universalprävention, dass diese Angebote zumeist nur von hinreichend sensibilisierten Schulen beziehungsweise Institutionen angenommen werden würden. "Viele Schulen – und gerade die Schulen, wo es die meisten Probleme gibt – kapseln sich lieber so ein bisschen ab. Da soll es dann nicht noch komplizierter werden", berichtet auch eine Projektmitarbeiterin der selektiven und indizierten Prävention.
Grenzen der phänomenübergreifenden und -unspezifischen Ansätze
Phänomenübergreifenden und phänomenunspezifischen Ansätzen sind auch Grenzen gesetzt. Dies trifft insbesondere auf den Bereich der indizierten Prävention beziehungsweise Intervention zu. So erfordert der pädagogische Umgang mit bereits ideologisierten oder gefährdeten Jugendlichen eine genauere Beobachtung und Adressierung von Individuen und Gruppenverläufen. Eine zentrale Bedeutung komme in diesem Zusammenhang vor allem Desintegrations-, Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen zu, wie die befragten Praktikerinnen und Praktiker betonen.
Bei rechtsextremistisch eingestellten Jugendlichen und jungen Erwachsenen könnten häufig Außenseiter- und Ausgrenzungserfahrungen in der Schule oder in anderen sozialen Umfeldern beobachtet werden, wohingegen es im Bereich des islamistischen Extremismus vor allem darum ginge, einen Umgang mit religions- und/oder herkunftsbezogenen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen zu finden. Gefragt nach den Unterschieden und Grenzen phänomenübergreifender beziehungsweise -unspezifischer Ansätze, antwortet eine Projektmitarbeiterin: "Wenn ich mit einem Jugendlichen arbeite, der eher Rassismus ausübt, muss ich natürlich mit der Person ganz anders arbeiten, als mit einem Jugendlichen, der Rassismuserfahrungen gemacht hat."
Ein weiterer Unterschied sei, dass die präventive Arbeit im Phänomenbereich des islamistischen Extremismus nicht auf den "Ausstieg aus dem Islam", also der Abwendung von der Religion abziele, sondern auf die Abwendung von gewaltbefürwortenden und gruppenbezogen-menschenfeindlichen Einstellungsmustern, die sich vermeintlich auf den Islam berufen.
Schon diese wenigen ausgewählten Unterschiede zeigen: Präventionsarbeit gegen islamistischen Extremismus auf der einen und Rechtsextremismus auf der anderen Seite kann nicht allein phänomenübergreifend oder phänomenunspezifisch erfolgen. Es besteht ansonsten die Gefahr, "die einzelnen Phänomene nicht angemessen zu verstehen sowie die Unterschiede hinsichtlich ihrer historischen Bezugspunkte, ihrer Stellung in der deutschen Gesellschaft, ihrer Vergemeinschaftungsformen oder ihrer Ziele zu nivellieren" (Behr et al. 2021, S. 287).
Jugendliche mit ihren Themen und Sorgen ernst nehmen
Zudem seien Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung zu einem nicht geringen Grad auch die Folge innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen, wie etwa der immer wiederkehrenden Debatte, ob der Islam nun zu Deutschland gehöre oder nicht. Damit ginge für die Präventions- beziehungsweise Interventionspraxis, wie ein Praxisakteur formuliert, auch die Notwendigkeit und Herausforderung einher, die bestehenden Machtverhältnisse sowie die eigene Position innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren. Diese Selbstreflexion sei unabdingbar, um sich nicht in rein politische Konfrontationen zu begeben oder – wenn auch aus hehren Absichten – Stereotype und Vorurteile zu reproduzieren.
Phänomen- wie präventionsebenenübergreifend funktioniere jedoch, so eine Mitarbeiterin im Bereich der indizierten Prävention und Intervention, "Jugendliche ernst zu nehmen, nicht in ihren radikalisierten Einstellungen beziehungsweise Haltungen, sondern in ihren Sorgen und Themen, und ihnen eine Plattform zu geben, um wertfrei über ihre Gefühle, Sorgen und Nöte zu sprechen."
Dies trifft nicht nur mit Blick auf den Bereich der indizierten Prävention und Intervention zu. Auch im Bereich der universellen und/oder selektiven Prävention geht es zunächst weniger um kognitive Lernprozesse oder den Austausch von Argumenten. Die Praxisakteurinnen und -akteure betonen, dass das Ziel vielmehr sei, Jugendliche miteinander ins Gespräch zu bringen, sie zu eigenständigem Denken zu motivieren und sie für die Gefahren von Stereotypen, einfachen Antworten und Feindbildern zu sensibilisieren. Auch sollten die Jugendlichen, wie die Projektleitung eines Projekts der Universalprävention betont, "nicht widerlegt, belehrt oder überzeugt werden und schon gar nicht das Gefühl bekommen, sie sollten verändert werden".
Denn, wie die Erfahrung zeigt, kann der Austausch von Pro- und Kontra-Argumenten schnell zu einem "Ping-Pong-Spiel" verkommen, was extremistische Positionen festigen und zur Radikalisierung beisteuern kann. In der phänomenübergreifenden wie in der phänomenspezifischen Radikalisierungsprävention hat sich daher auch die Überzeugung durchgesetzt, dass eine akzeptierende und narrative Dialogarbeit einer konfrontativen Argumentation vorzuziehen sei (siehe auch Behr et al. 2021).
Es braucht diverse, hochqualifizierte Teams und langfristige Planbarkeit
Um eine gute Vertrauensbeziehung und Kommunikation zu ermöglichen, sei es von daher auch wichtig, möglichst multiprofessionelle, multiethnische, multikulturelle sowie multigeschlechtliche Teams an der Präventionsarbeit zu beteiligen. Je breiter ein Team hinsichtlich seiner Diversität aufgestellt ist, desto vielseitiger und individueller könne die Arbeit mit den Zielgruppen gestaltet werden, betonen viele der Befragten. Ein multiethnisches Team kann auch Sprachbarrieren abbauen, die im Umgang mit Eltern im Beratungsprozess mitunter vorkommen können, wenn diese nur schlecht oder gar kein Deutsch sprechen.
Wichtig beim phänomenübergreifenden Arbeiten sei es nach Ansicht vieler Befragter auch, sich im islamistischen Extremismus wie im Rechtsextremismus oder auch in weiteren Phänomenbereichen gut auszukennen, "um bei den Jugendlichen gegebenenfalls noch einmal nachhaken zu können, sofern ein bestimmter Name fällt", wie eine Praxisakteurin formuliert. Dies verlange von den Beschäftigten "eine hohe Bereitschaft sich kontinuierlich weiterzubilden und sich thematisch breit aufzustellen". Die projektbasierte Arbeit vieler Angebote und die damit einhergehende Befristung von Stellen unterlaufe jedoch diese Anforderung – "ständig brechen daher auch Leute weg", so die Projektmitarbeiterin. Damit geht aus Sicht der Befragten auch die Herausforderung einher, zum einen qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, zum anderen aber auch Erfahrungs- und Fachwissen nicht zu verlieren.
Nicht zuletzt sei die gewachsene Beziehung zwischen Fachkräften und Klientinnen und Klienten einerseits und verlässlichen Netzwerken andererseits die Grundbedingung für eine wirksame und nachhaltige Präventions- und Distanzierungsarbeit. Wechselt das Personal zu häufig, sei es so gut wie unmöglich, tragfähige Netzwerke und Kooperationen mit Regeleinrichtungen wie Schulen aufzubauen. Auch stören häufig wechselnde Ansprechpartnerinnen und -partner eingespielte Abläufe, die in der Folge neu ausgehandelt und etabliert werden müssten (siehe auch MAPEX-Forschungsverbund 2021).
Nachhaltige und auf einem fachlichen Fundament gebildete Strukturen, wie sie in den Regelstrukturen vielerorts bereits existieren und von der Präventionslandschaft sinnvoll ergänzt werden können, sind eine Voraussetzung gelingender Radikalisierungsprävention. Dabei sollten die Ansätze breit aufgestellt sein, um nicht nur isolierte Elemente von Radikalisierungsphänomenen in den Blick zu nehmen, sondern auch deren strukturelle Ursachen und Wechselwirkungen. Phänomenübergreifende Ansätze bieten sich hierfür besonders an.
Gleichzeitig sind phänomenübergreifenden Ansätzen aber auch Grenzen gesetzt. Wie erwähnt, kann der pädagogische Umgang mit bereits ideologisierten beziehungsweise radikalisierten Personen nicht zwangsläufig in allen Phänomenbereichen nach demselben Muster erfolgen. Vielmehr hat die Rückspiegelung aus der Projektpraxis gezeigt, dass je nach Kontext unterschiedliche Zugänge (phänomenübergreifend, phänomenspezifisch und phänomenunspezifisch) ihre Berechtigung haben können und dass nicht pauschal der eine dem anderen vorzuziehen ist.
Gleichwohl sollten bestenfalls und so weitgehend wie möglich stets alle Formen des politischen wie des religiösen Extremismus adressiert und auch andere Phänomene Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gleichermaßen angesprochen und bearbeitet werden, um negative Markierungen oder gar Stigmatisierungen von Zielgruppen zu verhindern.
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