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Infodienst Radikalisierungsprävention: Herr Bayaral, was verbirgt sich hinter dem Begriff "Furkan“?
Adem Bayaral: Der Name "Furkan" ist ein arabischer Begriff, den man mit "Trennung" oder "Unterscheidung" übersetzen kann. Gemeint ist hier die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge oder zwischen dem Guten und dem Bösen. Im Koran bezieht sich der Begriff auf die Aufdeckung der Wahrheit und die Abgrenzung vom Irrglauben und Unglauben. Wenn man die Vorträge von Alparslan Kuytul online anschaut, kommen solche Formulierungen häufiger vor, im Sinne von: "Wir möchten die Wahrheit und die Lüge aufdecken, dafür sind wir da.“ In Deutschland verwendet die Gemeinschaft den Namen "Furkan", "Furkan-Gemeinschaft" oder "Vorreiter Generation (Öncü Nesil)" zwar für Profile in Sozialen Medien, offiziell agiert sie jedoch seit 2015 in Dortmund als "Furkan Kultur- und Bildungszentrum e. V." und seit 2018 in Hamburg als Verein "Jugend, Bildung und Soziales e. V. ".
Was sind die Ziele der Furkan-Gemeinschaft?
Die Ziele werden von der Furkan-Gemeinschaft klar definiert und in Zeitschriften, auf Internetseiten und bei Vorträgen offen kommuniziert: Man will zur "Islamischen Zivilisation" (türkisch: İslam Medeniyeti) zurückkehren durch eine "Vorreitergeneration" (türkisch: Öncü Nesil). Darin sollen sich alle Muslime vereinigen können. Man braucht dafür einen islamischen Staat und einen Führer, also ein Kalifat. Damit sind weitere Ziele verbunden. Wenn man von einem Kalifat spricht, spricht man auch von der Einführung der Scharia.
Die Anhänger:innen der Furkan-Gemeinschaft meinen, dass seit der Abschaffung des Kalifats in der Türkei 1924 keine Umma bestünde, also keine Gemeinschaft aller Muslime weltweit. Diese Umma sei aber nötig, damit die islamische Welt erstarken und wieder herrschen kann. Sie denken: "Momentan sind wir schwach, weil wir nicht mehr die 'islamische Zivilisation' erleben, die der Prophet erlebt hat." Sie sprechen auch von einer "schlafenden Umma" und sehen es als ihr Ziel, diese Umma wieder zu erwecken.
In ihrer Kommunikation nach außen achten sie sehr genau darauf, in welchem Land und in welcher Situation sie sprechen oder welche Inhalte sie veröffentlichen. In Deutschland werden gemäßigtere Aussagen getätigt und veröffentlicht als in der Türkei. Das sieht man zum Beispiel bei den Vorträgen von Alparslan Kuytul. Auf türkischen Furkan-Internetseiten findet man politische Vorträge, in denen er sich gegen die Demokratie ausspricht. In Deutschland werden jetzt einige Videos von Kuytul übersetzt und mit Untertiteln versehen, allerdings fast nur die theologischen Beiträge, aber nicht solche mit demokratiefeindlichen oder mit strafrechtlich relevanten Aussagen. Die Akteure in Deutschland wissen genau, dass sie vom Verfassungsschutz beobachtet werden.
Wie sehen die Strategien, Mittel und Aktionsformen der Furkan-Gemeinschaft aus? Wie sollen die "Vorreitergeneration" und eine "islamische Zivilisation" geschaffen werden?
Allgemein sind die Mittel ähnlich wie bei anderen islamistischen Bewegungen: Man orientiert sich an Koran und Sunna und am Vorbild des Propheten Mohammed – nach dem Motto "Was der Prophet getan hat, machen wir auch." Zunächst spricht man einen engen internen Kreis an, also die Verwandten, und versucht sie vom richtigen Weg zu überzeugen. Dann wendet man sich an das engere soziale Umfeld. Hat man diese überzeugt, wird der Personenkreis für die Ansprache immer weiter ausgedehnt, bis man irgendwann schließlich die Regierung übernehmen kann.
Im Konkreten gehen die Anhänger:innen der Furkan-Gemeinschaft aber andere Wege als die anderen islamistischen Gruppierungen: Sie sehen Bildungsarbeit als zentrales Mittel, um ihre Ziele zu erreichen. Sie wollen die "Vorreitergeneration" ausbilden und schulen. Kuytul sagt in seinen Videos und Vorträgen: Wir dürfen nicht nur da´wa machen – also nicht nur zum Islam aufrufen und missionieren – sondern unsere Anhänger:innen brauchen auch eine gute Bildung. Sie müssen nicht nur über die Eigenschaften der islamischen Gelehrten verfügen, sondern auch in einem weiteren Sinne intellektuell sein, also über eine gute Allgemeinbildung verfügen.
Die Schüler:innen sollten sich zum Beispiel auch in Soziologie, Politik und Wirtschaft auskennen. Es ist ihnen erlaubt, auch nicht-religiöse Bücher zu lesen – sie sollen es sogar. Man müsse schließlich wissen, wie die "Feinde", wie Israel, die USA oder "der Westen" ticken – und in allen Wissensgebieten belesen sein, um Vorteile für Muslim:innen daraus zu ziehen. Das ist ein entscheidender Unterschied zu anderen islamistischen Organisationen. Salafist:innen zum Beispiel würden es verbieten, Bücher der "Feinde" zu lesen.
Deshalb bietet die Furkan-Gemeinschaft Seminare und Schulungen in Präsenz an – und seit Corona verstärkt online – auch in Deutschland. Es gibt ein dreijähriges Ausbildungsprogramm zur islamischen Geschichte, Theologie und Rechtswissenschaften, das mit einem Zertifikat abschließt.
Welche Zielgruppen spricht die Furkan-Gemeinschaft an?
Furkan war ursprünglich eine türkische Elitegruppe, die vor allem Leute mit höherer Bildung ansprach, und sie ist es zum großen Teil auch immer noch. Es gibt zum Beispiel Ärzte, Anwälte und Journalistinnen unter den Anhänger:innen. Aber jetzt hat die Furkan-Gemeinschaft das Ziel, auch Jugendliche anzusprechen, die nicht unbedingt ein höheres Bildungsniveau haben. Sie haben besonders in Deutschland die Lücke erkannt, die durch den Niedergang des Salafismus entstanden ist, und wollen nun eine breitere Gruppe von Jugendlichen erreichen. Da die Furkan-Gemeinschaft hauptsächlich in der Türkei agiert und ihre Botschaften vor allem auf Türkisch verbreitet, spricht sie vor allem türkischsprachige Menschen an.
Als der sogenannte Islamische Staat mehr Gebiete in Syrien und im Irak eroberte und Erfolge erzielte, hatten die salafistischen Gruppen großen Zulauf bei den Jugendlichen. Furkan oder Hizb ut-Tahrir (HuT) konnten damals die Jugendlichen nicht so gut erreichen. Als jedoch der "IS" nicht mehr erfolgreich war, ist eine Lücke entstanden. Denn die Salafisten haben die Motivation durch den Zerfall des "IS" verloren. Und sie warben nicht mehr so aktiv an beziehungsweise waren nicht mehr so glaubwürdig. Außerdem bekämpften sich verschiedene Untergruppen ideologisch. Die Fragen der Jugendlichen waren aber immer noch da. Die Zahlen von HuT und Furkan steigen seitdem an.
Ein Unterschied zu anderen Gruppierungen ist, dass die Furkan-Anhänger:innen in Deutschland eher junge Erwachsene sind, so ab Anfang zwanzig. Es gibt auch jüngere, aber die Mehrheit sind über zwanzig, manche auch Mitte dreißig, sie haben vielleicht schon eine Familie gegründet und haben keinen Bock auf Action. Sie wollen vernünftig leben. Das kann man auch bei den Vorträgen, sowohl online als auch in Präsenz sehen. Dabei treten sie sehr selbstbewusst, reif und bescheiden auf.
Auch wenn Kuytul ganz deutlich macht, was richtig und was falsch ist, machen er und die Furkan-Gemeinschaft im Gegensatz zu anderen islamistischen Gruppierungen keinen Takfir. Das heißt, dass sie Muslim:innen anderer Gemeinden oder Gruppierungen mit anderen Auffassungen nicht als Ungläubige (kuffar) bezeichnen. Obwohl andere türkischstämmige Gemeinden wie Millî Görüş oder DİTİB mit Furkan nicht zuletzt wegen der Kritik Kuytuls an der aktuellen Regierung in der Türkei nichts zu tun haben wollen, ist die Furkan-Gemeinschaft ihnen gegenüber offen und sieht das ganz anders. Sie sagen: "Wir müssen hier eine Umma schaffen und brauchen die anderen Muslime."
Wie viele Furkan-Anhänger:innen gibt es in Hamburg beziehungsweise in Deutschland?
Die Frage kann ich eigentlich nicht beantworten, es gibt keine genauen Zahlen. Man kann aber sagen, dass es in Deutschland keine große Gruppierung ist, allerdings steigen die Zahlen und die Furkan-Bewegung gewinnt insbesondere aus dem früheren salafistischen Spektrum neue Anhänger:innen.
Die Bundes- und Landesbehörden für Verfassungsschutz sprechen im Jahr 2019 bundesweit von circa 350 Anhänger:innen der Furkan-Gemeinschaft, davon circa 170 in Hamburg, 80 in NRW und etwa 30 in Bayern. Die Tendenz ist steigend: 2018 war im Verfassungsschutzbericht des Bundes noch von 290 Anhänger:innen die Rede. Und in seinem aktuellen Bericht nennt der Hamburger Verfassungsschutz für Ende 2020 die Zahl von rund 400 Mitgliedern bundesweit.
Wir wissen, dass bei den Demonstrationen in Hamburg 250-300 Personen waren. Die müssen aber nicht alle Furkan-Anhänger:innen sein – und sie müssen nicht alle aus Hamburg kommen. Es gibt Gruppierungen in Dortmund, Berlin, München und Hamburg. Diese sind untereinander gut vernetzt und reisen auch zu Veranstaltungen in anderen Städten. Ich schätze, dass die Anhängerschaft der Furkan-Gemeinschaft etwa zur Hälfte aus Frauen besteht.
Wenn man sich die deutschsprachigen Social Media-Profile und -Kanäle anschaut, findet man jeweils zwischen 1.000 und 3.000 Follower:innen. Das Facebook-Profil der Hamburger Furkan-Gemeinschaft hat circa 1.800 Abonnent:innen. Den Facebook-Profilen folgen aber auch Mitarbeitende von Beratungsstellen, des Verfassungsschutzes und andere Interessierte. Die Abonnent:innenzahlen der türkischsprachigen Kanäle liegen viel höher. Beispielsweise hat der YouTube-Kanal von Alparslan Kuytul 80.800 Abonnent:innen und Furkan-TV hat 102.000 Abonnent:innen (Stand: April 2021).
Wahrscheinlich liegt die Zahl der Anhänger:innen und Sympathisierenden irgendwo zwischen den Angaben des Verfassungsschutzes und den Social Media-Zahlen. Wobei es auch schwer zu ermitteln ist, wer zu den Anhänger:innen, wer zu den Sympathisierenden und wer zum erweiterten Kreis der Bewegung zählt.
Wie wirbt die Furkan-Gemeinschaft neue Anhängerinnen und Anhänger an? Wie nimmt sie neben den Online-Angeboten persönlichen Kontakt zu den jungen Menschen auf?
Seit 2011 versucht die Furkan-Gemeinschaft hier in Deutschland Fuß zu fassen. Während der Inhaftierung ihres Führers Alparslan Kuytul (2018-2019) wurden zwei Jahre lang alle Kräfte dafür eingesetzt, dass er wieder freigelassen wird. Erst seit er wieder auf freiem Fuß ist, geben sie sich erneut Mühe, neue Anhänger:innen anzuwerben. Es wird sich in den kommenden Jahren zeigen, wie sich die Zeit der Inhaftierung auf die Gemeinschaft ausgewirkt hat.
Die Erfahrungen aus der Türkei werden nun auf Deutschland übertragen. Hier in Hamburg bekommen wir mit, dass die Furkan-Gemeinschaft großen Wert auf Freizeit-Aktivitäten legt. Es gibt Grillabende, Zoobesuche, Teerunden, Fußballturniere und Campingausflüge. So entsteht eine starke soziale Bindung. Mundpropaganda spielt bei der Anwerbung eine große Rolle. Durch die Pandemie funktioniert das meiste momentan nur online. Deshalb spielen die Social Media-Aktivitäten so eine große Rolle, denn dort halten die Jugendlichen sich auf. Welche Rolle spielt das Internet für die Furkan-Gemeinschaft?
Die Gruppe nutzt seit einiger Zeit intensiv das Internet, und die Abonnent:innenzahlen steigen. Es gibt viele Profile und Kanäle von Furkan zum Beispiel auf YouTube, Instagram, Twitter oder Facebook. Zum einen sind dies offizielle Seiten von Kuytul oder der Furkan-Stiftung, aber auch viele Ableger und andere Webseiten, die die Furkan-Bewegung unterstützen.
Es gibt einen türkischsprachigen Online-Fernsehsender namens "Furkan-TV" bei YouTube mit über 100.000 Follower:innen und auch eine Zeitschrift namens Furkan Nesli Dergisi ("Zeitschrift der Furkan-Vorreitergeneration"), die zur Anwerbung genutzt wird. Über die Online-Kanäle werden Videos mit Vorträgen von Kuytul oder seinen Stellvertretern veröffentlicht, außerdem Posts mit Zitaten, Botschaften aus Koran und Sunna und so weiter. Die Kommunikation läuft zum größten Teil auf Türkisch. Es gibt jedoch auch einige deutschsprachige Social Media-Profile und Kanäle.
Wir beobachten auch, dass in sozialen Medien Anfragen aus Deutschland direkt an Kuytul gerichtet werden, um seine Einschätzungen zu erhalten. Zum Beispiel Fragen wie: "Ich möchte in Hamburg Altenpfleger werden. Darf ich das, denn dann muss ich ja auch Schweinefleisch servieren?" oder "Ich möchte hier in Deutschland Polizist werden – darf ich das?", oder "Sollen wir Deutschland verlassen, weil die Schüler in den Schulen nicht beten dürfen und die Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen müssen?".
Tatsächlich sind die Internet-Profile der Gruppe für uns als Beratungsstelle die wichtigste Quelle, um uns über die aktuellen Themen, Ziele und Aktivitäten zu informieren. Es gibt bisher kaum wissenschaftliche Beobachtungen zur Furkan-Gemeinschaft. Informationen findet man ansonsten fast nur in Verfassungsschutzberichten einiger Bundesländer und des Bundes.
Wie werden die Aktivitäten der Gruppen in Deutschland koordiniert oder gesteuert?
Die zentralen Aktivitäten werden von der Mutterorganisation in Adana in der Türkei koordiniert. Die Gruppe konzentriert sich sehr auf ihren Führer Kuytul und seine Vorgaben. Es ist natürlich schwierig, aus der Türkei alle Aktivitäten in Deutschland zu koordinieren. Daher gibt es hier in Deutschland in Hamburg und in Dortmund jeweils eine Art Stellvertreter, die auch selbst Vorträge halten. Die Gruppen in diesen Städten sind auch online und in Sachen Kundgebungen und Demos am aktivsten. Berlin und München laufen aus meiner Sicht eher so mit. Sowohl die Stellvertreter:innen als auch andere Anhänger:innen reisen hin und wieder zur Zentrale in die Türkei, um Kuytul zu sehen und mit ihm zu sprechen. Wahrscheinlich bekommen sie dann auch Anweisungen. Die Akteur:innen in Deutschland treffen aber vermutlich auch eigene Entscheidungen über ihre konkreten Aktivitäten.
Welche Rolle spielen Frauen in der Furkan-Bewegung?
Das ist wirklich ein großer Unterschied zu anderen islamistischen Gruppierungen. Frauen sind in der Furkan-Gemeinschaft sehr aktiv und auch in Social Media sichtbar. Sie machen nach meiner Einschätzung die Hälfte aller Aktivitäten der Furkan-Bewegung aus, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. Semra Kuytul, die Frau des Anführers, ist sehr aktiv und präsent, sie übernimmt sozusagen die Rolle ihres Mannes für die Arbeit mit Frauen.
Auf Veranstaltungen und bei Bildungsangeboten folgt man einer strikten Geschlechtertrennung. Bei Demonstrationen kann man beobachten, dass zuerst die Männer gehen, und dahinter kommen die Frauen. Aber alle Angebote, wie Tee- und Kaffeerunden, Bildungszirkel (halka), Bildungsangebote oder Online-Seminare werden auch von Frauen für Frauen angeboten. Dabei sind allerdings die Bilder der Frauen online verpixelt und unkenntlich gemacht und es gibt kein Profilbild, oder die Kamera bleibt bei Seminaren aus.
Der Verfassungsschutz beobachtet die Gruppierung. Was ist die Begründung dafür?
Das Bundesamt für Verfassungsschutz ordnet die Furkan-Gemeinschaft seit Anfang 2018 dem legalistisch-islamistischen Spektrum zu und beobachtet sie. Der Hamburger Verfassungsschutz beobachtet die Gruppe bereits seit 2016. Der Grund hierfür ist, dass die Bewegung sich aus Sicht des Verfassungsschutzes gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richtet.
Genauer sind es die Vorstellungen einer angestrebten islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung, die rein auf Koran und Sunna fußen soll, sowie das Ziel der Einführung einer Scharia-basierten Rechtsordnung. Hierbei werde der bestehende Rechtsstaat als "menschengemachtes Gesetz" zugunsten der vermeintlich "göttlich basierten" Scharia abgelehnt.
Was macht die Gruppierung aus Ihrer Sicht problematisch?
Wir als Beratungsstelle finden die antidemokratischen oder demokratiefeindlichen Haltungen der Gruppe problematisch, wie sie auch der geistige Führer der Bewegung Kuytul in Posts und Videos äußert. Er sagt zum Beispiel Dinge wie: "Wir sind gegen Demokratie, sie bringt uns nichts. Wir müssen zu unserer Kultur und Zivilisation zurück." Kuytul verbietet seinen Anhänger:innen auch ausdrücklich, sich an demokratischen Wahlen zu beteiligen.
Wir finden auch problematisch, dass die Gruppe über Religion ihre politischen Ziele verfolgt. Es handelt sich zudem um eine geschlossene Gruppe, in die man nicht ohne Weiteres aufgenommen wird. Meist funktioniert es über persönliche Kontakte. Ähnlich wie die Hizb ut-Tahrir spielt die Furkan-Gruppe eine Brückenrolle hin zu radikaleren Gruppen (zum Infodienst-Beitrag "
Am Ende werden einige Jugendliche sagen, dass sie jetzt aktiv werden wollen, dass sie kämpfen wollen. Und genau das bietet die Furkan-Bewegung nicht an, genau wie Hizb ut-Tahrir. Sie sagen dann nur: "Wir brauchen erst den Kalifat-Staat, der wird bald kommen." Und dann kann es dazu kommen, dass die Jugendlichen zu anderen, gewalttätigen Gruppen wechseln, dass einige vielleicht auch ausgereist sind, um für den sogenannten Islamischen Staat oder für al-Qaida zu kämpfen. Statistiken dazu gibt es allerdings nicht. Aber eben diese Brückenrolle, das Aufhetzen, sehen wir als Problem.
Wie steht die Furkan-Gemeinschaft zu Gewalt?
Das Verhältnis der Bewegung zu Gewalt ist ambivalent und funktional beziehungsweise strategisch. Als der "IS" in Syrien und Irak unter Anwendung brutaler Gewalt immer größere Gebiete erobern konnte, hat Alparslan Kuytul sich zur Gewaltfrage positioniert. Er sagte sinngemäß: "Wir haben erstmal mit Gewalt nichts zu tun. Jetzt ist nicht die Zeit, in der wir mit Gewalt Erfolg haben könnten. Zunächst einmal soll mit Bildung versucht werden, eine ‚islamische Zivilisation‘ zu schaffen und einen islamischen Staat zu gründen." Er schließt Gewalt also nicht grundsätzlich aus, momentan sei aber nicht die Zeit dafür. Kuytul ist der Ansicht, dass erst ein noch zu errichtender zukünftiger islamischer Staat Gewalt ausüben oder Kriege erklären dürfe.
Wo sehen Sie noch Unterschiede zu anderen islamistischen Gruppierungen?
Das ist schwer pauschal zu sagen, denn es gibt ein sehr diverses Spektrum islamistischer Gruppierungen, die unterschiedlich "ticken" und vorgehen. Dabei kann es in bestimmten Punkten Überschneidungen geben – mal mit der einen und mal mit einer anderen Gruppe. Das Besondere bei der Furkan-Bewegung ist ihr charismatischer Führer Alparslan Kuytul, der im Internet als Held und großer Imam dargestellt wird. Er wird in der Gemeinde "Hoca" oder "Hocaefendi" ("oberster Gelehrter" oder "hochgeachteter Lehrer") genannt. Ebenso ist die Rolle seiner Frau und generell von Frauen in der Bewegung prägnant und unterscheidet Furkan von anderen Gruppen. Auch die ausgeprägte Bildungsarbeit von Furkan ist ein Unterschied zu vielen anderen islamistischen Gruppierungen.
Verglichen mit den Salafisten ist die Furkan-Gemeinschaft in Deutschland eine kleine Gruppe. Und eine Gruppierung wie die Hizb ut-Tahrir mag hier bei uns in Deutschland ebenfalls klein sein, sie ist aber als internationale Organisation in 40 Ländern aktiv. Gerade weil die Furkan-Gemeinschaft so eine kleine Gruppe ist, kennt man sich gut, man kümmert sich umeinander und es ist entsprechend schwierig "auszusteigen".
Die Furkan-Bewegung ist in gewisser Weise "realistischer" als zum Beispiel die Hizb ut-Tahrir. Diese machen ihren Anhänger:innen falsche Hoffnungen und behaupten, dass morgen oder übermorgen das Ziel erreicht sein wird und dass nächste Woche der Kalifatsstaat kommt. Die Furkan-Bewegung hingegen sagt, dass es Zeit brauchen wird, die langfristigen Ziele zu erreichen.
Ist die Gruppe durch äußere Merkmale wie beispielsweise Kleidung zu erkennen?
Der Kleidungsstil der Furkan-Anhänger unterscheidet sich stark von Salafisten, ähnelt aber dem Stil der Hizb ut-Tahrir sehr. Kuytul steht zu Kleidungsvorschriften etwas lockerer als einige islamistische Gruppen. Er sagt zwar ganz klar, dass es den richtigen Pfad gibt, dass es also Dinge gibt, die man auf eine bestimmte Weise tun muss. Bei anderen Dingen jedoch könne man sich der Zeit anpassen.
Nach Kuytul sollten Frauen weite Kleidung tragen. Das Kopftuch für Frauen ist für ihn ein Muss und wenn möglich sollten sie den Niqab, die Vollverschleierung, tragen, wie seine eigene Frau. Der Kaftan ist für Männer jedoch nicht vorgeschrieben. In der Türkei sieht man bei den Veranstaltungen viele Frauen vollverschleiert, aber einige tragen auch normales Kopftuch. In Deutschland hingegen tragen viele Frauen zum Beispiel eine turbanartige Kopfbedeckung oder ein normales Kopftuch. Sie wollen nicht so provokativ auftreten und passen sich an.
Wie sieht Ihre Präventions- und Beratungsarbeit in Bezug auf die Furkan-Gemeinschaft aus?
Hamburg ist eine Hochburg der Furkan-Gemeinschaft, die Anhänger:innen sind im Sozialraum präsent. Für uns als Beratungsstelle ist es jedoch sehr schwer, die Jugendlichen zu erreichen, wenn sie in dieser Gruppe schon richtig "feststecken". Diese Jugendlichen haben dann dort ihre enge Gemeinde, wo sie sich wohlfühlen. Sie besuchen keine andere Moscheegemeinde, weil sie ihren eigenen Veranstaltungsort haben, wo auch Gebete stattfinden. Die Furkan-Gemeinde bietet viele Jugendaktivitäten – warum sollten die Jugendlichen noch zu anderen Jugendzentren gehen?
Wir machen natürlich universelle Präventionsarbeit in verschiedenen Moscheegemeinden und auch in Jugendzentren. Es kann durchaus sein, dass die Jugendlichen, mit denen wir dort sprechen, mit der Furkan-Gemeinschaft in Berührung kommen – oder bereits gekommen sind. Vielleicht wissen sie es selbst auch gar nicht. Im Sozialraum gibt es bislang zu wenig Sensibilität für Furkan, ihre Ziele und ihr Vorgehen. Die Jugendlichen bekommen in der Schule und in den Moscheegemeinden so viele Vorträge – von Lehrkräften, vom Imam oder von Referent:innen. Daher arbeiten wir anders. Wir haben einen systemischen Blick und versuchen, Interesse zu zeigen und offene Gespräche mit den Jugendlichen zu führen. Nicht darüber, was uns interessiert, sondern darüber, was die Jugendlichen interessiert und worüber sie sprechen möchten. Sie stellen zum Beispiel Fragen zum Islam und wie sie sich verhalten sollen, etwa beim Schwimmunterricht oder bei der Berufswahl, wir sprechen aber auch über Diskriminierungserfahrungen.
In den Moscheegemeinden haben wir auch über heikle Themen gesprochen. Es ging zum Beispiel um Konflikte zwischen Juden und Muslimen oder um die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen oder um das Kopftuchverbot. Diese Themen werden ja von islamistischen Gruppierungen wie Furkan oder Hizb ut-Tahrir im Internet aktiv angesprochen. Wir greifen sie in unseren Treffen mit den Jugendlichen auf. Denn die Präsenzwelt der Jugendlichen ist momentan online, da sind sie unterwegs – gerade in Pandemie-Zeiten, wo vieles andere nicht möglich ist.
Haben Sie viele Fälle im Zusammenhang mit der Furkan-Gemeinschaft in der Beratungsarbeit bei Legato Hamburg?
Die Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Ich kann mir vorstellen, dass wir in der Beratungsarbeit schon einige Furkan-Fälle hatten, es aber nicht so genau wissen. Denn es ist gar nicht leicht zu erkennen. Das ist anders als zum Beispiel bei den Salafisten, wo man eine Radikalisierung sehr schnell erkennen konnte.
Im Allgemeinen macht es für unsere Beratungsarbeit keinen großen Unterschied, ob wir mit jemandem von der Furkan-Bewegung, von der Hizb ut-Tahrir oder mit Salafist:innen zu tun haben, denn wir arbeiten systemisch mit den entstehenden Konflikten. Für unsere Arbeit ist immer wichtig, welches Anliegen die Person hat und was sie von uns erwartet. Es ist eher von Interesse, warum jemand zu uns kommt – freiwillig, oder weil die Person von anderen dazu verpflichtet wurde? Ich bin davon überzeugt, dass eine solche "gesunde" Präventionsarbeit mit systemischem Blick sowohl offline als auch online das beste Mittel gegen solche Gruppierungen ist.
In der Regel wenden sich Eltern oder Fachkräfte aus der Sozialarbeit an uns, wenn es Konflikte mit einem jungen Menschen gibt. Dann führen wir ein Gespräch; manchmal geht die Beratung auch über einen längeren Zeitraum. In 90 Prozent der Fälle arbeiten wir mit dem sozialen Umfeld, in 10 Prozent mit den Klienten selbst face-to-face.
Meistens ist der Anlass für ein Beratungsgespräch ein Konflikt zu Hause. Und diese Konflikte sind bei den Furkan-Anhänger:innen nicht so auffällig wie zum Beispiel bei Salafist:innen. Auch Konvertit:innen gibt es bei den Furkan-Anhänger:innen kaum, da die Gruppe sich ja vor allem an die türkischsprachige Community richtet, die zumeist muslimisch ist. Die Furkan-Anhänger:innen fallen einfach nicht so auf, und eine Radikalisierung ist nicht so leicht zu erkennen. Die "Fälle" kommen bei Furkan daher nicht in der sonst üblichen Form über besorgte Eltern oder Fachkräfte zu uns. Viele kennen die Furkan-Gemeinschaft auch gar nicht oder wissen nicht viel darüber.
Stellen wir uns zum Beispiel eine türkischstämmige Familie vor: zu Hause werden türkische Nachrichten angesehen, es geht um Politik. Der Sohn will jetzt auch mit seiner Familie über Politik diskutieren, er positioniert sich und argumentiert vielleicht auch mit Verschwörungstheorien. Das wird dem Vater nicht unbedingt gleich seltsam vorkommen. Die Anhänger:innen der Furkan-Gemeinschaft agieren ja sehr vorsichtig, sie missionieren intern, und sprechen auch Familien an, aber sie bemühen sich um Diplomatie. Bei den Salafist:innen gibt es nur schwarz oder weiß, und es gab schnell Konflikte in den Familien. Diese haben sich dann bei uns gemeldet, oder Fachkräfte der Sozialarbeit haben davon mitbekommen und sich an uns gewendet.
Den Fall, dass jemand sich von der Furkan-Gemeinschaft lösen wollte und sich an uns gewandt hat, hatten wir bisher noch nicht. Generell stelle ich mir eine Distanzierung von der Furkan-Gemeinschaft schwierig vor, da sie eine kleine Gruppe sind, wo der Zusammenhalt sehr stark ist und die soziale Kontrolle besser funktioniert.
Bieten Sie auch Fortbildungen für Fachkräfte in Bezug auf Furkan an?
Ja, wir führen Fortbildungen für Fachkräfte im Sozialraum – Straßensozialarbeit, Jugendzentren, Hilfe zur Erziehung und so weiter – zur Prävention von religiös begründetem Extremismus durch. Wir haben dabei ein Modul, wo wir über die Furkan-Bewegung, ihre Ziele, Vorgehensweisen und Merkmale sprechen. Das ist wichtig, damit mehr Leute sensibilisiert sind und Aktivitäten der Furkan-Anhänger:innen besser erkennen und einordnen können. So können sie vielleicht auch das Gespräch mit Jugendlichen suchen, die noch nicht stark an die Gemeinschaft gebunden sind.
Ein anderer wichtiger Ort der Prävention sind die Schulen, denn dorthin gehen alle Jugendlichen. In Hamburg übernimmt das Landesinstitut für Lehrerbildung die Fortbildungsarbeit mit den Lehrkräften. Mit dem Institut stehen wir in engem Austausch.
Das Gespräch führten die Infodienst-Redakteur:innen Katharina Reinhold und Christian Sassmannshausen am 5. März 2021.
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