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09:00 Uhr: Weg zur Arbeit
Während der Fahrt mit der Bahn zu meinem Bonner Büro schaue ich aus dem Fenster. Nicht nur die Straßen sind weitaus weniger belebt in diesen Tagen, auch die Bahn ist merklich leerer als sonst. Viele Menschen, die sie eigentlich für den Weg zur Arbeit, zur Schule, zur Universität oder zu anderen Zielen in der Stadt nutzen würden, bleiben aufgrund der anhaltenden Corona-Pandemie zu Hause.
Auch ich hätte theoretisch die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten. Praktisch ist es für mich aber keine Option. Die Anforderungen der Beratungsarbeit stehen dem in vielerlei Hinsicht entgegen. Angefangen damit, dass es in meiner Wohnung keinen ausreichenden Raum gibt, um zu gewährleisten, dass meine Frau – die ihr Studium gegenwärtig von zu Hause aus bewältigen muss – und ich unseren jeweiligen Tätigkeiten in Ruhe nachgehen können. Meine Tätigkeit ist unter normalen Bedingungen bereits mit viel telefonischem Kontakt verbunden, nun in der Pandemie mit möglichst reduzierten persönlichen Kontakten noch mehr. Auch mit Kopfhörern und bei geschlossener Tür ist kein störungsfreies gleichzeitiges Arbeiten möglich.
Aber auch der Datenschutz ist ein wichtiger Punkt. Über die allgemeinen Auflagen für Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten hinaus, werden an Personen in unserem Tätigkeitsfeld hohe Anforderungen gestellt. Weder kann bei Gesprächen zu Hause die Vertraulichkeit gewährleistet werden, die wir unseren Klientinnen und Klienten zusichern, noch können Arbeitsmaterialien angemessen aufbewahrt werden. Fallakten und externe Speichermedien etwa sind im Büro den Vorgaben entsprechend sicher weggeschlossen und können nicht einfach mit nach Hause genommen werden.
Und schließlich ist es mir auch persönlich wichtig, berufliche und private Lebensbereiche zu trennen. Eine Verwischung dieser Grenzen in den Zeiten coronabedingter Heimarbeit belastet viele Menschen und in meiner Arbeit war es auch vor der Pandemie zum Teil schon schwierig, diese immer zu vermeiden. Beispielsweise sind Beratungsnehmerinnen und Beratungsnehmer, deren Angehörige in nordsyrischen Lagern als "IS"-Mitlieder inhaftiert sind, vielfach psychisch stark belastet. Sie rufen seit jeher mitunter auch abends oder nachts sowie an Wochenenden und Feiertagen an.
Auch das Sichten von dschihadistischem Propagandamaterial – etwa Videos oder Schriften des sogenannten "Islamischen Staates" mit zum Teil expliziten Gewaltdarstellungen – ist nichts, was ich dauerhaft in meinem privaten Umfeld haben möchte.
09:25 Uhr: Ankunft im Büro
Im Büro angekommen, schließe ich die Sicherheitsschränke auf, schaue nach der Post und höre den Anrufbeantworter ab. Keine verpassten Anrufe. Auch das wäre in Vor-Pandemie-Zeiten eher ungewöhnlich gewesen. Nicht, weil die Anrufe seither weniger geworden wären. Im Gegenteil, es sind eher mehr als früher, da mehr Arbeitskommunikation nun telefonisch erfolgen muss. Aber viele Menschen rufen mich gewohnheitsmäßig auf dem Mobiltelefon an – sowohl Klientinnen und Klienten als auch Kolleginnen und Kollegen sowie andere Akteure aus der Prävention oder aus Behörden.
Vor der Pandemie war ich sehr viel außerhalb des Büros unterwegs: manche Beratungsnehmerinnen und Beratungsnehmer können oder möchten die Gespräche nicht in unserem Büro führen, darum haben wir uns manchmal bei ihnen zu Hause oder an neutralen Orten verabredet. Auch in verschiedenen Justizvollzugsanstalten habe ich in der Vergangenheit Gespräche mit Inhaftierten geführt, die sich bereit zum Ausstieg aus dem militanten Salafismus gezeigt hatten. Aus Schulen und Kitas kamen Anfragen von Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern.
Und schließlich gab es noch eine Vielzahl von Veranstaltungen, die nicht direkt mit der Beratungsarbeit zusammenhängen: Vorträge und Diskussionen rund um Islamismus und Radikalisierung für die Öffentlichkeit oder Schulungen und Fortbildungen – sowohl solche, die ich für bestimmte Multiplikatorinnen und Multiplikatoren durchführe als auch solche, die ich selbst besuche, um mich beruflich weiterzuentwickeln. Vor der Pandemie war die Fülle an Terminen groß und da die Bonner Büropräsenz der "Beratungsstelle Leben" nur mit mir besetzt ist, erreichten Anruferinnen und Anrufer in der Vergangenheit häufig den Anrufbeantworter.
Nun bin ich gewissenmaßen zwangsläufig fast immer im Büro zu erreichen. Ironisch irgendwie, dass ich in Zeiten, da das Arbeiten von zu Hause für viele zur Norm geworden ist, so viel im Büro bin wie nie zuvor in über fünf Jahren.
10:00 Uhr: E-Mails und Telefonate
Mehr Kommunikation erreicht mich wenig überraschend auch per E-Mail. Kontakt mit den Beratungsnehmerinnen und Beratungsnehmern ist darunter, aber auch einige Terminabstimmungen für Video- oder Telefonkonferenzen, die die erwähnten Präsenzveranstaltungen teilweise ersetzen sollen.
Bevor ich in einer Stunde in einer dieser Videokonferenz sein muss, versuche ich rasch noch einige Telefonate zu erledigen. Klientinnen und Klienten rufe ich dabei eher nicht an, denn die Gespräche mit ihnen dauern oft länger und dafür muss ich mir entsprechend Zeit nehmen. Die Gespräche wie auch die Anlässe sind dabei vielfältig: Gespräche über eigenes Handeln und über religiöse und politische Ansichten gehören ebenso dazu wie Unterstützung bei Kontakten mit Behörden, Vermittlung von Anwälten oder das Erstellen von Stellungnahmen für Gerichte.
Jetzt versuche ich den Bewährungshelfer eines Klienten zu erreichen, kann aber nur mit einer Kollegin von ihm sprechen, die zusichert, ihm meine Rückrufbitte zu übermitteln. Viele Einrichtungen verfügen in diesen Tagen nur über eine Notbesetzung, was die Kommunikation erschwert.
Noch schwieriger ist die Situation in Schulen. Sorgt sich eine Lehrkraft, dass sich ein Schüler oder eine Schülerin radikalisiert, versuche ich nach Möglichkeit, die Eltern in eine Beratung mit einzubeziehen. Manchmal ist aber die Lehrkraft oder eine Schulsozialarbeiterin oder -sozialarbeiter mein einziger Kontakt, der die Entwicklung der Schülerin beziehungsweise des Schülers beobachten und im Idealfall im Sinne der Beratung auf ihn oder sie einwirken kann. Unter Bedingungen des digitalen Unterrichts ist das unmöglich.
11:00 Uhr: Projektsitzung als Videokonferenz
Da alle meine Kolleginnen und Kollegen in Berlin sitzen und ich in Bonn allein arbeite, ist mir möglichst viel Austausch mit ihnen umso wichtiger. Wo sie früher wöchentlich, bei Bedarf auch öfter zusammenkommen konnten, versuchte ich bisher zwei Mal im Monat nach Berlin zu fahren. Dies ist momentan nicht mehr möglich.
Nicht nur, dass es für die Beratungsarbeit wichtig ist, sich regelmäßig in einem geschützten Rahmen über Entwicklungen in den einzelnen Fällen austauschen zu können und die eigene Arbeit im Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen zu reflektieren. Auch die vielen anderen Facetten der Projektarbeit werden in diesem Rahmen besprochen, koordiniert und geplant. Wir diskutieren über die Teilnahme an nationalen und internationalen Austauschformaten, oder an anderen Veranstaltungen wie Vorträgen, Diskussionen und Schulungen. Auch Medienanfragen werden besprochen und im Kreis der Kolleginnen und Kollegen aufgeteilt, um alle anstehenden Themen möglichst effektiv bearbeiten zu können.
Auch in der Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), unserem staatlichen Partner, dessen "Beratungsstelle Radikalisierung" ein bundesweites Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Beratungsangeboten koordiniert, ergeben sich immer wieder Anfragen, die wir idealerweise gemeinsam bearbeiten.
Das gemeinschaftliche Erarbeiten von Standards in der Beratungsarbeit mit mutmaßlich religiös radikalisierten Personen ist hier ein wesentlicher Punkt, bei dem die Beratungsstellen deutschlandweit mit dem BAMF und untereinander zusammenarbeiten. Auch sonstige wissenschaftliche Projekte des BAMF-Forschungszentrums oder unsere eigenen Ideen für Publikationen lassen sich am besten und produktivsten in großer Runde in Berlin besprechen.
Oder besser: ließen.
In der aktuellen Situation müssen wir notgedrungen auch hier auf elektronische Kommunikationswege ausweichen. Die Videokonferenz ist aber nur ein sehr dürftiger Ersatz für eine Teamsitzung vor Ort. Abgesehen von technischen Problemen wie der Internetverbindung und einer allgemein weniger entspannten und kommunikativen Atmosphäre kommt es auch beständig zu Unterbrechungen unterschiedlichster Art wie andere Anrufe oder Paketlieferungen.
Das einzig Positive, das ich der aktuellen Situation abgewinnen kann, ist, dass ich an den digitalen Besprechungen wöchentlich teilnehmen kann. So entschädigt gesteigerte Quantität in einem gewissen Maß für gesunkene Qualität.
13:00 Uhr: Treffen mit einem Klienten
Kaum dass wir unsere Videokonferenz beendet haben, fahre ich den Computer herunter, raffe Hut, Jacke und eine Dokumentenmappe zusammen, schließe die Schränke und dann das Büro ab und mache mich auf den Weg zu einem der zwar selten gewordenen, aber mitunter immer noch notwendigen Präsenztreffen mit einem Klienten.
Der Grund ist in diesem Fall scheinbar banal: Ich benötige ein Formular, das er ausfüllen und unterschreiben soll. Der junge Mann, ein Rückkehrer aus einem ausländischen Kampfgebiet, den ich schon während seiner Haftzeit in verschiedenen Justizvollzugsanstalten betreut hatte, hat keinen Drucker beziehungsweise Scanner zu Hause. Und wie so vieles andere sind natürlich auch Kopierläden geschlossen.
Also habe ich das Formular für ihn ausgedruckt und lasse es mir vor Ort von ihm ausfüllen. Ich hätte es lieber in meinem Büro gemacht, aber unter Infektionsschutzgesichtspunkten ist ein Treffen unter freiem Himmel sicherer als in meinem kleinen Büro.
Ich treffe ihn auf der Hofgartenwiese hinter der Universität – nur ein kurzer Weg von meinem Büro. In aller Eile füllt er das Dokument aus, wobei er mir kurz berichtet, wie seine Ausbildung läuft, deren schulischen Teil er erfreulicherweise gut virtuell von zu Hause aus bewältigen kann, und wie seine Gespräche mit der Bewährungshilfe und dem polizeilichen Staatschutz unter Pandemie-Bedingungen funktionieren. Als er das Dokument unterschrieben hat verabschieden wir uns und jeder geht seiner Wege: er zum Bahnhof und ich zurück ins Büro. Das Treffen hat kaum eine halbe Stunde gedauert.
Unter normalen Umständen kombiniere ich bei der Arbeit mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern oder Haftentlassenen praktische Unterstützung – wie die gemeinsame Arbeit an Bewerbungen oder Behördengänge – mit Gesprächen, in denen die Klientinnen und Klienten die Zeit im Ausland oder in der Haft, ihr eigenes Handeln, ihre Zukunftspläne und ihre Sicht auf frühere Einstellungen reflektieren. Teilweise dauern diese Gespräche drei Stunden oder länger.
Doch in diesen Zeiten versuchen wir uns bei den seltenen Präsenztreffen auf das Allernötigste zu beschränken, das sich nicht anderweitig lösen lässt. Den Rest müssen wir telefonisch erledigen.
13:30 Uhr: Rückkehr ins Büro
Wieder im Büro angekommen, schließe ich nur kurz das gerade erhaltene Dokument weg, packe mein von zu Hause mitgebrachtes Essen ein und breche dann sofort wieder auf, um vor dem nächsten Termin unterwegs meine Mittagspause einzuschieben.
14:00 Uhr: Nach der Mittagspause
Bis zur nächsten Videokonferenz ist noch etwas Zeit. Ich kontaktiere mehrere Klientinnen und Klienten per E-Mail und SMS, frage wegen möglicher Gesprächstermine an oder erinnere an bereits vereinbarte. Eine Klientin schreibt umgehend zurück und bittet darum, unseren Termin für morgen kurzfristig zu verschieben. Ihre Schwester könne nicht wie geplant auf ihre Kinder aufpassen. Für die Mutter von drei Kindern, die aus dem "IS"-Gebiet im Irak zurückgekommen ist und nun wieder in der Nähe von Bonn lebt, ist es selbst telefonisch schwer, Zeit für ein längeres ungestörtes Gespräch zu finden. Wie so viele andere Mütter betreut auch sie ihre Kinder zu Hause, solange sie Schule und Kita nicht besuchen können. Wir verständigen uns darauf, in einer Woche zu telefonieren – wenn es da dann mit der Betreuung klappt.
15:00 Uhr: Videokonferenz mit Wegweiser Bonn
Ich unterbreche kurz vor 15 Uhr meine Fallkontakte und wähle mich in die nächste Videokonferenz ein. Ich will mich mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Projekts "Wegweiser" in Bonn austauschen. Der regelmäßige Kontakt mit ähnlich gelagerten Projekten und anderen Partnern ist mir sehr wichtig. Das umfasst nicht nur die Mitarbeiter von Wegweiser in Bonn, sondern auch Vertreterinnen und Vertreter der Stadt Bonn, Stellen wie den Schulpsychologischen Dienst, Moscheegemeinden oder Jugendzentren.
"Wegweiser Bonn" gehört als spezialisiertes Projekt zum Thema religiös begründeter Extremismus zu den wichtigsten lokalen Partnern. In den Gesprächen tauschen wir Erkenntnisse über Entwicklungen in der salafistischen Szene vor Ort aus, informieren uns zum Beispiel über Auftritte relevanter Personen wie Prediger und Aktivisten oder Veranstaltungen und wenn Anfragen von Hilfesuchenden beide Projekte parallel erreichen, stimmen wir uns ab, wer in dem Fall die Beratung übernimmt, um effektiv zu helfen und unsere Kapazitäten sinnvoll einzusetzen.
Im Gespräch wird schnell deutlich, wie sich der Lockdown auch auf die Salafisten-Szene auswirkt. Auch deren Veranstaltungen und Aktivitäten – "Benefizveranstaltungen für Syrien" in angemieteten Hallen, Stände in Fußgängerzonen oder mehrtätige öffentliche Seminare in Räumlichkeiten einschlägiger Vereine – werden weniger oder verlagern sich notgedrungen in den virtuellen Raum. Diese Tendenz hat es allerdings auch schon vor der Pandemie gegeben, ausgelöst durch Beobachtung und stärkeren Druck von Sicherheitsbehörden, Zivilgesellschaft und Medien.
16:30 Uhr: Telefonische Fallberatung
Nach dem Austausch mit Wegweiser erfolgt wieder der Wechsel vom Computer zum Telefon. Ich führe ein Gespräch mit einer Mutter, deren Tochter mit ihren Kindern in einem Camp in Nordsyrien auf die Rückführung nach Deutschland wartet. Wie immer dauert das Gespräch lange und besteht meinerseits größtenteils aus Zuhören. Sie möchte ihren Sorgen Luft machen um die Enkelkinder, deren Gesundheit seit langem beeinträchtigt ist, und sie äußert ihr Unverständnis, dass die Kinder nicht zurückgeholt werden, wie es so viele andere Staaten schon gemacht haben.
Im Laufe der Beratung haben wir gemeinsam konkrete Schritte unternommen, um eine Heimkehr der Enkel vorzubereiten. Wir haben Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen und ich habe eine Anwältin für Familienrecht für die Mutter gefunden. Diese praktische Arbeit hatte teilweise fast eine therapeutische Wirkung für die Mutter und andere Angehörige, da es ihnen das Gefühl gab, etwas tun zu können und nicht machtlos zu sein. Doch seit alles für sie und für mich Mögliche getan ist, bleibt nur das Warten. Warten auf politische Entwicklungen in der Sache der deutschen "IS"-Familien; Warten auf die seltenen und in der Regel schlechten Nachrichten von der Tochter aus dem Camp.
Gerade gibt es kaum Bewegung in der Frage der Rückführung inhaftierter deutscher "IS"-Mitglieder und ihrer Familien – nun, in Zeiten geschlossener Grenzen erst recht nicht.
Für die Angehörigen ist der Faktor Covid-19 dabei in den meisten Fällen keine nennenswerte Sorge. Zwar gibt es Fälle in den syrischen Lagern, aber dort sind seit jeher andere Krankheiten wie Cholera und die allgemein mangelhafte medizinische Versorgung viel realere Gefahren. Gleiches gilt für die anhaltende Gewalt von noch immer hochradikalisierten "IS"-Frauen gegen jene, die mit der Ideologie gebrochen haben und sich nicht mehr den vom "IS" auch im Lager aufrechterhaltenen Verhaltensregeln unterwerfen wollen.
Im Verlauf des Gespräches schalten sich immer wieder Bruder und Schwester der ausgereisten Frau ein, stellen Fragen und berichten von ihren Kontakten mit Rechtsanwalt, Jugendamt und anderen involvierten Personen. So wird das Gespräch stellenweise etwas unübersichtlich. Unter normalen Bedingungen hätte ich einen Besuch bei der Familie dem Telefonat auf jeden Fall vorgezogen.
Gegen Ende fragt die Mutter nach anderen Familien von deutschen "IS"-Ausreisenden, die sie durch unser Elternnetzwerk kennt. Sowohl in Berlin als auch in Bonn bringen wir die Angehörigen von Ausreisenden zusammen, damit diese sich gegenseitig unterstützen und Erfahrungen austauschen können. Viele Beratungsnehmerinnen und Beratungsnehmer fühlen sich zu Beginn der Beratung isoliert, weil sie über ihre Lage mit niemandem sprechen wollen. Der Kontakt mit ebenfalls betroffenen Familien macht Mut und hilft, Scham und Schuldgefühle zu überwinden und sich konstruktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Angehörigentreffen können gegenwärtig natürlich auch nicht stattfinden und aus technischen wie persönlichen Gründen ist eine Videokonferenz für die von mir betreuten Familien mehrheitlich keine Option. Also muss ich die Klientin vertrösten auf eine hoffentlich nicht allzu ferne Zukunft, in der sich alle wieder in der Gruppe treffen können.
Das Gespräch hätte sicherlich noch eine ganze Weile dauern können, doch kurz vor 18 Uhr führe ich es behutsam dem Ende zu, da noch andere Aufgaben warten. Wir verabschieden uns mit der Perspektive auf ein weiteres Gespräch in 14 Tagen, sofern bis dahin keine wichtigen Neuigkeiten zu besprechen sind.
18.00 Uhr: Tagesabschluss
Bevor ich das Büro verlasse, überarbeite ich meine Notizen aus diesem Gespräch und aus den anderen, schriftlichen Fallkontakten und aktualisiere die jeweiligen Berichte, die danach wieder sicher weggeschlossen werden.
Eigentlich hatte ich vorgehabt noch an einer Präsentation für ein Online-Seminar zu arbeiten, das nächste Woche stattfinden wird. Es soll Praktikerinnen und Praktiker aus dem Präventions- und Ausstiegsbereich in Deutschland mit Kolleginnen und Kollegen aus Nigeria zusammenbringen, die dort mit Opfern und ehemaligen Angehörigen der Terrorgruppe "Boko Haram" arbeiten.
Solche internationalen Austauschformate waren in den vergangenen Jahren immer ein Höhepunkt der Arbeit und gehören ohne Zweifel zu den Dingen, die mir am meisten fehlen. Doch auch hierbei lässt sich der aktuellen Situation vielleicht etwas Gutes abgewinnen: Vergleichbare Veranstaltungen haben mich allein im letzten Jahr vor der Pandemie in die USA, in die Türkei, auf den Balkan und in zahlreiche EU-Staaten geführt. Weit entferntere Regionen der Welt, deren Erfahrungen für die Arbeit aber auch sehr wertvoll sein können – wie Westafrika oder Südostasien – gehörten aber in der Vergangenheit eher nicht dazu. Zu Online-Formaten haben auch Kolleginnen und Kollegen Zugang, für die eine Teilnahme sonst schwieriger wäre, sei es aus logistischen, finanziellen oder auch aus Sicherheitsgründen.
Die Präsentation noch im Büro anzufangen, lohnt sich jedoch nicht. Diese Arbeit kann ich auch gut von zu Hause aus erledigen. Ein wenig Heimarbeit gehört auch für mich dazu. Auch vor Corona schon. Aber dennoch hoffe ich dringend auf eine Verbesserung der aktuellen Situation, damit ich meiner Arbeit wieder so nachgehen kann wie vor der Pandemie. Die aktuellen Bedingungen stellen eine erhebliche Mehrbelastung dar. In meiner Arbeit zeigt sich, dass eine virtuelle, kontaktlose Arbeit von zu Hause aus selbst dann, wenn sie technisch machbar wäre, auf Dauer nicht funktioniert.
18:45 Uhr: Feierabend
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