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Sehr betroffen und sehr entschlossen zeigten sich Politik und Medien in Frankreich im Oktober 2020 nach dem Mord an Samuel Paty, der in seinem Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit auch mit Karikaturen des Propheten Mohammed gearbeitet hatte. "Sie werden nicht durchkommen" postulierte etwa Präsident Macron. In der Folge äußerten weltweit auch Musliminnen und Muslime, die jeglicher Sympathien mit islamistischen Szenen unverdächtig sind, Unverständnis und Verärgerung über die mitunter kriegerisch anmutende Vehemenz, mit der in Frankreich vor Islamismus gewarnt und die Meinungsfreiheit verteidigt wurde.
Zu den politischen Signalen und Maßnahmen zählte ähnlich wie nach dem Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 die Anordnung von Schweigeminuten. Dem schlossen sich auch die deutschen Kultusministerinnen und Kultusminister an und so waren am Montag nach den Herbstferien Schulen und Lehrkräfte zur Durchführung von Schweigeminuten angehalten: "Wir möchten damit unser Mitgefühl ausdrücken und uns solidarisch zeigen im Kampf gegen Terror und Extremismus", begründete der hessische Kultusminister Alexander Lorz die Ankündigung. "Mit der Schweigeminute setzen wir zugleich ein Zeichen der Solidarität mit Lehrkräften in aller Welt, die im Unterricht und darüber hinaus für Toleranz und eine offene Gesellschaft einstehen und diskriminierendes Verhalten entschieden in die Schranken weisen." (zur Pressemitteilung auf Externer Link: kultusministerium.hessen.de).
Bereits im Vorfeld der Schweigeminute äußerten sich allerdings zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer besorgt über mögliche Konflikte, die in den Schulklassen entstehen könnten. Angesichts der aufgeheizten Stimmung befürchteten sie, dass sich einige Schülerinnen und Schüler der Schweigeminute verweigern oder sogar Verständnis für den Anschlag auf den französischen Lehrer äußern würden. Mehr noch: Von möglicherweise wachsendem Islamismus an den Schulen war in verschiedenen Erklärungen von Lehrerverbänden die Rede. Diese Sorgen sind verständlich, nur – den Jugendlichen werden sie nicht gerecht. Vielleicht vergeben sie sogar eine pädagogische Chance, weil sie die Perspektiven der Jugendlichen außer Acht lassen.
Protest als Gesprächsangebot
Denn die Kritik und die Vorbehalte von Jugendlichen – unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit – gegenüber einer verordneten Solidarität mit den Opfern von islamistischen Anschlägen bringen in der Regel nicht etwa Sympathien für den Terror zum Ausdruck, sondern ein Unbehagen darüber, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. "Unsere Toten zählen nicht!", so ließe sich dieses Unbehagen vielleicht zusammenfassen.
Und damit hätten Jugendliche mit Migrationsbiografien und/oder muslimischer Religionszugehörigkeit ja nicht ganz Unrecht: In welcher Form wurde den Opfern des Attentats in Hanau im Februar 2020 an Schulen gedacht? Wo gibt es Raum, um den Opfern der NSU-Morde zu gedenken? Und wer spricht über die 24 Schülerinnen und Schüler, die kurz nach der Ermordung von Paty bei einem Anschlag des sogenannten IS in Kabul getötet wurden? "Warum", so mögen sich einige Jugendliche fragen, "soll ich der Opfer in Frankreich gedenken, wenn sich für all die anderen Opfer von Gewalt und Terrorismus Gewalt kaum jemand interessiert?"
Mit solchen Perspektiven kann man auf unterschiedliche Weise umgehen. Sie können auch problematisiert werden – aber nicht, indem man sie verdammt. Denn tatsächlich ist es nachvollziehbar, dass vielen Jugendlichen mit Migrationsbiografien die Opfer rechter Gewalt in Deutschland näherstehen als ein Geschichtslehrer in Frankreich. Und dann wären ihre Reaktionen eben nicht als Sympathiebekundungen für Terroristen zu lesen, sondern als Gesprächsangebote, um mit ihnen über eigene Erfahrungen, Ängste und Sorgen zu sprechen, für die es im Unterricht sonst oft wenig Raum gibt.
Das heißt: Hier artikulieren Jugendliche ihre Perspektive und ihre Position. Und das ist gut so, denn es bietet die Gelegenheit, um über unterschiedliche Wahrnehmungen und Gefühle, die in der Öffentlichkeit aufeinanderstoßen, ins Gespräch zu kommen – zum Beispiel über die Frage, warum wir alle uns bei manchen Vorfällen stärker betroffen fühlen als bei anderen. Statt also die Jugendlichen zum Problem zu machen oder gar als Sympathisantinnen und Sympathisanten islamistischer Gewalt darzustellen, können wir ihre Ausdrucksformen aufgreifen und zur Diskussion stellen – und damit auch in Bezug setzen zu den Sorgen, die viele Lehrkräfte nach dem Mord an ihrem Kollegen umtreiben.
Perspektiven wechseln
In vielen Schulen ist genau das auch geschehen: Das große Redebedürfnis vieler Jugendlicher in den Tagen nach den Anschlägen in Conflans, Nizza und Wien wurde aufgegriffen. Intensiv setzten sich Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte mit den unterschiedlichen Erfahrungen und Empfindungen auseinander und fanden Formen, um gemeinsam Betroffenheit und Anteilnahme zum Ausdruck zu bringen. In diesen Gesprächen ging es dann nicht allein darum, den Mord an dem Lehrer Samuel Paty zu verurteilen und um das Opfer zu trauern, sondern letztlich um mehr: um eine Verständigung darüber, wer aus welchen Gründen Unsicherheiten und Ängste erlebt – und warum es wichtig ist, ihnen allen gerecht zu werden.
In einem Workshop, den wir mit ufuq.de nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo in einer Berliner Schule durchführten, sagte eine Schülerin: "Aber wenn wir für jeden Terror, für jeden Krieg eine Schweigeminute machen, dann müssen wir für immer schweigen." Dieses Dilemma lässt sich vielleicht nicht lösen, sich aber über die unterschiedlichen Perspektiven bewusst zu werden, ist ein großer Schritt. So gelingt gemeinsames Gedenken, so gelingen Schule und Prävention, und so gelingt auch Migrationsgesellschaft.
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