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Es ist etwa zwei Jahrzehnte her, dass der Begriff des "Dschihadismus" in Deutschland erstmals breitere Verwendung fand. Zuvor hatte man von "Mudschahedin" gesprochen. Während diese als archaisch-noble Widerstandskämpfer galten, verkörperte der Dschihadist nach den Anschlägen vom 11. September 2001 das antiwestliche, terroristische Gewaltpotential des Islams; Al-Qaida-Führer Usama Bin Ladin gab ihm sein Antlitz.
Einige Jahre später trat der "Salafismus" als weitere Bedrohung für Demokratie und westlichen Lebensstil ins Licht der Öffentlichkeit. Die Gefahr erschien umso größer, als offenbar wurde, dass Anhänger dieser fundamentalistischen Strömung auch im Westen leben – und dass sie hier systematisch Mission betreiben. Und dass es mitunter ein Zusammenspiel mit dschihadistischen Bewegungen wie dem "Islamischen Staat" gibt. Jahrelang war die Zahl der Salafisten ein großes Thema in den Verfassungsschutzberichten und in der Berichterstattung. Heute ist das Interesse deutlich abgeflaut. Das liegt nicht etwa daran, dass es keine Dschihadisten und Salafisten mehr gäbe – sondern womöglich daran, dass die lautesten Warnrufe seit einiger Zeit einem anderen Feld gelten: dem "politischen Islam".
"Politischer Islam" sei eine "Herrschaftsideologie", schrieb etwa der liberale Münsteraner Islamtheologe Mouhanad Khorchide. Der Publizist Hamed Abdel-Samad verkündete im November gar seinen Ausstieg aus der Deutschen Islam-Konferenz aus Protest gegen die dortige "Hofierung" des "politischen Islams". Dieser arbeite mit einer "Salamitaktik", um eine religiöse Diktatur wie in der Türkei zu schaffen. Er benutze die politische Teilhabe als "Deckmantel", um "Gegengesellschaften" aufzubauen, schrieb Abdel-Samad, der Medien und Kirchen vorwarf, sie würden den Begriff "verharmlosen".
Sicher ist auf jeden Fall, dass die Wortverbindung "politischer Islam" zu einem Kampfbegriff geworden ist. Dazu eignet er sich möglicherweise gerade aufgrund seiner Vagheit und Offenheit als Sammelbezeichnung für politische Aktivitäten von Muslimen. Das macht ihn jedoch zugleich zu einer Projektionsfläche für Feindbilder und muslimfeindliche Ängste – also potentiell zu einem Instrument des Populismus. Fraglich bleibt, ob dies all denjenigen bewusst ist, die den Begriff verwenden. Was ist überhaupt "politischer Islam"? Was unterscheidet ihn vom "Islamismus", der lange Zeit der gängigste Begriff war, um islamische Machtansprüche in politischen Gemeinwesen zu bezeichnen?
"Politischer Islam ist zu einem Kunstbegriff für Islamhasser geworden"
Neu ist der Begriff nicht. Schon im vergangenen Jahrhundert wurde er im deutschen Sprachraum verwendet – wie auch im Englischen und im Arabischen, wo "al Islam al siyasi" seit mehreren Jahrzehnten geläufig ist. Allerdings wurde der Ausdruck hierzulande besonders popularisiert, sowohl in der Literatur als auch im Journalismus. Eine Auswertung der vier überregionalen Tageszeitungen F.A.Z., "Süddeutsche Zeitung", "Tageszeitung" und "Welt" ergibt, dass die Wortverbindung "politischer Islam" im Verlaufe des vergangenen Jahrzehnts immer häufiger gebraucht wurde. Und zwar nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch im Vergleich zu der Häufigkeit, mit der der Begriff "Islamismus" verwendet wird (der aber immer noch deutlich gängiger ist).
Aufschlussreich ist, welche Entwicklung der Begriff inhaltlich genommen hat. Während er früher weitgehend synonym mit "Islamismus" eingesetzt wurde, hat – mutmaßlich seit etwa einem halben Jahrzehnt und vielleicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise – eine Bedeutungsverschiebung eingesetzt. "Politischer Islam" wird inzwischen meist deutlich fokussierter verwendet: als Phänomen, das maßgeblich Deutschland und Europa betrifft. Und das oft mit den Aktivitäten institutionell organisierter Muslime in diesen Ländern zusammenhängt – der sogenannten Islamverbände. Die Stoßrichtung ist dabei – wenig überraschend angesichts der Polarisierung jeder Art von Debatte über den Islam – stark kritisch bis alarmistisch. Diese Linie lässt sich mindestens bis in den November 2016 zurückverfolgen, als die CSU auf ihrem Parteitag den Leitantrag "Politischer Islam" verabschiedete, der mit dem Satz begann: "Der Politische Islam ist die größte Herausforderung unserer Zeit."
Kritik an der Verwendung des Begriffs ist nicht ausgeblieben. Sie zielt vor allem auf die mangelnde oder mangelhafte Definition dessen, was "politischer Islam" sein soll. Stattdessen würden Muslime unter einen "Generalverdacht" gestellt, heißt es etwa. Politiker würden sich den unklaren Begriff und seine Nähe zu "Islam" an sich zunutze machen und auf diese Weise "im rechten Wähler-Teich fischen". Diesen Vorwurf erhob der österreichische Politik- und Islamwissenschaftler Rami Ali gegenüber der Regierungspartei ÖVP, die im Sommer 2020 eine "Dokumentationsstelle Politischer Islam" gegründet hatte. Im Herbst, nach dem Terroranschlag in Wien, verkündete Bundeskanzler Sebastian Kurz die Einführung eines Straftatbestands "politischer Islam". Im Gesetzestext, der im Dezember vorgelegt wurde, war aber neutral von "religiös-motivierten extremistischen Verbindungen" die Rede. Die ÖVP hat freilich klargemacht, dass sie weiter gegen "politischen Islam" vorgehen will.
In Deutschland gab unterdessen der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, zu Protokoll, dass er den Begriff kritisch sieht: "Er hat Verhetzungspotential, weil damit Politik mit Gewalt verwechselt wird." Sogar der Islamtheologe Abdel-Hakim Ourghi, dem man keine Milde gegenüber konservativen Muslimen vorwerfen kann, schrieb kürzlich, "politischer Islam" sei zu einem "Kunstbegriff für Islamhasser" geworden.
Islamische Positionen in politische Debatten einzubringen, kann eine Ausprägung des "politischen Islams" sein
Nun wird die Bedeutung von Begriffen oft durch die Zeitumstände bestimmt und kann sich wandeln. "Antisemitismus" etwa erfasst dem ursprünglichen Wortsinn nach nicht alle heutigen Formen von Judenfeindschaft; Ähnliches gilt für das umstrittene Wort "Islamophobie". Dennoch würde kaum jemand bestreiten, dass es die Phänomene gibt, die damit jeweils landläufig bezeichnet werden. Oder doch nicht? Soll das Konzept der Islamophobie überhaupt nur legitime Kritik am Islam verstummen lassen, wie manche meinen? Und werden Kritiker der israelischen Politik mittels eines Antisemitismusvorwurfs mundtot gemacht? Präzision bei der Definition solcher Begriffe ist unerlässlich, damit ihre Aussagekraft beurteilt werden kann.
Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer hält den Begriff "politischer Islam" grundsätzlich für "hilfreich und berechtigt". Nämlich dann, wenn man deutlich machen wolle, dass nicht vom "Islam an sich" im Sinn einer religiös-kulturellen Orientierung die Rede ist, sondern "der Islam als politische Kraft verstanden wird und in die Politik eingebracht werden soll". Zugleich fordert sie eine genaue Unterscheidung der Phänomene an. "Radikal" etwa werde mit Blick auf islamische Organisationen häufig unsauber verwendet, sagt Krämer der F.A.Z. Ebenso wendet sie sich gegen die Gleichsetzung der Begriffe "islamischer Fundamentalismus", "Islamismus" und "politischer Islam". Den Unterschied bringt die Berliner Professorin auf die Formel: "Fundamentalismus – wie lese ich den Koran? Islamismus – wie gestalte ich mein Leben? Politischer Islam – wie verhalte ich mich politisch?" Dass das zu kompliziert sein könnte, lässt Krämer nicht gelten: "Wenn wir die deutsche Politik beschreiben, bemühen wir uns ja auch um Präzision und Differenzierung. Wir bezeichnen beispielsweise nicht jeden Grünen-Politiker als radikal."
Geht man von Krämers Definition aus, ergibt sich ein Verständnis von "politischem Islam", das weitreichend ist – aber keineswegs notwendigerweise so problematisch, wie viele es nahelegen. Beispielsweise wäre das Einbringen islamischer Positionen in Debatten über Umweltschutz oder Abtreibungsrecht eine Ausprägung "politischen Islams". Das ist schwerlich eine "Herrschaftsideologie" – aber durchaus Ausdruck dessen, dass nach Ansicht vieler Muslime der Islam eine von Gott gegebene Ordnung der Welt darstellt, was die Politik einschließt. Ein solches Verständnis des Begriffs wäre auch insofern hilfreich, als es Analogien zu Phänomenen in anderen Religionen aufzeigen würde. Beispielsweise zum "politischen Katholizismus", aus dem sich auch CDU und CSU entwickelt haben.
Viele Autoren bestimmen "politischen Islam" indessen, wenn überhaupt, ausschließlich auf der Grundlage der problematischsten Aspekte islamischer politischer Betätigung. So schrieb die Ethnologin Susanne Schröter 2019 in ihrem Buch "Politischer Islam. Stresstest für Deutschland", der Begriff ziele auf die "totalitäre Umgestaltung des Politischen" und die "Unterwerfung von Gesellschaft, Kultur, Politik und Recht unter islamistische Normen". Die Unionspolitiker Winfried Bausback und Carsten Linnemann definierten in dem im selben Jahr erschienenen Sammelband "Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland. Wie wir unsere freie Gesellschaft verteidigen", der "politische Islam" umfasse "die radikalen Ausprägungen, die den westlichen Lebensstil zum Feindbild erheben und unsere freiheitlich-demokratische Rechtsordnung zu unterlaufen suchen". Im Grunde geht es also um verfassungsfeindliche Bestrebungen, wofür die Wahl des Ausdrucks "politischer Islam" irritierend harmlos erscheint. Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, lehnt den Begriff ab.
"Politischen Islam" als Pauschalbezeichnung für demokratiefeindliche Handlungen zu verwenden, unterstützt ein gefährliches Narrativ
Nicht zufällig werden in den Erläuterungen Wörter wie "umgestalten" oder "unterlaufen" benutzt. Das verweist auf ein weiteres Schlagwort, das oft im selben Kontext oder sogar synonym für "politischer Islam" gebraucht wird: "legalistischer Islamismus". Gemeint sind die - legalen - Aktivitäten von Organisationen mit islamistischer Stoßrichtung. Auch hier schwingt der Vorwurf des angestrebten Systemumsturzes mit. Er werde, so die Mutmaßung, hinter gesetzeskonformem Auftreten verborgen – daher "legalistisch". Der Vorwurf lautet, manche Islamverbände errichteten eine "Fassade"; man müsse sie "enttarnen".
Die Islamwissenschaftlerin Krämer sagt, man könne eine missbräuchliche Ausnutzung des Rechtsrahmens natürlich nicht in jedem Fall ausschließen. Sie beharrt aber darauf, es sei prinzipiell "nichts Illegitimes dabei, den Islam auch in politische Themen einzubringen" – solange nicht Gewalt eingesetzt wird oder Gesetze verletzt werden. Die deutsche Gesellschaft sei stark genug, dagegenzuhalten, wenn Muslime konservative Vorstellungen durchsetzen wollten, beispielsweise beim Schulunterricht für Mädchen.
Der italienische Islamismusforscher Lorenzo Vidino, der dem Beirat der österreichischen "Dokumentationsstelle" angehört, sagt dagegen, er halte den "legalistischen Islamismus" sogar für gefährlicher als Dschihadismus oder Salafismus – "weil er ein Projekt der langfristigen gesellschaftlichen Umgestaltung verfolgt". Die betreffenden islamistischen Gruppen seien "hochgradig organisiert und sehr gut finanziert", sagt Vidino der F.A.Z., und sie sendeten eine "spaltende" Botschaft an die Muslime: "Wir sind anders, wir gehören nicht wirklich in diese Gesellschaft, wir haben andere Werte." Dadurch und durch ein ebenfalls bedientes "Opfernarrativ" bereiteten sie der Rekrutierung durch militante Gruppen den Boden.
An den gegensätzlichen Einschätzungen dessen, was unter "politischem Islam" zu verstehen ist, wird deutlich, welche Gefahr in seiner Verwendung als pauschale Bezeichnung für demokratiefeindliche Bestrebungen auf islamischer Grundlage steckt. Der Begriff kann ein sehr breites Spektrum von Phänomenen von einem gewalttätigen Extremismus bis zu legalem politischem Engagement im Rahmen der Demokratie bezeichnen, die nichts als den Bezug auf den Islam gemeinsam haben. Wird seine Bedeutung eingeengt auf staatsgefährdende Aktivitäten, wird damit – womöglich unbeabsichtigt – ein Narrativ bedient, das mindestens fragwürdig, wenn nicht bewusst spaltend ist.
Dieser Beitrag wurde zuerst in der F.A.Z. vom 16.1.2021 im Ressort Zeitgeschehen (Politik) veröffentlicht. Autor ist Christian Meier. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
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