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Zur Rolle von Psychotherapie in der Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierung

Kerstin Sischka

/ 16 Minuten zu lesen

Psychotherapeutinnen und -therapeuten können einen wichtigen Beitrag in der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit leisten. Anhand eines Fallbeispiels zeigt Kerstin Sischka, warum es wichtig ist, sich bei der Deradikalisierungsarbeit mit der "Innenwelt" von Patientinnen und Patienten zu beschäftigen. Die psychischen Entwicklungen und Herausforderungen im Rahmen von Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozessen beschreibt sie aus einer psychoanalytischen Perspektive.

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Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Psychologie und Psychotherapie".

Fachkräfte aus der Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierungsarbeit haben regelmäßig mit Menschen zu tun, die psychisch stark belastet sind – etwa wenn sie mit jungen Menschen und Familienangehörigen arbeiten oder mit einschlägig Inhaftierten oder Gefährdeten im Justizvollzug und im Kontext der Haftentlassung. Solche psychischen Belastungen können mit unterschiedlich schweren oder langanhaltenden Symptomen einhergehen. Unabhängig davon, ob diese Belastungen auf psychische Erkrankungen hindeuten, wirken sie sich in jedem Fall auf die professionelle Hilfebeziehung in der Ausstiegsbegleitung aus. Damit können Risiken für den Ausstiegsprozess verbunden sein – beispielsweise, wenn eine Patientin oder ein Patient sich erneut in destruktive Gruppendynamiken verwickelt – aber auch eine Chance für eine Neuorientierung. Denn psychische Belastungen können Menschen, die in Radikalisierung und extremistische Gewalt verstrickt sind, auch den Anstoß geben, das eigene Leben zu verändern.

Daher können Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten einen wichtigen Beitrag zu Distanzierungs- und Ausstiegsprozessen leisten. Sie kommen auf unterschiedlichen Wegen mit diesen Patientinnen und Patienten in Kontakt; sei es durch ihre Arbeit im Justizvollzug oder in der Bewährungshilfe, in psychotherapeutischen Ambulanzen oder in eigener Praxis – insbesondere, wenn sie zum Kooperationsnetzwerk zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen und Ausstiegsprogramme gehören. Für sie steht dabei immer der einzelne Mensch als Patient beziehungsweise Patientin im Vordergrund, dem – ebenso wie anderen Menschen, die ihren Weg in die psychotherapeutische Praxis finden – ein geschützter Rahmen zusteht, um sich zu öffnen.

Psychische und psychosomatische Symptome (wie Schlafstörungen, sich aufdrängende Erinnerungen oder Antriebslosigkeit) oder "schwierige Beziehungsmuster" können auch als ein Kommunikationsmittel seitens der Patientinnen und Patienten verstanden werden. Dadurch soll etwas zum Ausdruck gebracht werden, das vielleicht noch nicht in sprachlicher Weise kommuniziert werden kann – auch weil es der psychischen Abwehr unterliegt, angst- und schambesetzt oder mit psychischem Schmerz verbunden ist. Wenn es einen Raum gibt, darüber ins Gespräch zu kommen, kann sich aus dem anfänglichen Wunsch, "einfach nur Entlastung" zu finden, im günstigsten Fall ein Veränderungswunsch und die Bereitschaft zur Auf- und Verarbeitung der eigenen Entscheidungen und Taten entwickeln.

Eine genaue diagnostische Einschätzung und Indikation sind dafür wichtig; auch weil für jede Patientin und jeden Patienten genau zu differenzieren ist, welche Art der Behandlung weiterhelfen könnte. Es gibt zum einen Symptome, die in akuten Lebenskrisen oder bei akuten traumatischen Belastungen auftreten. Zum anderen haben manche psychischen Störungen ihre Wurzeln in der frühen Entwicklung des Menschen und sind meist in Abhängigkeit von primären Beziehungen entstanden. Mitunter zeigen sie sich in zentralen Lebensphasen wie der Adoleszenz deutlicher, etwa als Persönlichkeitsentwicklungsstörungen. Während traumatische Erlebnisse im Erwachsenenalter zu vorübergehenden Einbrüchen in der psychischen Struktur führen können, hinterlassen frühe Beziehungsstörungen und Traumata oftmals eine an sich fragile, brüchige psychische Struktur und damit eine Vulnerabilität im späteren Leben. Diese kann zu selbst- oder fremddestruktiven Verhaltensweisen führen und hat auch eine Bedeutung bei der Hinwendung zu einer extremen Gruppe, einem damit einhergehenden Identitätswandel, wie auch dem Drang, Gewalt auszuüben. Das soll am Beispiel salafistisch-dschihadistischer Radikalisierung skizziert werden (Sischka 2019a).

Zur Psychodynamik in Radikalisierungsprozessen

Wenn sich Menschen radikalen Ideologien oder Gruppen zuwenden, verändern sie sich in ihrem psychischen Funktionieren. Dies betrifft die Art und Weise ihres Denkens, das rigider und vereinfachender wird. Das "Ich" als eigentlich regulative und potentiell reflexive Instanz wird durch die Hineinnahme der Ideologie in die Psyche (den Prozess der Ideologisierung) seiner Souveränität beraubt: ein eigenständiges kritisches Denken ist dann nicht mehr möglich. An die Stelle des souveränen Ich tritt eine Identifizierung mit einer vermeintlich überwertigen Idee, der sich das Ich unterwirft.

Gerade manche junge Menschen mit frühen traumatischen Beziehungserfahrungen hegen einen solchen Hunger nach Idealen, und versuchen ihn mit dem radikalen ideologischen Angebot zu stillen. Sie stellen ihr Ich in den Dienst der Ideologie und fühlen sich dann erlöst oder wie nach einem Erweckungserlebnis zu Höherem berufen (vgl. "Ich lebe nur für Allah", Dantschke/Mansour 2011).

Die Persönlichkeit wird bei einer Ideologisierung – auch durch die Mobilisierung der frühen Vulnerabilität – umgeformt. Oft ist die innere Welt dann von Mechanismen wie Spaltung, Verleugnung, Omnipotenz und Projektionen beherrscht. Diese Mechanismen stellen zwar ein fragiles psychisches Gleichgewicht her, erschweren oder verhindern jedoch reflexive Formen des Denkens und eine Mentalisierung – die Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren (Fonagy et al. 2002).

Vor allem findet im Zuge der Hinwendung zur radikalen Gruppe eine Identitätsverschmelzung statt, bei der das individuelle Ich immer mehr mit der kollektiven Identität fusioniert (Bion 1990). Ich-Funktionen werden an die Gruppe abgegeben und das Individuum wird durch die erhabenen, grandiosen Ideale narzisstisch verführt. Auch Vorstellungen und Fantasien über sich selbst und andere Menschen wandeln sich im Prozess der Radikalisierung. Die Radikalisierten können sich so als Inhaber einer überlegenen Wahrheit empfinden und begegnen Ungewissheit oftmals mit einem Habitus der Allwissenheit.

Die Verschmelzung der individuellen Identität mit dem Gruppenideal, das mit grandiosen und omnipotenten Fantasien aufgeladen wird, kann ein hohes Maß an Empathieverlust freisetzen. Ein identitäres Gerechtigkeitsgefühl, bei dem sich die Radikalisierten nur noch der Gruppe und ihrer Ideologie verbunden fühlen, kann zu einem Katalysator der weiteren Radikalisierung bis hin zur Gewaltbereitschaft werden. Triebkräfte sind dabei oftmals Emotionen, wie Neid und Wut, aber auch Scham und Verachtung. Sie können zu der Bereitschaft führen, andere Menschen herabzuwürdigen oder gar Zerstörung und Vernichtung ermöglichen. Die Fähigkeit Mitgefühl und Sorge um andere Menschen zu empfinden sowie Reue, Bedauern oder Schuld kann dadurch wesentlich eingeschränkt werden.

Wir wissen aus der Forschung und Praxis, dass es in Radikalisierungsverläufen durchaus zu Zweifeln und Desillusionierung kommen kann. Manch einer reagiert zunächst darauf, in dem er sich in eine noch stärkere Radikalisierung flüchtet. Es kann aber auch sein, dass die Wirksamkeit der Ideologie als "Selbstmedikation" nachlässt, und dass das Erlebte zu psychischen Einbrüchen und Symptombildungen führt, gerade auch während der Zeit in der Haft. So kann die psychische Situation der Betroffenen, die vielleicht von Isolationsgefühlen, Zweifeln, Desillusionierung geprägt ist, die Gesprächsbereitschaft mit Psychologinnen und Psychotherapeuten erhöhen.

Wie kann Deradikalisierungsarbeit aus psychotherapeutischer Sicht aussehen?

Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die mit in Extremismus verstrickten Menschen zu tun haben, müssen davon ausgehen, dass sich die potenzielle Patientin oder der potenzielle Patient durch die Radikalisierung in seinem Denken, Fühlen und Handeln verändert hat. Möglicherweise hat er oder sie auch selbst Gewalt ausgeübt, ist Zeugin oder Zeuge beziehungsweise Opfer von Gewalt geworden oder hat in anderer Weise durch unterstützende Taten Schuld auf sich geladen.

Bevor sie sich für die Aufnahme einer Behandlung entscheiden, sollten Psychotherapeutinnen und -therapeuten in ihren Vorgesprächen erste eigene Hypothesen entwickeln: Warum war oder ist es für diesen Menschen psychisch notwendig, sich in eine extremistische Gruppe zu integrieren? Welche Funktion hat die Ideologie im seelischen Geschehen? Wie kann es gelingen, die ideologische Gewalt in die Fähigkeit und Bereitschaft (über sich) nachzudenken zu transformieren? Diese und ähnliche Fragen können dann im Behandlungsverlauf ein roter Faden sein, um mit den Patientinnen und Patienten zu arbeiten. Im Falle von eigener Verunsicherung oder Angst, sollten Psychotherapeutinnen und -therapeuten Intervision oder Supervision in Anspruch nehmen.

Zu Beginn ist eine Gesprächsbereitschaft der wichtigste Ausgangspunkt für jedes psychotherapeutische Angebot. Es kann sein, dass ein Mensch anfangs mit einer Entlastungsmotivation in die Sprechstunde kommt. Gesucht sind dann schnelle Hilfe und eine Befreiung von den vielleicht kränkenden und einschränkenden Symptomen. Es herrscht der Wunsch vor, dass das Leben im Großen und Ganzen "so weiter" gehen kann. Daher geht es in Erstgesprächen und anfänglichen psychotherapeutischen Beratungen auch darum, wie sich aus dem anfänglichen Entlastungswunsch eine echte Veränderungsmotivation entwickeln kann.

In der psychotherapeutischen Arbeit mit solchen Patientinnen und Patienten ist es besonders wichtig, dass sie auch ihre Vorbehalte gegenüber Gesprächs- und Hilfsangeboten einbringen können. Sonst entsteht das Risiko einer oberflächlich vermeintlich guten Kooperation, während ein "hintergründiger, versteckter" Anteil des Patienten oder der Patientin doch immer misstrauisch, paranoid oder ablehnend bleibt, und nicht wirklich ernst genommen wird (Ebrecht-Laermann 2019). Daher ist es wichtig, aufmerksam dafür zu sein, wie sich die "Radikalität" oder die "extremistische Seite" der Patientinnen oder Patienten in der Behandlungsbeziehung zeigt. Darin liegt die Chance, dass nicht nur die belastenden Symptome, sondern die Entscheidungen und Taten der Patienten einer Reflektion zugänglich werden. Wenn ein radikalisierter, vielleicht erste Zweifel an sich und seinem Werdegang entwickelnder Mensch beginnen kann, sich im geschützten psychotherapeutischen Rahmen dem Gegenüber zu öffnen, besteht eine Chance auf eine längerfristige Veränderung. Aus den Zweifeln am eigenen Werdegang ergibt sich dann vielleicht die Frage, wie eine Zukunft abseits extremistischer Bezüge aussehen kann.

Als Kern der Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierung mit psychotherapeutischer Hilfe können folgende Aspekte festgehalten werden – noch vorläufig und in ersten Arbeitsbegriffen: Es geht erstens um eine Loslösung des Ich aus der "Geiselhaft" einer Ideologie, und damit auch um eine Stärkung des Ich. Zweitens geht es um eine Entflechtung der kollektiven Gruppenidentität und der individuellen Identität. Und schließlich geht es um eine Transformation von Gewalt in ein Nachdenken und Reflektieren.

Selbst wenn es eine beginnende Ausstiegsmotivation gibt, wird sich in der Regel eine Angst vor Veränderung einstellen. Denn jeder Mensch, der sich psychisch von einer idealisierten Gruppe oder Führungsperson und einer radikalen Ideologie ablöst und sich auf neue Lebenswege begibt, verliert zunächst einiges: Zugehörigkeit, feste Überzeugungen, Status in der Gruppe, die Möglichkeit Verantwortung abzugeben, und anderes mehr. Ein möglicher Ausstieg kann sich daher auch riskant und sehr verunsichernd anfühlen.

Insofern wird es oft einen Anteil im Patienten geben, der eine Veränderung will und gleichzeitig gibt es innere Kräfte, die eine solche Veränderung fürchten und an den Verführungen und Versprechungen der Ideologie festhalten. Die Abhängigkeit von der Gruppenideologie und der damit verbundenen Lebensweise kann so stark sein, dass ein Mensch trotz anfänglicher Zweifel in das bisherige Leben zurückkehren möchte. Solche Risiken zu erkennen, sie nicht zu verleugnen oder darüber zu schweigen, sondern auf angemessene Weise im psychotherapeutischen Gespräch zum Thema zu machen, gehört aus meiner Sicht zu einer Behandlung mit hinzu (Sischka 2019b).

Fallbeispiel: Die "Innenwelt" der Patientinnen und Patienten ist besonders wichtig

Der Psychoanalytiker Patrick Meurs hat in einer eindrucksvollen Fallvignette geschildert, wie schwierig es innerlich für "IS"-Rückkehrerinnen sein kann, sich mit den eigenen Entscheidungen und Taten auseinanderzusetzen und diese psychisch zu verarbeiten. In seinem Text "Der steinige Weg zurück aus dem Kalifat" schreibt er über eine 24-jährige Belgierin, die in den "IS" ausgereist war und dort fünf Jahre lang lebte (vgl. Meurs 2019). Sie hatte einen Dschihadisten geheiratet und mit ihm vier Kinder bekommen. Meurs berichtet anonymisiert aus seiner Arbeit mit der jungen Frau, die im Rahmen ihres Re-Integrationsprozesses in die therapeutische Sprechstunde kommt; er gibt ihr den Namen Sunia:

"Sie hatte gebeten, gemeinsam mit ihren Kindern nach Belgien zurückkehren zu dürfen und wird seitdem von den belgischen Behörden engmaschig kontrolliert. Ihre Kinder sind bei ihren Eltern in Pflege. Aus der Distanz, im Flüchtlingslager in Kurdistan, wollte sie zurück in die belgische Gesellschaft, hier in Europa wechselt ihre Haltung jede Sitzung zwischen distanzierter Freundlichkeit und massiver Wut. Sie fühlt sich sehr verwirrt, macht (sich, andren?) Vorwürfe darüber, dass sie wieder heimkehren konnte, schimpft und schreit. […]
In diesen Vorwürfen höre ich etwas, das ich auch oft von Jugendlichen gehört habe, die unmittelbar vor ihrer Abreise ins Kalifat festgenommen wurden: eine schier unbegrenzte Wut. Oftmals wird eine große Hoffnungslosigkeit deutlich, wenn Sunia nach diesen Wutausbrüchen völlig erschöpft ist. […] Nicht im 'face à face' der therapeutischen Begegnung, aber in einem Brief schrieb sie: ‚Ich muss meine Frustration und Raserei irgendwo zeigen. […] Ich kenne nur eine Person, bei der ich das tun kann und das bist du. Es tut mir leid, dass ich dich dann wegschiebe, bitte, sei weiterhin für mich da, denn ich kenne niemanden, der diese Anteile von mir ertragen könnte. Sunia'." (Meurs 2019, S. 84 f.) Meurs beschreibt, wie bei Sunia, "auf einen kurzen Moment des Durchbrechens der paranoid-schizoiden Position" – er verwendet hier ein psychoanalytisches Konzept, das gleich genauer geschildert wird – "immer wieder lange und heftige Episoden von Ablehnung und Wut, einhergehend mit Phantasien von Rache und Vernichtung" folgen (Meurs 2019, S. 84). Es ist, als ob
"jede Hinwendung zum Therapeuten die Angst und den Groll noch steigern würde. […] Der Weg zurück aus dem Kalifat, aus dem abgespaltenen Ideal in die Realität, ist ein sehr langer Weg, bei dem jeder Moment der Öffnung unmittelbar wieder vernichtet werden kann; die geringste Spur von Ambivalenz ist zunächst völlig unerträglich; der Rückzug in eine abgespaltene idealisierte Welt zugleich unmöglich, die Konfrontation mit der eigenen Zersplitterung ebenfalls fast unerträglich. Hoffnungsvoll stimmt jedoch, dass die Patientin die Möglichkeit aus diesem Leben auszusteigen (d. h. einen Suizid zu begehen; Anmerkung der Autorin), ablehnt, und auch Mitteilungen wie folgende: 'Meine Kinder dürfen mich jetzt so nicht sehen; später werde ich hoffentlich wieder eine Mutter sein können'" (Meurs 2019, S. 84 f.).

Die paranoid-schizoide Position und die depressive Position

In der Fallvignette zeigt sich etwas, das für die psychotherapeutische Arbeit im Kontext der Rehabilitation und Deradikalisierung sehr zentral ist. Das Pendeln der Klientin zwischen zwei verschiedenen polarisierten psychischen Zuständen, die von der britischen Psychoanalytikerin Melanie Klein als die "paranoid-schizoide Position" und die "depressive Position" beschrieben wurden (vgl. Klein 1995-2002). Es sind Positionen, zwischen denen das seelische Leben wechselt, was auch als ein Entwicklungsprozess zu verstehen ist.

Heinz Weiß zufolge, der die Qualitäten und die Struktur dieser psychischen Verfassungen schildert, sieht sich das Individuum in der paranoid-schizoiden Position "in erster Linie mit Verfolgungs- und Fragmentierungsängsten konfrontiert". Die Psyche versucht sich dann "mit verschiedenen Mechanismen z. B. Projektion, projektiver Identifizierung von quälender Angst und Spannung zu entlasten." (vgl. Weiß 2009, S. 23).

Das stellt Meurs bei Sunia fest:

"Wenn eine Psyche sich einmal in diese abgespaltene Welt des Kalifats zurückgezogen hat, droht mit dem Fall oder der Vernichtung dieses (inneren) Kalifats auch die Fragmentierung oder Zersplitterung der individuellen Psyche. […] Bei heimkehrenden IS-Müttern, wie Sunia ist die Rückkehr ein sehr schwieriger innerer Kampf gegen […] Vernichtungsgefühle, wobei jeder kleine Schritt in Richtung Ambivalenz und Re-Integration von Scham, Selbstvorwürfen und Wut verhindert werden kann. Es sind solche Fälle, die uns verdeutlichen, wie schwer der Weg zur Re-Integration sein kann." (Meurs 2019, S. 85).
Weiß zufolge überwiegt in der paranoid-schizoiden Position die "Tendenz, belastende Gefühle so schnell wie möglich loszuwerden." (vgl. Weiß 2009, S. 23). Die belastenden Gefühle können nur kurzfristig und auf relativ primitive Weise in bedeutungsvoller Weise versprachlicht ("symbolisiert") werden; Integrationsprozesse sind noch nicht dauerhaft und zerfallen rasch wieder. Ängste und Schuldgefühle haben hier eine "verfolgende Qualität", so dass das "Hauptinteresse auf die Abwendung von Bedrohungen und das Überleben des Selbst gerichtet ist" (Weiß 2009, S. 23).

Psychische Veränderung, die immer mit einer neuen Wahrnehmung der Realität, des Selbst sowie der Welt verbunden ist und zu einem veränderten Erleben der sozialen Beziehungen führt, wird in dieser Position als "katastrophisch" erlebt (vgl. Bion 1966/1970). Es dominiert die Vorstellung, dass es zu einer Desintegration der Selbstkontinuität, einer Vernichtung des bisherigen, beständigen Selbst und einem Zerbrechen der bisherigen Welt kommen könnte (vgl. Britton 2001).

In der depressiven Position kommt es hingegen zu einer schrittweisen Veränderung: "Diese Veränderungen gehen aus einer wachsenden Fähigkeit zur Integration von Erfahrungen hervor und führen dazu, dass sich das Hauptinteresse […] verschiebt" (Weiß 2009, S. 23) – von einem egozentrischen Festhalten an den bisherigen Erlebens- und Verhaltensmustern, die veränderungsresistent waren, zu einer Sorge um eine entwicklungsförderliche Beziehung zu den Mitmenschen, die emotional bedeutsam für die Patientin oder den Patienten sind.

Mit der "Integration ambivalenter Regungen" werden nun auch zwischenmenschlich wichtige Emotionen, wie Verlustängste und Schuldgefühle möglich. Weiß zufolge ist diese Bewegung "mit intensivem Konflikterleben verbunden und begleitet die einzelnen Stadien des Trauervorgangs." (Weiß 2009). Im besten Fall kann sich die Bereitschaft entwickeln, "zu vergeben und sich vorzustellen, dass einem auch selbst vergeben werden kann, woraus ein Gefühl von Dankbarkeit entsteht." (vgl. Weiß 2009, S. 23).

Eine psychische Integration der extremistischen Taten, Entscheidungen und Erlebnisse in die Biografie kann aber aus den genannten Gründen von Schwankungen geprägt und langwierig sein.

Deradikalisierung als hochkomplexe Arbeit für alle Beteiligten

Psychotherapeutische Arbeit im Kontext eines Ausstiegs aus extremistischen Gruppen und Denkweisen ist also für Patientinnen und Patienten wie auch für Psychotherapeutinnen und -therapeuten eine psychisch anspruchsvolle Aufgabe. Es ist nicht damit getan, die Vergangenheit "abstreifen" zu wollen, als würde sie jemand anderem oder in ein anderes Leben gehören. Wenn ein wirklicher Neuanfang gelingen soll, geht es auch darum, sich das Scheitern der eigenen und kollektiven Ideale einzugestehen. Ebenso wie die Tatsache, sich selbst und anderen Schaden zugefügt, an Gewalt, Krieg und Zerstörung mitgewirkt zu haben. Um die eigenen Entscheidungen und Taten in die eigene Biografie zu integrieren und Verantwortung zu übernehmen, braucht es psychische Kapazitäten des Selbst-Verstehens und der Selbst-Reflektion. Wie schwer es sein kann, mit den Gefühlen von Scham, Schuld und Angst, und dem erschütterten Selbstbild umzugehen, das sich dadurch einstellt, hat die obige Fallvignette gezeigt.

Es wird in der Fachdebatte oft unterschätzt, wie attraktiv die Hinwendung zu einer radikalen Gruppenideologie sein kann, wenn ein Mensch nach Symptomlinderung sucht. Die Idealisierung der Religion oder einer ethnischen Identität soll oftmals eine Erlösung aus Angst und Depression ermöglichen. Gerade bei Menschen mit einem durch Traumatisierungen geschwächten Ich und einer sehr fragilen psychischen Struktur, die sich aus solchen Motiven einer radikalen Gruppe angeschlossen haben, kann es unter Umständen lange Zeit brauchen, um eine Stabilisierung und Re-Organisation des Ich und eine Umwandlung der notwendig gewordenen Abwehr in Entwicklungsoptionen zu erreichen. Das braucht Geduld, ein beharrliches Vorgehen, bei dem die Fähigkeit der Patientin oder des Patienten, sich selbst besser zu verstehen und Verantwortung für sich zu übernehmen, gefördert wird, und es braucht Sensibilität, um Retraumatisierungen zu vermeiden.

Dem psychotherapeutischen Arbeiten inhärent ist daher immer, einzuschätzen, was die zentralen Ängste sind und wie belastbar der Patient oder die Patientin ist, wenn es um die Konfrontation mit schwierigen Erinnerungen und Emotionen geht. Denn die Elastizität der psychischen Struktur hat einen Einfluss darauf, ob und wie ein Mensch über sich nachdenken kann und ob die Fähigkeit, emotionale Erfahrungen zu machen und psychisch bedeutsame Verbindungen zwischen Gedanken herzustellen, vorhanden ist.

Bei manchen Patienten oder Patientinnen wird es zudem notwendig sein, dass Psychotherapeutinnen und -therapeuten eine Haltung entwickeln, die es ihnen ermöglicht, einen Rückfall der Patientin oder des Patienten in eine Position des Nicht-Wissen-Wollens und damit verbundene Rückzüge wahrzunehmen und damit umzugehen beziehungsweise Angriffe auf die psychotherapeutische Beziehung auszuhalten. Diese können drohen, wenn ein neuer Gedanke oder eine Erkenntnis für das seelische Gleichgewicht zu bedrohlich werden oder Schuld- oder Schamgefühle überhandnehmen. Auch das hat sich sehr deutlich in der Fallvignette gezeigt. Der Psychotherapeut stand vor der Herausforderung, den "Terror" (die große Wut der Patientin) in die therapeutische Beziehung aufzunehmen und der Patientin dabei zu helfen, die Wut in ein Verstehen umzuwandeln.

Es ist für Psychotherapeuten aber auch für Beraterinnen notwendig, solche "Attacken zu überleben", ohne sich zurückzuziehen, sich zu rächen oder die eigene professionelle Machtposition auszunutzen. Dann kann im besten Fall auch die Patientin oder der Patient seine emotionalen Zustände "überleben" und die psychotherapeutische Arbeit kann sich vertiefen. Es kann vorkommen, dass Patientinnen und Patienten auf diesem Weg sehr depressiv werden, was aber eher ein Fortschritt sein kann. Bedenken müsste man eher haben, wenn sehr schnell die Position des oder der "Ausgestiegenen" eingenommen wird und eine Anti-Position, "die Verteidigung der Demokratie" oder der "Kampf gegen den Extremismus" nun ebenso idealisiert werden müssen, wie zuvor die radikale Ideologie.

Ausblick: Psychotherapeutisch Tätige in das Netzwerk der Tertiärprävention einbinden

Dieser Beitrag zeigt auf, dass ein Ausstieg und eine Deradikalisierung psychologisch anspruchsvolle Prozesse sind. Erfreulich ist, dass diese Einschätzung mittlerweile auch unter vielen Berufsgruppen geteilt wird, die in der Tertiärprävention tätig sind (Fachkräfte aus der Sozialarbeit, der Polizei und dem Justizvollzug). In der Zukunft wird es darum gehen, einerseits die Kooperationen mit den psychotherapeutisch Tätigen zu stärken und andererseits Wissen zu vermitteln zu den psychodynamischen und psychopathologischen Prozessen, die im Kontext von Radikalisierung wirksam werden.

Auch (psychologische und ärztliche) Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die in Ambulanzen, stationär oder in Beratungsstellen und psychosozialen Diensten tätig sind, gehören in das Netzwerk einer ganzheitlich angelegten Tertiärprävention (Sischka 2019c). Für die Zukunft ist zu überlegen, wie die staatlichen und nicht-staatlichen Programme der Ausstiegsbegleitung und Familienhilfe die Zugänge zur psychotherapeutischen Regelversorgung verbessern können, um gemeinsam mit den dortigen Kooperationspartnern Menschen im Distanzierungs- und Ausstiegsprozess noch besser unterstützen zu können. Mit den beiden Projekten "NEXUS – Psychologisch-Therapeutisches Netzwerk Justiz und Extremismus" und "TRIAS – Neue Wege der Kooperation" versteht sich die Externer Link: Fachstelle Extremismus und Psychologie in Berlin gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern in dieser Richtung als "Pionier".

Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Psychologie und Psychotherapie".

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Quellen / Literatur

Bion, Wilfried Ruprecht (1966): Catastrophic Change. In: Bulletin of The British Psychoanalytical Society, Nr. 5.

Bion, Wilfried Ruprecht (1970): Attention and Interpretation. A Scientific Approach to Insight in Psycho-Analysis and Groups. London: Tavistock.

Bion, Wilfried Ruprecht (1990): Erfahrungen in Gruppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Britton, Ronald (2001): Glaube, Phantasie und psychische Realität: psychoanalytische Erkundungen. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Cohen, Shuki J. (2019): The unconscious in terror: An overview of psychoanalytic contributions to the psychology of terrorism and violent radicalization. In: International Journal of Applied Psychoanalytical Studies. Jg. 16, Heft IV, S. 216-228.

Dantschke, Claudia; Mansour, Ahmad et al. (2011): "Ich lebe nur für Allah". Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Eine Handreichung für Pädagogik, Jugend- und Sozialarbeit, Familien und Politik. Berlin: ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH.

Ebrecht-Laermann, Angelika (2019): Die illusionierende Normalisierung von Destruktivität. Zur Abwehr von Gefährlichkeitsvorstellungen in der Arbeit mit extremistischen Gewalttätern. In: Bundesverband Psychoanalytische Paar- und Familientherapie (Hg.): Psychoanalytische Familientherapie. 20. Jahrgang, 2019, Nr. 39, Heft II, S. 97-112.

Fonagy, P. et al. (2002): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett–Cotta Verlag.

Klein, Melanie (1995–2002): Gesammelte Schriften (6 Bde.). Stuttgart: Frommann-Holzboog.

Meurs, Patrick et al. (2019): Die Anziehungskraft des Extremen in Zeiten der Wandlung und Wanderung: Islamistische Radikalisierung aus einer psychoanalytischen Perspektive. In: Wahl, Pitt (Hg.): Spaltung – Ambivalenz – Integration. Beiträge zur Individualpsychologie. Bd. 45. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 52-89.

Sischka, Kerstin (2019a). Externer Link: Adoleszenz zwischen Höllenangst und Sehnsucht nach dem Paradies. Eine Annäherung an die psychischen Innenwelten salafistisch radikalisierter junger Menschen. Abruf am 18.6.2020.

Sischka, Kerstin (2019b): Ist eine Deradikalisierung möglich? Eine sozialpsychologisch-psychoanalytische Perspektive auf Jugendliche und ihre Familien im Bann des dschihadistischen Terrorismus. In: Bundesverband Psychoanalytische Paar- und Familientherapie (Hg.): Psychoanalytische Familientherapie. 20. Jahrgang, 2019, Nr. 39, Heft II, S. 69-96.

Sischka, Kerstin (2019c): Psychotherapeutische Beiträge zur Extremismus-Prävention. Erfahrungen, Grundlagen und Kooperationsmöglichkeiten. In: Erich Marks (Hg.): Gewalt und Radikalität – Ausgewählte Beiträge des 23. Deutschen Präventionstages am 11. und 12. Juni 2018 in Dresden. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg GmbH, S. 375.

Weiß, Heinz (2009): Das Labyrinth der Borderline-Kommunikation. Klinische Zugänge zum Erleben von Raum und Zeit. Stuttgart: Klett Cotta Verlag.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ärztliche und psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten werden in Deutschland in den wissenschaftlich und sozialrechtlich anerkannten Verfahren Verhaltenstherapie (VT), systemische Therapie (ST), Analytische Psychotherapie (AP) und Tiefenpsychologische Psychotherapie (TP) ausgebildet. Die Psychotherapie-Richtlinie fasst analytische Psychotherapie und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als "psychoanalytisch begründete Verfahren" zusammen: "Diese Verfahren stellen Formen einer ätiologisch orientierten Psychotherapie dar, welche die unbewusste Psychodynamik neurotischer Störungen mit psychischer oder somatischer Symptomatik zum Gegenstand der Behandlung machen." (siehe auch Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses, §14 Abs. 1). Dieser Text legt seinen Schwerpunkt auf eine psychoanalytische Perspektive. Die psychoanalytisch begründeten Psychotherapien basieren auf einem Theoriensystem, das umfassend ist: Historisch haben sich innerhalb der klinischen Theorien einige führende Paradigmata herausgebildet, die ihren Niederschlag in den wichtigsten klinischen Theorien gefunden haben (Triebtheorie, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorien, Selbstpsychologie sowie intersubjektive Theorien). Diese Theorien schließen einander in ihren modernen Formen nicht aus, sondern ergänzen einander, indem sie je unterschiedliche Aspekte psychischen Funktionierens untersuchen und so ein umfassendes und differenziertes Bild seelischer Prozesse liefern.

    Die Fallvignette und ihre Konzeptualisierung in diesem Artikel legen den Schwerpunkt auf die Objektbeziehungstheorie. Es wäre aber auch möglich, das klinische Material durch eine andere theoretische Linse zu interpretieren. Einen solche Vorgehensweise wird auch in der wissenschaftlich-psychoanalytischen Fachdebatte für die Beschäftigung mit klinischem Material im Zusammenhang mit Terrorismus und Radikalisierung angeregt (vgl. Cohen 2019).

  2. Beispiele aus der deutschen Fachdebatte und Praxis dazu finden sich in den Fachartikeln des "Externer Link: JEX – Journal EXIT Deutschland. Zeitschrift für Radikalisierung und demokratische Kultur" und im Externer Link: Blog des Aktionskreises EXIT-Deutschland.

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Kerstin Sischka, Dipl.-Psych. & M.A., ist psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin (DPV/IPA/DGPT). 2018 hat sie gemeinsam mit psychoanalytischen Kolleg/-innen die Fachstelle Extremismus und Psychologie (FEP) mit dem Projekt "NEXUS – Justiz und Extremismus" ins Leben gerufen. Seit 2023 hat sie die Leitung des psychotherapeutisch-psychiatrischen Beratungsnetzwerkes NEXUS inne, welches unter dem Dach der Charité Universitätsmedizin durch das BAMF und die Landeskommission Berlin gegen Gewalt (im Rahmen des Landesprogramms Radikalisierungsprävention) als Psychotherapeutisch-Psychiatrisches Beratungsnetzwerk gefördert wird.