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Politische Bildung in der Untersuchungshaft Praxisbericht

Birgit Hartlage Kristina Köhler

/ 7 Minuten zu lesen

Die Fach- und Beratungsstelle Legato Bremen hat ein Angebot der politischen Bildung für Inhaftierte in Untersuchungshaftanstalten entwickelt und erprobt. Dabei stehen die Interessen, Perspektiven und persönlichen Entwicklungen der Teilnehmenden im Fokus. So sollen mögliche Radikalisierungstendenzen frühzeitig erkannt und die Rehabilitation unterstützt werden.

Die Untersuchungshaftanstalt Moabit in Berlin (© picture-alliance/dpa)

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Haftanstalten können leicht zu Orten von Radikalisierung werden, das wird mit Blick auf den internationalen politisch wie religiös begründeten Extremismus und Terrorismus deutlich. In Deutschland ist Radikalisierung in Haft jedoch kein Massenphänomen. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Haftbedingungen von Bemühungen um den Resozialisierungsgedanken geprägt sind und von der Beachtung der Menschenrechte. Hierbei kommt der Achtung der Religionsfreiheit eine besondere Bedeutung zu.

Auch wenn Radikalisierungsprozesse nicht in übergroßer Zahl auftreten, fördern Bundesbehörden verstärkt Projekte zur Prävention von Extremismus in Justizvollzugsanstalten (JVA) und in der Bewährungshilfe; zum Beispiel mit dem Bundesprogramm Demokratie leben! des Familienministeriums. Radikalisierung und Extremismus stellen eine ernstzunehmende Problemlage für JVA dar. Zum einen gibt es rechtsextreme gewaltbereite Inhaftierte, zum anderen kommen sukzessive Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus dem ehemaligen sogenannten "Islamischen Staat" in die Haftanstalten – eine weitere große Herausforderung.

Politische Bildung in der Untersuchungshaft – ein Modellprojekt

Angebote der politischen Bildung sind in den meisten Haftanstalten noch etwas Neues; dies gilt insbesondere für den Alltag der Untersuchungshaft. Noch ausstehende Gerichtsurteile sowie die Trennung von Familie und Freunden führen bei nahezu allen Inhaftierten zu hoher emotionaler Anspannung, wenn nicht gar zu schweren Krisen. Die Überforderung bei der Bewältigung einer Krise – und eine Inhaftierung ist eine erhebliche menschliche Krise – kann eine Person besonders anfällig für extremistisch-gewaltbereite Ideologien machen. Der Zustand ungeklärter Verhältnisse kann für die Inhaftierten in der Untersuchungshaft mitunter viele Monate lang andauern. Seitens der Justizvollzugsanstalten ist die Vermeidung von Selbst- und Fremdgefährdung (Suizidvermeidung) deshalb ein Schwerpunktthema. Viele der Inhaftierten haben aufgrund der ungewissen Situation und der inneren emotionalen Anspannung einen großen Redebedarf und suchen nach Möglichkeiten sich auszutauschen.

Legato hat deshalb ein entsprechendes Angebot der politischen Bildung für Untersuchungshaftanstalten konzipiert, in einem zweijährigen Modellprojekt durchgeführt und kontinuierlich angepasst. Es reagiert auf den hohen Bedarf an Gesprächsangeboten bei den Inhaftierten. Es handelt sich um ein freiwilliges Gruppen-Angebot, das sich an alle Inhaftierten der jeweiligen Station richtet: Es finden regelmäßige Gesprächsrunden von 60-120 Minuten zu ausgewählten gesellschaftspolitischen Themen mit verschiedenen methodischen Zugängen statt.

Ziel des Angebotes ist es, frühzeitig in die Rehabilitation einzusteigen, die Überlastung auf den Stationen zu mindern und mögliche Radikalisierungstendenzen bei Einzelnen oder einer Gruppe frühestmöglich zu identifizieren. Es handelt sich bei der politischen Bildung um ein ergänzendes Angebot zur Sekundärprävention. In Untersuchungshaftanstalten wird somit Demokratiepädagogik an einem besonders sensiblen Ort etabliert.

Das Projekt hat im Jahr 2018 zunächst einmal im Monat auf zwei Stationen der Untersuchungshaftanstalt Bremen stattgefunden; seit 2019 findet es aufgrund von stetig steigendem Interesse der Inhaftierten auf nahezu allen Stationen der Anstalt im vierzehntägigen Rhythmus statt und wird in den nächsten Jahren fortgeführt. Ab Frühjahr 2020 wird das Projekt von Legato auch in der Untersuchungshaft der JVA in Hamburg eingeführt.

Zugänge und Ziele

Gemeinsam mit den Inhaftierten werden persönliche und "mehrheitsgesellschaftliche" Narrative in den Blick genommen und die kritische Auseinandersetzung damit angeregt. Durch die Beschäftigung mit zum Teil kontroversen Themen werden unter anderem Konfliktfähigkeit, Impulskontrolle und Ambiguitätstoleranz gestärkt. Zusätzlich werden Rhetorik, Selbstbewusstsein, Gruppen- beziehungsweise Teamfähigkeit und Kompromissbereitschaft unterstützt. Durch das Aufzeigen von Diversität und einen grundsätzlich wertschätzenden und respektvollen Umgang mit allen in der Gruppe wird Toleranz für andere Positionen gefördert. Das stärkt nicht nur die Toleranz in Bezug auf andere, sondern im Besonderen auch das Selbstwertgefühl der Teilnehmenden.

Mit der Vermittlung gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge und der Stärkung von Ambiguitätstoleranz, Kritikfähigkeit und Eigenwahrnehmung werden die Teilnehmenden darin bestärkt, die individuell relevanten gesellschaftlichen Spannungsfelder zu reflektieren und (neue) Partizipationsmöglichkeiten zu erkennen. Emotionale Zugänge stellen hierbei gleichermaßen eine wertvolle Ressource wie auch eine Herausforderung dar.

Steigendes Interesse durch Kontinuität

Die Akzeptanz des Angebots wurde unter anderem maßgeblich gesteigert durch ein hohes Maß an Verbindlichkeit und Kontinuität in Organisation und Durchführung. Fanden in der Anfangsphase Gruppensitzungen durchaus auch mit nur drei Inhaftierten statt, so liegt die Durchschnittsteilnehmerzahl inzwischen bei zehn. Seitens Legato führen stets zwei Mitarbeitende die Angebote durch. Zum Teil ist eine weitere Kollegin als Sprachmittlerin (für Türkisch und Kurdisch) dabei.

Bei einer Befindlichkeitsrunde am Anfang können die Teilnehmenden zunächst aussprechen, was sie aktuell beschäftigt. Es wird bei den Angeboten darauf geachtet, auf die individuellen Bedürfnisse aller Teilnehmenden einzugehen. In der Abschlussrunde wird jeweils ein "Themenspeicher" angelegt, in den Fragen und Themen aufgenommen werden, mit denen die Teilnehmenden sich gern beschäftigen würden. So machen die Inhaftierten die Erfahrung, dass sie gesehen und gehört werden. Der strukturierte Ablauf des Gruppenangebots liefert den Inhaftierten ein Gefühl von Stabilität und Kontinuität und führte folglich zu einer Steigerung ihres Interesses an diesem Gruppenangebot.

Themen und Methoden

Der wertschätzende Umgang mit den Inhaftierten, Diskussionen auf Augenhöhe und ohne belehrende Frontaleinheiten sorgen für besondere Offenheit bei den Teilnehmenden. Besonders gut kommen lebensweltnahe und tagesaktuelle Themen an. Eine Herausforderung in der Arbeit ist vor allem die Heterogenität der Gruppen, denn die Erwartungs- und Wissenshorizonte der Teilnehmenden liegen unter Umständen weit auseinander.

Angesichts der Heterogenität der Gruppen in Bezug auf zum Beispiel kognitive Fähigkeiten und Sprachkompetenzen ist nach unserer Erfahrung zum einen Ausgewogenheit und Abwechslung bei den Themen und zum anderen ein Methoden-Mix sinnvoll.

Besonders die Themen "Klimawandel & Klimaschutz", "(Europa- und Landtags-)Wahlen" und "Religion & Politik" stießen bei den Teilnehmenden auf großes Interesse. Beim Thema "Klimawandel & Klimaschutz" wurde zum Beispiel mit PowerPoint-Präsentationen und Diskussionen in Kleingruppen und im Plenum auf Themen wie "Fridays for Future", Eigenverantwortung und Verantwortung von Politik und Regierungen eingegangen. Der Bereich der politischen Partizipationsmöglichkeiten hat bei den Teilnehmenden ebenfalls Interesse geweckt. Abgeschlossen wurde dieser Themenkomplex mit einem von den Teamerinnen und Teamern selbstkonzipierten Umwelt-Quiz, das allen Beteiligten großen Spaß gemacht hat.

Die Auseinandersetzung mit "(Europa- und Landtags-)Wahlen" stellte insofern eine größere Herausforderung dar, als in der JVA für das Gruppenangebot kein Internet zur Verfügung steht. Daher erstellten wir eine analoge Version des "Wahl-O-Mat" (etwas ‚verkürzter‘ als die analoge Version der Bundeszentrale für politische Bildung), um den Inhaftierten dieses Tool zur Vorbereitung auf eine Wahl näher zu bringen. Die Teilnehmenden sagten, ihnen sei der Wahl-O-Mat zuvor nicht bekannt gewesen. Im Umgang mit diesem hätten sie aber viel Neues über Politik und Wahlen gelernt und es habe auch ihr Interesse daran gesteigert.

Lebhafte, zum Teil emotionale Diskussionen ergaben sich beispielsweise bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Staat, etwa in den USA, in der Türkei, in Frankreich und Deutschland. Neben Diskussionen in der Großgruppe wurden hierbei Ressourcen-Karten aus der systemischen Arbeit eingesetzt. Nach anfänglicher Skepsis konnten sich die Teilnehmenden auf diese Methode einlassen und haben sie letztlich als hilfreich und gut bewertet.

Umgang mit Strukturen und Mitarbeitenden der JVA

Ein akzeptierender und verantwortungsbewusster Umgang mit internen Strukturen, die für den reibungslosen Ablauf innerhalb der Justizvollzugsanstalt erforderlich sind, war und ist maßgeblich erforderlich für die erfolgreiche Etablierung des Projekts. Anstaltsalarme, die den zeitlichen Rahmen der Gruppensitzung verändern beziehungsweise diese gar ausfallen lassen, müssen konzeptionell mitgedacht oder auch aufgearbeitet werden. Mit Blick auf die hohe Belastungssituation im Allgemeinen Vollzugdienst (AVD) und den Mehraufwand beziehungsweise die Mehrbelastung durch Externe nehmen Legato-Mitarbeitende größtmögliche Rücksicht auf den AVD. Sie achten besonders darauf, Transparenz darüber herzustellen, was während der Angebote geschieht. So wurde beispielsweise eine offene Einladung für Vollzugsbedienstete zur Teilnahme am Angebot ausgesprochen. Dies wird, je nach Arbeitsbelastung und individuellem Interesse, teilweise auch wahrgenommen.

Fazit

Die Erfahrungen aus zwei Jahren Modellprojekt haben sowohl Stärken als auch Herausforderungen bei der Arbeit mit politischer Bildung im Kontext Untersuchungshaft aufgezeigt. Der ganzheitliche Ansatz zählt hierbei zu den Stärken. Er berücksichtigt in der Arbeit mit Inhaftierten und Bediensteten in der U-Haft alle Akteure individuell. Ein kontinuierlicher Austausch mit den JVA-Bediensteten und bedarfsgerecht für sie konzipierte Fort- und Weiterbildungen flankieren die Gruppenangebote. Die Prävention für alle Inhaftierten wird somit um einen wesentlichen Faktor ergänzt.

Die Heterogenität der Gruppe und die hohe Fluktuation der Inhaftierten in der U-Haft gehören zu den Herausforderungen der Arbeit als Externe in der JVA. Neue Gruppenmitglieder müssen nicht nur gruppendynamisch, sondern auch thematisch eingebunden werden. Weil es sich um offene Gruppen handelt, muss diese Variable stets mitgedacht und miteingeplant werden.

Dem von Legato Bremen entwickelten Konzept der politischen Bildung ist es in den ersten zwei Jahren gelungen, insofern positive Wirkungen zu erzielen, als dass ein offener Raum in einem geschlossenen System geschaffen wurde. In diesem stehen die Interessen, die Perspektiven und die persönliche Entwicklung der Inhaftierten im Zentrum.

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ist Dipl. Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin und Projektleiterin von Legato Bremen. Sie ist von Beginn an (2017) dabei.

B.A. Religions- und Kulturwissenschaften, ist von Beginn an (2017) Mitarbeiterin bei Legato Bremen.