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Die Diskussion über Radikalität und Extremismus zeichnet sich nicht nur durch Emotionalisierung aus, sondern auch durch die Unschärfe der Diskussionsgegenstände. Deren Definitionen sind bislang ebenso uneinheitlich, wie die Annahmen über die Ursachen und Verläufe (u. a. Aslan et al. 2018, De Jongh et al. 2018). Radikalisierungsprozesse lassen sich vor allem in der krisenhaften Phase der Adoleszenz beobachten.
Extremistische Gruppen "helfen" bei der Bewältigung von Konflikten
Den meisten der phänomenübergreifenden Programme liegt das Wissen zugrunde, dass demokratie- und/oder menschenfeindliche Überzeugungen vor allem der Entlastung von massiven innerpsychischen Spannungszuständen dienen und angstreduzierend wirken können. Welcher Weltanschauung beziehungsweise (pseudo-)religiösen oder völkisch-rassistischen Überzeugung sich ein Mensch letztlich anschließt, scheint dabei eher in seiner individuellen Biografie begründet zu sein sowie von Verfügbarkeiten und Gelegenheiten abzuhängen.
Die Angebote der verschiedenen extremistischen Gruppen unterscheiden sich auf intrapsychischer und interpersoneller Ebene kaum. Ihnen ist gemein, dass sie ihren Mitgliedern die Möglichkeit geben, sowohl in ihnen selbst liegende (intrapsychische) Konflikte als auch in der Beziehung zu anderen liegende (interpersonelle) Konflikte zu kompensieren (jedoch ohne sie tatsächlich zu bewältigen, so dass die Gruppe zur Stabilität unbedingt benötigt wird). Als Teil einer elitären Gruppe gelingt es, ein instabiles Selbstwertgefühl zu stabilisieren, im Angesicht der konstruierten Feindgruppe können destruktive innere Dialoge projiziert und niedergekämpft werden, affektive Durchbrüche werden mitunter positiv bestätigt, eine unverständliche Umwelt wird durch Ideologie einfach strukturiert und verstehbar. Dies sind nur einige Aspekte, an denen sich Übereinstimmungen im Angebot der Gruppe und den psychosozialen Bedürfnissen ihrer Mitglieder verdeutlichen lassen.
In der Fachdebatte herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die meisten Menschen, die sich radikalisieren, nicht psychisch krank sind
In der pädagogischen Praxis ist die Einteilung in "gesund" und "krank" nicht hilfreich. Um entwicklungsförderlich intervenieren zu können, müssen vor allem die alltäglichen Auswirkungen intrapsychischer und interpersoneller Einschränkungen im Selbsterleben und der Beziehungsgestaltung verstanden werden.
Einige der im Folgenden geschilderten psychischen und interpersonellen Phänomene, die sich in der pädagogischen Praxis häufig beobachten lassen, prädestinieren Menschen geradezu, sich radikalen Gruppen anzuschließen, die unter anderem durch ihre Struktur, Sinngebung und Übersichtlichkeit von (teilweise unaushaltbarer) innerer Spannung entlasten. Im Grunde muss es eher erstaunen, wie viele Menschen psychisch stabil genug sind, um eine pluralistische, diverse, demokratische und damit völlig uneindeutige Welt voller Ambivalenz zu ertragen.
Vor dem Hintergrund bestimmter psychosozialer Problematiken entfaltet der Anschluss an eine radikale oder extremistische Gruppierung für diese Klientinnen und Klienten also eine entlastende Wirkung.
Einschränkungen der Regulationsfunktionen, die Radikalisierung begünstigen können
Einige der Klientinnen und Klienten geraten durch bewusst oder unbewusst erlebte Frustration, Beschämung oder Hilflosigkeit in eine hohe affektive Spannung, die manchmal über Tage hinweg gehalten werden kann und sich dann vermeintlich spontan in Gewalthandlungen "entlädt". Die eigenen inneren Dialoge werden auf vermeintliche Angehörige abgelehnter Gruppen projiziert und dort (externalisiert) bekämpft. Gelingt es, diese aggressiven Impulse auf die als "Feindgruppe" definierten "Anderen" zu lenken, wird das von der Gruppe anerkennend wahrgenommen und positiv verstärkt.
Allen radikalen Gruppen ist die "Wir-Die"-Dichotomie inhärent. Sie wird genutzt, um Feindbilder zu konstruieren. Durch die Gruppe werden dichotome Erklärungsmuster angeboten, die komplexe Zusammenhänge vereinfachen und verstehbar machen. Menschen, die Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten nicht gut aushalten können, haben daher ein höheres Risiko, sich zu radikalisieren. Das gleichzeitige Vorhandensein widersprüchlicher Gedanken oder Gefühle ist für sie nicht möglich, was dazu führt, dass die Welt in "gut/böse", in "wir/die" oder in "richtig/falsch" gespalten werden muss. Eine dichotome Teilung der Welt und damit einhergehende simplifizierende Erklärungen sind elementare Bestandteile radikaler Überzeugung. Hasstaten (die vermeintlich "das Böse" vernichten und "das Gute" schützen) werden in der Gruppe legitimiert und Täter erhalten moralische Absolution.
Viele der Klientinnen und Klienten leiden unter unaushaltbaren (und deshalb oft vom bewussten Erleben ferngehalten) Schuldgefühlen, die sich durch projizierte Rache- oder Hassimpulse zeigen können. Dabei wird die eigene überstrenge innere Stimme (z. B. "Ich darf keine Fehler machen. Sollte das doch passieren, verdiene ich dafür eine erbarmungslose Strafe.") auf andere Menschen projiziert und externalisiert bekämpft (z. B.: "Der hat einen Fehler gemacht, das darf der nicht, der muss dafür hart bestraft werden."). Durch die kollektiv konstruierten, depersonalisierten Feindbilder können Rache- und Hassfantasien offen ausgelebt werden und finden entsprechende Legitimation in der ideologischen Überzeugung der Gruppe. Die aus überstarkem Schuldgefühl entstehenden Rachefantasien werden agiert (also unbewusst in Handlung gebracht), damit das Böse/Schlechte/Fehlerhafte bekämpft wird. Insofern kann die extremistische Ideologie dabei helfen, Schuldgefühle abzuwehren.
Häufig haben radikalisierte junge Menschen kein sicheres Gefühl dafür, wer sie sind und können keinen stabilen, krisenfesten Identitätsentwurf entwickeln. Damit einher geht meist das unerträgliche Gefühl innerer Wertlosigkeit, das durch den Wunsch nach Übereinstimmung mit wichtigen Personen oder aber durch Grandiositätsfantasien gelindert wird. Wer sich der Gruppe zuwendet und bereit ist, die jeweiligen Überzeugungen zu vertreten, erfährt (vorerst bedingungslose) Wertschätzung und Anerkennung. Untereinander wird vollständige Übereinstimmung hergestellt, die Individualität des Einzelnen weicht dem Kollektiv und dem gemeinsamen höheren Ziel. Durch die stetige positive Rückmeldung der Gruppe und die Überhöhung der Mitglieder werden Wünsche nach Verschmelzung und Bedeutung erfüllt. Eine besondere Relevanz haben zudem idealisierte, charismatische Anführer, die zu Identifikationsobjekten werden und deren Glanz auf die Gruppenmitglieder abfärbt. Ein instabiles Selbstwertgefühl wird durch das Beziehungsangebot der Gruppe extern reguliert.
Psychosoziale Kompetenz ist die Grundlage für Distanzierung
Obwohl hier nur wenige Aspekte dargestellt werden konnten, die Radikalisierungsprozesse begünstigen können, ist offenkundig, dass diese Einschränkungen im (Beziehungs-)Angebot der Gruppe ihre reziproke Entsprechung finden. Sind Radikalisierungsprozesse vorrangig auf intrapsychische und interpersonelle Einschränkungen zurückzuführen, kann der Anschluss an eine radikale oder extremistische Gruppe der Kompensation innerer Spannungszustände dienen. In diesen Fällen wird die pädagogische Auseinandersetzung mit der ideologischen Überzeugung nicht zum Erfolg führen.
Ein Beispiel aus der Praxis
Herr D. wurde wegen diverser schwerer Körperverletzungsdelikte zu einer Teilnahme am pädagogischen "Blickwechsel-Training" verurteilt. In früher Kindheit war er massiven Übergriffen eines strengen Vaters ausgesetzt. Seine Straftaten legitimierte er nachträglich immer damit, dass es sich bei seinen Opfern ja schließlich nicht um Menschen, sondern "kuffar" (Ungläubige) handele. Auch im Training beharrte Herr D. zunächst auf der gruppenbezogenen menschenfeindlichen Legitimation seiner Taten. Im Verlauf der ersten Sitzungen zeigte sich, dass der Klient auch in anderen Beziehungen und Situationen penibel darauf achtete, dass keine "heiligen" Regeln verletzt wurden. Passierte dies doch, reagierte er mit unbändigem Zorn und dem Wunsch nach Vergeltung für die ungeheuerliche Tat.
Sein vermeintlich religiös begründetes überstrenges Regelverständnis war der alleinige Maßstab. Kontextvariablen oder abweichende Motive des "Regelbrechers" konnte er nicht mit einbeziehen. Er verstand sich als "Wächter" und sah sich in der Pflicht, bei wahrgenommenen Regelbrüchen auch Gewalt anzuwenden, um die "Ordnung wiederherzustellen". Auf Grundlage einer pädagogischen Interaktionsdiagnostik
Es zeigte sich schnell, dass der Klient sich selbst in ein Korsett der Regeln und Verbote zu zwängen versuchte, die er niemals einzuhalten vermochte. Sein Selbsthass dafür wurde im Training zunehmend spürbar. Der Trainer brachte seine eigene (milde) Haltung immer wieder mit ein, überlegte mit dem Klienten zusammen, wie man Situationen anders bewerten könnte. Herr D. reagierte zunehmend entlastet auf diese Haltung und fing an, sich kleinere Fehler zu verzeihen. Er war nach und nach immer öfter verunsichert über die eine "richtige" Haltung/Entscheidung/Meinung und dachte angestrengt darüber nach, warum sein geschätzter Trainer eine Situation so völlig anders sehen konnte.
Im Verlauf der letzten Trainingsphase steigerte Herr D. unter anderem seine Fehlertoleranz anderen gegenüber und entwickelte effektive, sozial angemessene Wege, seinem Missfallen Ausdruck zu verleihen. Diese zunehmend differenzierte Haltung strengte Herrn D. zwar mehr an als früher, aber sie entlastete ihn auch, da sich in seinem Alltag auf wundersame Weise sehr viel weniger Regelkonflikte ereigneten, denen er zu begegnen hatte.
Radikalisierung findet durch ein spezifisches Beziehungsangebot statt, das solche Gruppen immer in vergleichbarer Weise anbieten: Autorität, Sinn, Bedeutung, Eindeutigkeit, Struktur und Überlegenheit. Die Distanzierung oder "Deradikalisierung"
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