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Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Evaluation".
Was ist evidenzbasierte Prävention?
Im Zusammenhang mit Prävention begegnet man mitunter dem Zusatz "evidenzbasiert". So setzt die Bundesregierung in ihrem Externer Link: Nationalen Präventionsprogramm gegen Islamistischen Extremismus (NPP) ausdrücklich auf "wissens- und evidenzbasierte Konzepte und Strategien". Evidenzbasiert bedeutet, dass zwischen einer Strategie und den von ihr angestrebten Ergebnissen ein wissenschaftlich belegter Zusammenhang besteht. Wird die Wirkung einer Präventionsstrategie oder -maßnahme hingegen nur vermutet, gilt sie als (noch) nicht evidenzbasiert.
Die Bezeichnung "wissensbasiert" ist hingegen in den Sozial- und Geisteswissenschaften kein feststehender Fachausdruck. Anders als die Bezeichnung "evidenzbasiert" stellt "wissensbasiert" keine bestimmten wissenschaftlichen, erkenntnistheoretischen oder methodischen Bezüge her. Im weitesten Sinne können jegliche Informationen gemeint sein, die in einem fachlichen, wissenschaftlichen oder sonstigen wissensgenerierenden Kontext produziert wurden. Dazu gehören nicht nur empirische Forschung, sondern zum Beispiel auch die Meinungen von Expertinnen und Experten oder theoretische Beiträge.
Die Bezeichnung "evidenzbasiert" bezieht sich auf einen sehr viel konkreteren Teilbereich anwendungsorientierter Forschung mit eigenen Einrichtungen, Fachorganen und einer Entstehungsgeschichte. Evidenzbasierung kommt ursprünglich aus dem Bereich der Medizin. In ihrer ursprünglichen Form steht sie für wissenschaftliche Ergebnisse, die mit der Methode des klinischen beziehungsweise des sozialwissenschaftlichen Experiments gewonnen wurden. Der schottische Mediziner Archie Cochrane formulierte 1972 Vorschläge, um Wirksamkeit und Effizienz im Gesundheitssystem zu erhöhen. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler und Erkenntnistheoretiker Donald T. Campbell prägte kurze Zeit später einen ähnlichen Ansatz für den Bereich der sozialen Programme. Insbesondere in den USA führte die sogenannte "experimentelle Wende" teilweise zu einer übersteigerten Erwartung an Studien mit experimentellem Design (sogenannten randomized control trials, RCTs).
Auch gegenwärtig steht die Analyse von (multikausalen) Ursache-Wirkungs-Beziehungen im Mittelpunkt evidenzbasierter Ansätze. Erkenntnisse, die durch experimentelle Studien gewonnen werden, werden aber mittlerweile nur noch als kleiner, wenn auch wichtiger Teil der gesamten Datengrundlage aus qualitativen und quantitativen Studien betrachtet.
Evidenzbasierung ist heute in vielen Bereichen schon Alltag. In der Gesundheitsvorsorge erwarten Patienten ganz selbstverständlich, dass Ärzte nur solche Behandlungen und Medikamente verschreiben, deren Nutzen für den Patienten nachgewiesen ist. Aber auch viele andere Bereiche wie Bildung, Entwicklungszusammenarbeit, Wirtschaft und Soziales wenden evidenzbasierte Arbeitsmethoden, Technologien und Verfahren an. Kenntnisse über den Zusammenhang zwischen einer Maßnahme und ihrer Wirkung können auch für die Prävention von Islamismus und Extremismus von Interesse sein.
Evidenzbasierte Prävention ist ein Oberbegriff für Strategien und Ansätze, die darauf abzielen, ein soziales Problem (Kriminalität, Extremismus, Armut, Sucht) zu verhindern, und dabei Verfahren anwenden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist.
Prävention ist dabei kein klar umrissenes Arbeitsfeld, sondern umfasst staatliche, zivile und privatrechtliche Akteure aus unterschiedlichen Berufsfeldern und Fachdisziplinen. Die Kriminalprävention umfasst zum Beispiel neben der schulischen Gewaltprävention auch repressive Maßnahmen des Strafrechts, deren ausdrücklicher Zweck es ebenfalls ist, Kriminalität zu verhindern. Analog dazu bezieht sich auch der Begriff der Extremismusprävention auf ein sehr heterogenes Handlungsfeld mit ungenauem Präventionsgegenstand, das auch Rückfallprävention mit einschließt (in Form von Distanzierung, Demobilisierung und Deradikalisierung). Trotz einer gewissen analytischen Unschärfe ist das Konzept des "präventiven Handels" in vielen berufspraktischen Feldern und im Vokabular von politischen Entscheidungsträgern fest verankert.
Serie: Evaluation
Dieser Beitrag ist Teil einer Serie mit dem Themenschwerpunkt Evaluation hier im Infodienst Radikalisierungsprävention. Im Rahmen des Themenschwerpunkts werden verschiedene Perspektiven auf das Thema Evaluation in der Präventionspraxis dargestellt. In den Artikeln geht es um Sinn, Zweck und Herausforderungen von Evaluationen, um verschiedene Arten von Evaluationen und aktuelle – zum Teil gegensätzliche – Positionen zum Thema. Dabei kommen verschiedene Beteiligte zu Wort: sowohl Akteure, die Evaluationen planen und durchführen als auch solche, deren Projekte evaluiert wurden oder werden.
Zu den Beiträgen:
Außerdem zum Thema Evaluation im Infodienst:
Wer profitiert von evidenzbasierter Prävention?
Zu wissen, was gewaltbereiten Extremismus verursacht und welche Gegenmaßnahmen ihn erfolgreich verhindern, ist auf allen Entscheidungsebenen nützlich, angefangen beim lokalen Präventionsprojekt über Landes- und Bundesprogramme bis hin zur Formulierung nationaler und internationaler Präventionsstrategien.
Das beste Angebot vermitteln
Im Umgang mit radikalisierten Islamisten müssen Verantwortliche in kritischen Situationen eine Entscheidung treffen. Es gibt viele verschiedene Hilfsangebote für Personen in unterschiedlichen Stadien der Radikalisierung. Eine solide empirische Basis kann dabei helfen, zu entscheiden, welches Angebot, für welche Person, unter welchen Lebensumständen erwiesenermaßen das geeignetste ist.
Die besten Ansätze ausbauen
Öffentliche Auftraggeber – wie beispielsweise das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) als Geldgeber und Träger des Programms "Demokratie leben!" – müssen angesichts knapper Ressourcen eine Auswahl aus konkurrierenden Förderanträgen für Präventionsprojekte treffen. Eine Entscheidungshilfe kann auch hier sein, wie gut ein Projektantrag das Präventionskonzept wissenschaftlich herleitet und mit selbst erhobenen oder von unabhängigen Stellen bereitgestellten Daten untermauert. Mit anderen Worten: Der Grad der Evidenzbasierung kann ein Kriterium für die Förderung erfolgsversprechender Präventionsansätze sein.
Strategische Entscheidungen
Einfache und schnelle Lösungen zur Prävention von islamistischem Extremismus gibt es nicht. Wie zielgerichtet sich dieses relativ junge Praxisfeld langfristig entwickeln wird, hängt ganz entscheidend von dem Grad seiner Evidenzbasierung ab. Sie erlaubt es, differenzierte Vergleiche zwischen unterschiedlichen Präventionsansätzen zu ziehen: Welche Ansätze entfalten welche Wirkung auf welche Zielgruppe und an welchen Standorten? Damit liefert sie eine Entscheidungsgrundlage auch für langfristige strategische Planung.
Öffentliches Interesse
Evidenzbasierte Extremismusprävention ist im Interesse der Öffentlichkeit, weil sie hilft, Ansätze zu identifizieren, die nachweislich einen spürbaren Unterschied bei der Behandlung von bedrohlichen Formen extremistischer Gewalt ausmachen. Bund und Länder schaffen durch die Implementierung evidenzbasierter Ansätze außerdem eine nachvollziehbare und transparente Entscheidungsgrundlage für die Verwendung öffentlicher Mittel.
Wie funktioniert Evidenzbasierung?
Idealtypisch ist Evidenzbasierung ein Prozess, an dem Forscher/-innen und Praktiker/-innen während des gesamten Verlaufs einer Präventionsmaßnahme beteiligt sind – von der Konzeption über die Ausführung bis hin zu ihrer Evaluierung. Abbildung 1 veranschaulicht diesen prozesshaften Verlauf mit den wechselseitigen Zuständigkeiten und jeweiligen Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Praxis.
Evidenzbasierung erfolgt an zwei Stellen im Projektzyklus: bei der Formulierung einer Programmtheorie (vor der eigentlichen Evaluation) und bei der Überprüfung der Programmpraxis (durch Evaluation). Ein Programm, Ansatz oder Projekt ist auf der Konzeptebene theoretisch evidenzbasiert, wenn es darauf abzielt Einflussfaktoren (Risiko- und Schutzfaktoren) zu verändern, von denen man aus der empirischen Forschung weiß, dass sie in einem ursächlichen Zusammenhang mit Radikalisierung und Extremismus stehen. Eine evidenzbasierte Programmtheorie untermauert also die angenommene Wirkung auf die Zielgruppe mit wissenschaftlichen Belegen.
Prävention ist darüber hinaus auch praktisch evidenzbasiert, wenn Evaluationsstudien zusätzlich belegen, dass die Ausführung der Programmtheorie unter den realen Bedingungen der Programmpraxis auch tatsächlich die gewünschten Einstellungs- oder Verhaltensänderungen bewirkt und wenn überprüft wird, welche nicht intendierten Effekte dabei eventuell auftreten.
Aus der Perspektive der Programmentwickler/-innen beginnt der Prozess mit der Formulierung einer evidenzbasierten Programmtheorie. Dies kann in Rahmen von Konzeptionstagen, Arbeitskreisen, Kommissionen oder anderen Gremien geschehen. Die Programmtheorie macht deutlich, wie nach dem aktuellen Stand der Forschung die eingesetzten Ressourcen und Arbeitsmethoden einen feststellbaren Einfluss auf radikalisierte Personen oder Gruppen ausüben sollen. Eine gute Programmtheorie benennt präzise, auf welche konkreten Ausprägungen von Radikalisierung sie abzielt (zum Beispiel auf der Einstellungs- oder Handlungsebene). Und sie erläutert, durch welche der bekannten Mechanismen sie Radikalisierungsverläufe beeinflussen möchte (zum Beispiel gruppendynamische oder kognitive Mechanismen), und welche Ressourcen, Arbeitsmittel, didaktischen oder therapeutischen Methoden dabei zum Einsatz kommen.
Einige heute in Deutschland existierende Angebote bleiben besonders hinsichtlich ihrer theoretischen Wirksamkeitsannahmen vage und gehen eher implizit davon aus, dass sich die Präventionsarbeit zwangsläufig positiv auf die Zielgruppe auswirken müsse. Manche Angebote zielen auf die offensichtlichen Begleiterscheinungen islamistischer Radikalisierung ab, ohne die dahinterliegenden Gründe zu benennen. Zudem fehlt teilweise eine Erläuterung, warum diese überhaupt ein gesellschaftliches Problem darstellen. Evidenzbasierte Ansätze hingegen behandeln die wissenschaftlich belegten Ursachen und nicht alleine die Symptome von Radikalisierung beziehungsweise von Hinwendung zu extremistischen Ideologien.
Wie lassen sich Forschungserkenntnisse für die Praxis nutzen?
Max Weber definiert Soziologie als "eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will". Die sozialwissenschaftliche Forschung liefert uns also ursächliche Erklärungen zur Entstehung von sozialen Problemen wie dem Extremismus, und damit die wissenschaftlichen Grundlagen zur Entwicklung von Programmtheorien. Die Kriminologie extremistischer Gewalt beispielsweise untersucht ursächliche Faktoren (sogenannte ‚kriminogene‘ und ‚protektive‘ Faktoren), und integriert sie in allgemeine Modelle zur Erklärung von abweichenden Verhalten. Die Grundlagenforschung hat dabei nicht notwendigerweise immer schon die Anwendung ihrer eigenen Forschungsergebnisse zu Zwecken der Prävention im Blick.
Der konkrete Anwendungsbezug ergibt sich meistens erst an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis. Fachleute aus der forschungsorientierten Praxis und/oder anwendungsorientierten Forschung entwickeln ursachenorientierte Ansätze und Programme zur Reduzierung von Kriminalität, wie etwa extremistischer Gewalt. Die Konzeption von Präventionsansätzen ist eine "Wissenschaft für sich", deren Kunst darin besteht, die bekannte Ursachen und Schutzfaktoren zu Zwecken der Prävention gezielt "auszunutzen".
Einflussfaktoren lassen sich unter Laborbedingungen meistens einfacher manipulieren als unter den alltäglichen Bedingungen der Präventionsarbeit vor Ort. Hier sind wissenschaftliche und praktische Expertise gleichermaßen gefragt, um pragmatische Mittel und Wege aufzuzeigen, die bekannten Einflussfaktoren für extremistische Gewalt im Lebensalltag der Menschen zu verändern.
In der nächsten Phase erfolgt eine wissenschaftliche Begleitung der Arbeit vor Ort. Auch hier arbeiten Praktiker und Forscher idealerweise Hand in Hand. Kaum eine Programmtheorie lässt sich ohne Abstriche in die Praxis übertragen. Damit die Maßnahme den programmtheoretischen Erwartungen entsprechend funktionieren kann, müssen ihre wesentlichen Prinzipien umgesetzt und beherzigt werden. Eine formative- oder Prozessevaluation kann hierzu wertvolle Anhaltspunkte liefern, wie zum Beispiel:
Wie gut lässt sich die Programmtheorie in die Praxis umsetzen und wo gibt es Hindernisse?
In welchem Umfang erreicht die Arbeit die Zielgruppe?
Wie stark beeinflusst die Präventionsarbeit die kontextrelevanten Ursachen und Schutzfaktoren?
Eine evidenzbasierte und gut umsetzbare Programmtheorie sollte also nach bestem Wissen einen spürbaren Präventionseffekt haben. Eine wissenschaftliche Begleitung kann diese wohlbegründete Vermutung untersuchen. Wirksamkeitsevaluationen (englisch: impact evaluation) überprüfen, welche – möglicherweise auch schädliche (sogenannte iatrogene) – Wirkung eine Präventionsmaßnahme auf ihre Zielgruppe ausübt.
Wirksamkeit lässt sich statistisch erfassen
Aber woher soll man wissen, ob Prävention etwas erfolgreich verhindert? Wenn sich der Teilnehmer eines sozialen Trainingskurses nicht weiter radikalisiert oder ein Teilnehmer in einem Ausstiegsprogramm nicht rückfällig wird, kann das viele mögliche Gründe haben. Bei einer einzelnen Person kann nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob die Präventionsmaßnahme der ausschlaggebende Punkt war.
Und selbst wenn es dafür belastbare Anhaltspunkte gibt, zum Beispiel in Form von fallbasierten rekonstruierenden Untersuchungen, sagt ein Fall alleine nichts über die Wirksamkeit der Maßnahme als Ganzes aus. Von wirksamer Prävention spricht man in der Regel erst, wenn sich über viele Fälle hinweg wiederkehrende Muster und statistische Regelmäßigkeiten abzeichnen.
Solche Regelmäßigkeiten weisen auf funktionierende Präventionsmechanismen hin. Kausale Mechanismen sind die elementaren und übertragbaren Bestandteile sozialer Programme. Sie stehen im Mittelpunkt des Interesses von wissenschaftlicher Begleitung nach dem Vorbild der Realist Evaluation, die die beiden einflussreichen Sozialwissenschaftler Ray Pawson and Nickolas Tillie entwickelt haben.
Gezielt eingesetzt haben evidenzbasierte Ansätze das Potential, Veränderungen auf der gesellschaftlichen Ebene zu bewirken, was letztendlich immer das Ziel sozialer Programme ist. Programme, die auf der gesellschaftlichen Ebene effektiv sind, stellen wiederum einen lohnenden Untersuchungsgegenstand der akademischen Grundlagenforschung dar. Ein neuer Kreislauf im Prozess evidenzbasierter Präventionsprogramme kann beginnen.
Wie gut ein erfolgreiches Modellprojekt skalierbar und übertragbar ist, hängt aber von vielen weiteren Eigenschaften des Projekts und seinem Kontext ab. Manchmal ist es nicht der spezifische Ansatz, sondern das Engagement talentierter Mitarbeiter, die den Unterschied ausmachen. Arbeitsmethoden und -ansätze müssen insbesondere aber auch dann wirken, wenn sie von durchschnittlich motiviertem und talentiertem Personal durchgeführt werden. Erst dann kann man davon sprechen, dass sie "praxisbewährt" und "praxistauglich" sind.
Metastudien und systematische Übersichtsarbeiten (Systematic Reviews) fassen die Ergebnisse aus einer Reihe einzelner Evaluationen zur Wirksamkeit präventiver Programme zusammen. In solchen Übersichtsstudien zeigt sich, dass einige Programme, die zunächst sinnvoll erscheinen, in der Praxis nicht funktionieren oder sogar schädlich sind. Einen Überblick über den aktuellen Stand der Evaluation für verschiedene Bereiche der Prävention liefern verschiedene Online-Portale (siehe unten, "Instrumente für den Wissenstransfer"). So wird zum Beispiel deutlich, dass sogenannte scared straight-Ansätze Kriminalität verursachen, anstatt sie zu verhindern. Bei diesen Ansätzen werden Jugendliche mit dem harten Gefängnisalltag konfrontiert, um sie von der Begehung von Straftaten abzuschrecken. Das gleiche gilt für Modellversuche, bei denen Jugendliche nach Erwachsenenstrafrecht abgeurteilt werden.
Erwartungen, Herausforderungen und Probleme
Evidenzbasierte Prävention ist kein Allheilmittel zur Lösung aller Probleme im Zusammenhang mit islamistischer Radikalisierung. Sie hilft, die richtigen Gegenmaßnahmen zu finden, aber das erfordert Geduld und ist voraussetzungsreich.
Forschung und Evaluation kann die bestehende Erkenntnislücke von ihren Rändern ausgehend schrittweise schließen: Die sozialen und individuellen Bedingungen, unter denen der islamistische Extremismus in Deutschland entsteht, sind noch nicht ausreichend empirisch erforscht, trotz einiger Fortschritte auf diesem Gebiet. Nur langsam setzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen ein Puzzle zur Erklärung islamistischer Gewalt zusammen.
Auch in Bezug auf Gegenstrategien gibt es Erkenntnisdefizite. Es fehlen belastbare Informationen darüber, welche Ansätze unter welchen Bedingungen für welche Zielgruppen am besten funktionieren. Der Grund für dieses Defizit liegt aus Sicht des Autors nicht darin, dass sich die bestehenden methodologischen und forschungspraktischen Herausforderungen nicht lösen ließen. Es liegt vor allem daran, dass die staatlichen Stellen geeignete Evaluationen mit diesem Erkenntnisinteresse bisher nicht zielgerichtet fordern und fördern.
Stattdessen existiert ein ständig wachsender Flickenteppich von disparaten, nicht vergleichbaren und wenig anschlussfähigen Evaluationen. Es fehlen Strukturen, die Forschungseinrichtungen systematisch in die Lage versetzen, das Praxisfeld in Bezug auf Fragen der Wirksamkeit wissenschaftlich zu begleiteten und zu beraten. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt MAPEX könnte hierfür ein wichtiger Grundstein sein.
Instrumente für den Wissenstransfer
Eine Reihe von Online-Portalen verfolgt das Ziel, Forschungsergebnisse für Politik, Verwaltung und Praxis anschlussfähig zu machen. Sie tragen die wichtigsten Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit sozialer Programme zusammen. International wegweisend ist die Externer Link: Campbell Library. Portale mit Präventionsprogrammen in Deutschland sind die Externer Link: Grüne Liste Prävention des Landespräventionsrates (LPR) Niedersachsen und das Externer Link: Portal für evidenzbasierte Ansätze des Nationalen Zentrums für Kriminalprävention (NZK).* Das europäische Forschungskonsortium IMPACT Europe hat ein Externer Link: Online-Toolkit zur Evidenzbasierung in der Extremismusprävention entwickelt. Seit 2018 stellt das International Center of Excellence for Countering Violent Extremism, Hedayah – das aus einem Zusammenschluss von 29 Ländern und der EU entstanden ist – die Anwendung Externer Link: MASAR für evidenzbasierte Extremismusprävention kostenfrei zur Verfügung.
*Interner Link: Björn Milbradt (2019) weist irrtümlich darauf hin, dass das Portal WESPE Studien "eindimensional“ erfasse, indem experimentelle Designs im Vergleich zu anderen methodischen Zugängen überbewertet würden. Insgesamt liegen der methodischen Bewertung von Evaluationsstudien in dem Portal 9 verschiedene Kriterien zu Grunde, eben gerade um eine einseitige Ausrichtung und Überbewertung von experimentellen Studien zu verhindern. Zur Herleitung und methodischen Begründung des Portals WESPE siehe Armborst & Walsh (2019).
Nicht nur die Produktion, sondern auch der Transfer von Wissen muss in geeigneter Form organisiert sein, damit relevante Informationen in passender Form die Bedarfsträger erreichen. Viele Länder haben daher für den Betrieb evidenzbasierter Prävention eigene Strukturen geschaffen. Ein Beispiel ist das National Institute of Justice (NIJ) des US-amerikanischen Justizministeriums mit dem programmatischen Slogan "Strenghten Science. Advance Justice". In Deutschland fehlen entsprechende Einrichtungen bisher weitgehend.
Eine weitere Herausforderung ist die analytische Unschärfe der Begriffe Radikalisierung und Extremismus. Sie erschwert gleichsam zielgerichtete Prävention und deren Evaluation. Eine einheitliche akademische Definition von Radikalisierung und Extremismus ist allerdings auch in Zukunft nicht zu erwarten. Die Präventionspraxis sollte daher alleine schon aus Gründen der konzeptionellen Klarheit auf eindeutig bestimmbare Ausprägungen von Radikalisierung und Extremismus abzielen, wie beispielsweise auf die Anwendung von Gewalt zu politischen, religiösen oder anderen ideologischen Zwecken oder die strafrechtlich relevante Unterstützung verbotener Vereinigung. Eine klare Fokussierung auf die Ursachen der wirklich problematischen Erscheinungsformen islamistischer Radikalisierung verhindert außerdem, dass staatliche oder staatlich geförderte Präventionsmaßnahmen auf eher unproblematische und jugendtypische Ausprägungen von Radikalisierung abzielen.
Schließlich ist es wichtig, keine überzogenen Erwartungen an evidenzbasierte Ansätze und Wirkungsevaluationen zu knüpfen. Politik und Verwaltung sehen in Evaluation mitunter ein "Mittel gegen den ‚Wildwuchs‘" in der Projektlandschaft. Eine konkrete Forderung des Politikers Carsten Linnemann lautet zum Beispiel: "Es braucht eine gemeinsame Stelle von Bund und Ländern, die sich des gesamten Programm- und Projekt-Wirrwarrs annimmt, die einzelnen Maßnahmen auf Tauglichkeit und Effektivität abklopft und die bisherigen Erfahrungen zusammenführt, vergleicht und auswertet."
Vergleichende Analyse ist ein Qualitätsmerkmal empirischer Evaluation, was aber nicht bedeutet, dass sie dadurch Konkurrenzverhältnisse der Projekte untereinander erzeugt. Vergleichende Evaluation ermöglicht das gegenseitige Lernen aus Stärken und Schwächen verschiedener Ansätze, wodurch sich die Extremismusprävention als Ganzes weiterentwickeln kann.
Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Evaluation".
Mehr zum ThemaWeiterführende Literatur
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White, Howard 2019: The twenty-first century experimenting society: the four waves of the evidence revolution. Externer Link: Palgrave Communications, 5(47).
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