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Åsne Seierstad: Nein, leider nicht. 2016 war, soweit ich weiß, das letzte Mal, dass jemand etwas von ihnen gehört hat. Seitdem sind sie vermisst. Sie könnten getötet worden sein. Natürlich könnten sie auch in einem Flüchtlingslager sein. Es gibt immer noch viele Menschen, darunter Frauen und Kinder, die in Flüchtlingslagern nicht registriert werden. Aber sie könnten auch untergetaucht sein. Der "IS" kontrolliert immer noch einige Landstücke in Syrien und im Irak.
Bevor die beiden Schwestern entschieden haben, nach Syrien zu gehen: Welchen Eindruck hätten sie bei einer oberflächlichen Begegnung gemacht? Zum Beispiel auf ihre Lehrerinnen und Lehrer.
Åsne Seierstad: Das hängt davon ab, wann die Person sie getroffen hätte. Besonders die Ältere war sehr kontaktfreudig, ein lächelnder, fröhlicher Mensch. Die jüngere Schwester war etwas verkrampfter, zurückgezogener, eher eine Einzelgängerin. Aber sie waren – sagen wir: drei Jahre, bevor sie nach Syrien gegangen sind – völlig normale junge Musliminnen, die ab und zu in die Moschee gegangen sind.
Dann wurden sie von einem Koranlehrer, einer islamischen Jugendorganisation und ihren Freunden beeinflusst. Wobei es immer unterschiedliche Faktoren der Radikalisierung gibt. Sie wurden immer feindseliger – gegenüber Fremden, gegenüber norwegischstämmigen Menschen, gegenüber der Gesellschaft, gegenüber ihren Lehrern. Aber sie haben sich immer beteiligt, bis zu dem Tag vor ihrer Abreise. Das jüngere Mädchen besuchte ihre Schule. Die ältere Schwester ging ihrem Teilzeit-Job nach.
Am Ende sind sie allerdings aufgefallen, weil sie den Niqab trugen, immer wenn sie es durften. Daher bemerkten die Leute um sie herum ihre Veränderung.
Auf den ersten Seiten Ihres Buches berichten Sie von dem Tag, an dem die Schwestern Norwegen verlassen. Die Familie ist schockiert und komplett überrascht. Wie konnte das passieren – obwohl Eltern und Geschwister ein scheinbar enges Verhältnis zueinander zu hatten?
Åsne Seierstad: Ich denke, die Eltern wussten nicht, worauf sie achten sollten, und vielleicht haben sie das Leben der Mädchen nicht sehr genau verfolgt. Außerdem erfolgte die Veränderung sehr langsam. Ein weiteres Tuch, ein zusätzliches Stück Stoff nach dem anderen.
Und die Mutter – mit somalischen Wurzeln – beteiligt sich nicht am gesellschaftlichen Leben. Sie spricht kein Norwegisch, ist nie einer Arbeit nachgegangen und hat keine Ausbildung. Sie hatte also keine Möglichkeit, zu überprüfen, was normal ist und was nicht.
Die Eltern haben auch ihre Augen vor der Entwicklung ihrer Töchter verschlossen. Der Vater war viel distanzierter, bevor sie gegangen sind. Danach hat er es zu seinem Lebensziel gemacht, sie zu finden. Aber vorher war er etwas abwesend. Das ist auch ein Grund, warum er wollte, dass das Buch geschrieben wird. Er sagt heute: Wir hatten keine Ahnung. Später hat er gesehen, dass alle Zeichen da waren. Dass die Mädchen dem ABC der Radikalisierung Schritt für Schritt gefolgt sind.
Bei einer Radikalisierung spielen oft Konflikte in der Familie eine Rolle. In diesem Fall gibt es keine offensichtlichen Konflikte. Gibt es dennoch Push-Faktoren in der Familie, welche die Radikalisierung der Schwestern begünstigt haben?
Åsne Seierstad: Diese Mädchen passen nicht ganz in das Bild, weil es keine offensichtlichen Konflikte in der Familie gab. Jedenfalls nicht mehr, als andere Jugendliche mit ihren Eltern haben.
Bei diesen Mädchen war es – denke ich – mehr eine echte und tiefe religiöse Offenbarung. Ähnlich wie bei Jugendlichen, die sich einer Sekte anschließen oder auf andere Art extremistisch werden. Es ist nicht unbedingt etwas Bestimmtes in der Familie. Der Antrieb könnte von den Kindern selbst kommen, die nach etwas suchen – nach Bedeutung. Gibt es noch mehr im Leben?
Als ich mich mit den Mädchen aus Norwegen beschäftigt habe, die nach Syrien gegangen sind, habe ich festgestellt: Darunter waren einige extrem durchsetzungsfähige Mädchen. Die keine Angst hatten, ihren Mund aufzumachen. Die ganz vorne dabei waren, wenn es darum ging, die demokratischen Rechte zu nutzen, welche die norwegische Gesellschaft ihnen bietet, ihre Meinung kundzutun und dafür zu sorgen, dass ihre Standpunkte berücksichtigt werden. Das Paradoxe ist, dass ihnen diese Rechte sofort genommen werden, wenn sie in Syrien ankommen.
Bei den ausgereisten Jungen dagegen hatte die Mehrheit bereits Kontakt mit der Polizei oder war kriminell – so die Daten aus Norwegen. Für Mädchen gilt das meiner Erfahrung nach nicht.
Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass diese Mädchen glauben, das Richtige zu tun. Sie denken, dass sie Gott sehr glücklich machen werden. Also beten sie – und machen es.
Im Buch ist viel von der Organisation Islam Net die Rede. Welche Rolle hat ihre religiöse Community für die Mädchen gespielt?
Åsne Seierstad: In ihrem Fall spielte sie eine große Rolle. Ich glaube, die Mädchen wären nie gegangen, wenn sie nicht das Gefühl gehabt hätten, dass sie Unterstützung haben. Immer und immer wieder von dem Opfer und dem Märtyrertod und von der Romantisierung des Todes zu hören, ob online oder live – das war wichtig.
Welche Maßnahmen der Prävention könnte man aus dem Fall der Schwestern ableiten? Wer oder was könnte helfen?
Åsne Seierstad: Ich denke, wir sollten uns stark auf die Eltern konzentrieren. In diesem Fall handelt es sich um Kinder, die sich bereits in einer späten Phase des Radikalisierungsprozesses befinden. Sie haben keinen Respekt für Norwegen oder einen Lehrer oder Präventionsarbeiter oder das System. Ein System, das sie nicht respektieren und von dem sie glauben, dass es gegen sie ist. Deshalb denke ich, dass in diesem Fall Hilfe aus ihrem engen Umfeld hätte kommen müssen, also von den Eltern. Und auch von Moscheen und muslimischen Organisationen.
Aber früher im Prozess, denke ich, sind alle Institutionen wichtig. Solange die Jugendlichen noch offen dafür sind, kann man fragen: Warum glaubst du, dass bestimmte Muslime besser sind als andere? Oder: Warum glaubst du, dass bestimmte Handlungen eine Sünde sind? Mir erscheint es wichtig zu versuchen, solche Jugendliche zum Nachdenken zu bringen. Deshalb sind auch Aussteiger wichtig, die diesen Gruppen angehört haben. Sie können den Jüngeren erzählen: "Hey, so habe ich auch gedacht."
Was glauben Sie: Wie gut weiß die Öffentlichkeit darüber Bescheid, warum junge Menschen sich extremistischen Gruppen anschließen?
Åsne Seierstad: Mein Buch war 2016 das meistgelesene Buch in Norwegen. Ich glaube, dass es vielen die Augen geöffnet hat. Denn die Schwestern hätten zurückgeholt werden können, wenn früher eingegriffen worden wäre. Sie hätten sich einer anderen Organisation anschließen können, sogar Amnesty International oder Save the Children. Diese Mädchen hatten anfangs nichts Extremes an sich, aber sie haben etwas gebraucht, an das sie glauben können.
Wenn Sie der Öffentlichkeit eine Botschaft mitgeben könnten, das Wichtigste, das sie aus diesem Fall gelernt haben – was würden sie sagen: Wie können wir als Gesellschaft insgesamt mit dem Phänomen der Radikalisierung junger Menschen umgehen?
Åsne Seierstad: Ich würde sagen, dass wir aufeinander aufpassen müssen. Wir müssen die Augen offenhalten, aber nicht wie Polizisten. Das Phänomen geht auch uns selbst etwas an. Wir wissen ja, dass es ein Faktor für Radikalisierung ist, sich wie ein Außenseiter zu fühlen. Also können wir etwas tun, um eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen, und um junge Menschen besser zu involvieren.
Ich will damit nicht sagen, dass die Gesellschaft schuld ist, überhaupt nicht. Aber die Gesellschaft könnte helfen. Wir leben jetzt gemeinsam in diesem Europa, ob es uns gefällt oder nicht. Und egal was wir über Immigranten denken – lasst uns einander gut behandeln und versuchen, aufeinander zu achten.
Vielen Dank!
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