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Kommentar der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus
Aus der Perspektive der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) können die
Dennoch werden wir an dieser Stelle einige Aspekte der Thesen hervorheben, da die damit einhergehenden Annahmen, Konzepte und Methoden guter Praxis unter den Mitgliedern der BAG RelEx aufgrund unterschiedlicher Ziele und Herangehensweisen zum Teil noch diskutiert werden. Zudem fällt in der Praxis eine klare Unterscheidung von Präventions-, Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit oft schwer.
Prinzipien in der Präventions-, Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit
These 1: Vertrauensbildung, Respekt, Verbindlichkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität sind das Nonplusultra in der Präventionsarbeit für zivilgesellschaftliche und behördliche Akteure.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) kann ebenso wie Harald Weilnböck und Milena Uhlmann nur betonen, dass Vertrauensbildung, Respekt, Verbindlichkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität notwendige Voraussetzungen für erfolgreiche Präventionsarbeit in allen drei Bereichen sind (Präventions-, Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit). Nur eine Begegnung auf Augenhöhe eröffnet die Möglichkeit, über persönliche Überzeugungen und Einstellungen zu sprechen.
Um ein Beispiel zu nennen: Ein wichtiger Bestandteil in unterschiedlichen Formaten der Präventionsarbeit ist die Ermöglichung von Perspektivwechseln. Unterschiedliche Perspektiven können von Klientinnen und Klienten oder Teilnehmenden eines Präventionsworkshops nur eingenommen werden, wenn ihre eigene Perspektive ebenfalls Raum erhält und sie nicht belehrt oder vorgeführt werden. Mit menschenfeindlichen Äußerungen seitens der Klientinnen und Klienten in Begegnungssituationen umzugehen, stellt eine besondere Herausforderung für Praktikerinnen und Praktiker der Präventionsarbeit dar, da sie angemessen und mit einer klaren Haltung reagieren müssen, ohne zu belehren oder zu strafen.
These 2: Freiwilligkeit und ein lebensweltlich orientierter Ansatz sind von zentraler Relevanz für die Umsetzbarkeit von Präventionsprogrammen.
Die Freiwilligkeit ist ebenso wie ein lebensweltlich orientierter Ansatz sehr relevant, um die Menschen "dort abzuholen, wo sie stehen". Gleichfalls soll hier aber kein ausdrückliches Plädoyer gegen Zwangskontexte gehalten werden. Erfahrungsgemäß lassen sich nach Aussagen von teilnehmenden Klientinnen und Klienten auch in Zwangs- und Pflichtkontexten positive Wirkungen erzielen. Zum Beispiel, wenn in Schulen nach menschenfeindlichen Vorfällen Jugendliche zu Maßnahmen wie Schulungen, Projekttagen oder Workshops verpflichtet werden und sie sich im Anschluss positiv über die Durchführung und die Ergebnisse äußern. Auch hier ist es sehr wichtig, die unter These 1 genannten Bedingungen zu erfüllen beziehungsweise eine entsprechende Atmosphäre zu schaffen.
These 3: In der Extremismusprävention liegt der Schwerpunkt auf emotionalem und sozialem Lernen, weniger auf kognitivem Lernen.
Der These 3 soll an dieser Stelle teilweise widersprochen werden. Zwar sind emotionales und soziales Lernen in Präventionsmaßnahmen absolut notwendig. Aber ebenso sinnvoll und notwendig ist kognitives Lernen. Vereinfacht gesagt: Wissen kann nie schaden. Zum Beispiel kann Wissen über die Folgen bestimmter Denk- und Handlungsweisen in der (jüngeren) Geschichte bei einer ideologischen Distanzierung hilfreich sein oder eben verhindern, dass sich ein Mensch weiter radikalisiert.
Bereits Adorno schrieb in "Erziehung nach Auschwitz": "Wenn rationale Aufklärung auch – wie die Psychologie genau weiß – nicht geradewegs die unbewussten Mechanismen auflöst, so kräftigt sie wenigstens im Vorbewusstsein gewisse Gegeninstanzen und hilft ein Klima bereiten, das dem Äußersten ungünstig ist." (Adorno 1973 ). Erfahrungsgemäß bietet es sich an, affektive Lehr- und Lernmethoden anzuwenden, um auch den Zugang zum Kognitiven zu eröffnen.
Die Kenntnis von, das Bewusstsein für und der Einbezug von politischen Debatten, Mediendiskursen und des aktuellen gesellschaftlichen Klimas sind für die Präventionsarbeit unabdingbar. Dazu gehört auch das Wissen um mögliche Faktoren, die eine Radikalisierung begünstigen können, wie zum Beispiel soziale Ungleichheit, (antimuslimischer) Rassismus, persönliche Krisen, Erfahrungen des Scheiterns, Ablehnung oder Diskriminierungserfahrungen.
These 5: Narrativ-erzählenden Ansätzen – als Ausdruck von persönlich erlebter Erfahrung – ist zunächst der Vorzug gegenüber argumentativen Ansätzen zu geben.
Der These kann mit Einschränkung zugestimmt werden: Argumentative Ansätze sollten mit narrativ-erzählenden Ansätzen kombiniert werden. Persönliche Erfahrungsschilderungen können bei Zuhörerinnen und Zuhörern authentisch wirken und erhöhen somit die Wahrscheinlichkeit, dass das Erzählte angenommen und verarbeitet wird. Jedoch nehmen Menschen Erzählungen auch in unterschiedlicher Weise auf und es gibt Menschen, die eher argumentativ überzeugt werden möchten. Persönliche Erfahrungen sind notwendigerweise subjektiv und in der Regel zufällige Ereignisse. Es erscheint deshalb als sinnvoll, narrativ-erzählende Ansätze stets auch mit argumentativen Ansätzen zu kombinieren. Selbstverständlich können Argumente polarisieren, was aber auch für narrative Ansätze nicht ausgeschlossen werden kann. Auch hier müssen die in These 1 genannten Voraussetzungen stets gegeben sein.
These 6: Gute Präventionsarbeit lenkt den Blick von Defiziten auf Ressourcen.
Der These 6 ist unbedingt zuzustimmen, weil ressourcenorientierte Herangehensweisen Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten eröffnen und im Gegensatz zur Betonung von Defiziten nicht stigmatisierend und ausgrenzend wirken.
These 8: Gender-Themen haben im Extremismus eine Schlüsselfunktion – und müssen auch in der Prävention vorrangig bearbeitet werden.
Der These kann zugestimmt werden, jedoch sollten andere gesellschafts- und persönlichkeitsstrukturierende Merkmale und Aspekte nicht außer Acht gelassen wurden. Die Genderthematik besitzt eine gewisse Schlüsselfunktion, da Ansprachen von Extremistinnen und Extremisten an den potenziellen Nachwuchs durchaus geschlechtsspezifisch ausgerichtet sind. Jedoch sind Ansprachen auch an den jeweiligen sozialen Hintergrund und das soziale Milieu angepasst. Zudem werden häufig Rassismuserfahrungen bei potenziellen Anhängerinnen und Anhängern in vielen Gesprächen thematisiert, um sie auch damit an die Gruppe zu binden. Interessant wären in diesem Zusammenhang Forschungsergebnisse dazu, welche Themen in welcher spezifischen Form angesprochen werden und sich an Merkmalen wie Gender, Geschlecht, aber auch an ethnisierten Herkunftskontexten, ethnisierten Identitätskonstruktionen oder an sozialen Milieuzugehörigkeiten orientieren. Mit anderen Worten: Andere Aspekte wie etwa Rassismus oder soziale Herkunft dürfen bei der Analyse und schließlich in der Praxis der Prävention nicht aus dem Blick geraten, da diese auch explizit in den Ansprachen auftauchen.
These 9: Präventionsmaßnahmen müssen lokale Strukturen einbeziehen und den Kontext der Durchführung miteinbeziehen sowie auf die Expertise angrenzender Fachbereiche zurückgreifen.
Werden in unterschiedlichen Settings lokale Strukturen einbezogen, können erfahrungsgemäß negative Wirkungen vermieden werden. Insofern kann der These zugestimmt werden. Diese regionalen und lokalen Begebenheiten und Strukturen sollten auch in die Maßnahmen einfließen, sowohl in der Planungsphase als auch in der Durchführungs- sowie Auswertungsphase. Die Zusammenarbeit und Vernetzung einer Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren auf kommunaler und Landesebene – wie Schulen, Jugendhilfeträger, außerschulische Bildungsträger, Sport- und Kulturvereine, Gemeinden oder Polizei – sind wichtig für eine sinnvolle und erfolgsversprechende Präventions- und Distanzierungsarbeit. Zum einen sind die Akteure gleichzeitig Expertinnen und Experten für die Strukturen vor Ort und zum anderen werden erfahrungsgemäß Klientinnen und Klienten besser erreicht, wenn man ihr persönliches Erfahrungs- und Lebensumfeld in Maßnahmen miteinbezieht.
These 11: Nachhaltige (vor allem sekundäre und tertiäre) Prävention lässt sich nur im Rahmen einer direkten, persönlichen (Arbeits-)Beziehung bewirken – Medienprodukte und Internet können hier lediglich unterstützende Elemente darstellen.
Die These 11 stellt ebenso ein sehr wichtiges Prinzip dar. Nachhaltigkeit kann nur durch eine langfristige Begleitung der betroffenen Personen erreicht werden, welche die von Uhlmann und Weilnböck in den Thesen genannten Prinzipien der Präventions-, Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit beachtet.
Prinzipien in der Politik- und Programmgestaltung
These 12: Gute Politik- und Programmgestaltung wird tunlichst nicht auf nur eine Form von gewaltbereitem Extremismus Bezug nehmen, sondern stets zwei oder mehrere einschlägige Phänomenbereiche zusammen im Blick haben.
Phänomenübergreifende Ansätze in der Politik- und Programmgestaltung sind sinnvoll. Gleichzeitig müssen Unterschiede und Spezifika der Phänomenbereiche berücksichtigt werden, und es muss eine sachliche Auseinandersetzung darüber stattfinden, ohne die Präventionsarbeit in verschiedenen Phänomenbereichen gegeneinander auszuspielen oder politisch zu instrumentalisieren.
Eine angemessene, realistische Politik- und Programmgestaltung vermeidet Stigmatisierungen. Hier sollten Überlegungen angestellt werden, ob nicht – statt einer Einteilung in Phänomenbereiche – eine Orientierung an Konzepten, wie zum Beispiel Hasskriminalität, lohnenswert wäre. So könnte etwa die Bekämpfung von Antisemitismus zum Gegenstand von Präventionsarbeit werden, ohne starr einem Phänomenbereich ("Rechts" / "Links" / "Islamistisch") zugeordnet zu werden. Darüber hinaus verhindert die Einteilung und Fokussierung auf extremistische "Ränder der Gesellschaft" häufig, den Antisemitismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit in der sogenannten "Mitte der Gesellschaft" angemessen zu thematisieren.
These 13: Der beständigen Verführung, die Themen von Extremismus und Prävention für parteipolitische Strategien zu missbrauchen, muss nachdrücklich vorgebeugt werden.
Die Bedrohung durch antidemokratische Phänomene muss ernsthaft, sachlich und nachhaltig angegangen werden. Politische Instrumentalisierungen und Stigmatisierungen fördern Radikalisierungsprozesse in der Gesellschaft und tragen nicht dazu bei, die herrschende Polarisierung zu mindern oder gar zu überwinden.
Die Politikerinnen und Politiker, die Mitglieder der demokratischen Parteien und alle an Menschenrechten orientierten Individuen und Gruppen der Gesellschaft müssen sich fragen, warum demokratische Systeme weltweit an Zustimmungswerten verlieren, antidemokratische und nationalistische Tendenzen Auftrieb erhalten und warum Menschenrechte und grundlegende Werte mit Füßen getreten werden.
Die aktuellen Flüchtlingsdebatten, der Umgang mit Rassismus in der Gesellschaft, die Angriffe auf Gender Mainstreaming und auf die Meinungs- und Pressefreiheit – um nur einige Beispiele zu nennen – bedrohen die Demokratie und erschweren Präventionsmaßnahmen.
Die Programmgestaltung muss Möglichkeiten zum Umgang mit diesen Themen finden und zivilgesellschaftliche Träger weiterhin unterstützen und stärken. Dazu gehört auch die Thematisierung gesellschaftlicher Fragen jenseits einer verkürzten Konzentration auf extremistische Phänomene (vgl. These 19: Strategien gegen Radikalisierung in den Extremismus sollten sich nicht nur mit Symptombehandlung befassen).
Politik- und Programmgestaltung müssen auch auf gesellschaftliche Herausforderungen achten, um Phänomene am sogenannten Rand der Gesellschaft besser analysieren und damit zusammenhängende Radikalisierungen verhindern zu können.
Dementsprechend ist auch eine Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen zivilgesellschaftlichen Trägern und behördlichen Akteuren und Institutionen notwendig, unter Berücksichtigung der jeweils anderen Rollen, Aufgaben und Zielstellungen (These 15).
Um das erreichen zu können, ist die Integration von Praktikerinnen und Praktikern der Präventionsarbeit in die Programmgestaltung als überaus sinnvoll zu betrachten (These 16). Gleichzeitig muss es dabei einen Austausch geben (These 17), der Vernetzungen sowohl in den jeweiligen Arbeitsbereichen ermöglicht als auch zwischen unterschiedlichen Akteuren, Praktikerinnen und Praktikern sowie Institutionen. Die derzeitigen Förderprogramme ermöglichen eine Netzwerkbildung, ohne die eine Weiterentwicklung der Strategien, Herangehensweisen und Ziele (These 18) nicht möglich ist. Die nachhaltige und langfristige Förderung dieser Strukturen ist notwendig, um bereits Erreichtes nicht zu verlieren.
Letztendlich müssen in der Auseinandersetzung mit Präventionsmaßnahmen eine angemessene Betrachtung, Einschätzung sowie eine "Fehlerkultur" auf allen Seiten etabliert werden (These 20). Präventionsarbeit hat Möglichkeiten und Grenzen. Entgegen vieler Erwartungen können die Auswirkungen individueller und gesellschaftlicher Faktoren bei Individuen, die sich von der Demokratie abwenden, nicht mit Einzelmaßnahmen und ohne ausreichende Unterstützung durch die Politik- und Programmgestaltung behoben werden. Präventionsarbeit ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und Aufgabe, die von allen Demokratinnen und Demokraten angegangen und verfolgt werden muss.
Kommentar von Kurt Edler
Die
Meine Bewertung gründet sich auf meinen beruflichen Erfahrungen im Bereich der Prävention. Ich habe von 2004-2015 den Hamburger Schulsenator und benachbarte Behördenbereiche in Sachen Extremismusprävention unterstützt und das Netzwerk Prävention und Deradikalisierung am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg (LI-Hamburg) mitaufgebaut. Das beinhaltete die Beurteilung von Veranstaltungen der Lehrerbildung nach den Maßgaben des LI- Hamburg sowie den jahrelangen Austausch mit Akteuren bundesweit. Außerdem habe ich eigene Veranstaltungen in den Bereichen Schule sowie Jugend- und Erwachsenenbildung durchgeführt, manchmal auch Einzelfallbegleitung gemacht.
Im besonderen Maße stimme ich den folgenden Thesen zu:
These 1: Vertrauensbildung, Respekt, Verbindlichkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität sind das Nonplusultra in der Präventionsarbeit.
These 2: Freiwilligkeit und ein lebensweltlich orientierter Ansatz sind von zentraler Relevanz.
These 4: kreative und gestalterische Methoden können ein sehr effektives Element von Präventionsansätzen sein.
These 6: gute Präventionsarbeit lenkt den Blick von Defiziten auf Ressourcen.
These 11: nachhaltige Prävention lässt sich nur im Rahmen einer direkten, persönlichen (Arbeits-)Beziehung bewirken, vor allem im Bereich der sekundären und tertiären Prävention – Medienprodukte und Internet können hier lediglich unterstützende Elemente darstellen.
Auch ich halte die Qualitätskriterien Subjektbezug, Subjektautonomie, mental-emotionale Dimension, Direktkontakt, Lebensweltbezug, Narrativität und Persönlichkeitsstärkung für bedeutsam.
Ganz energisch möchte ich zudem die These 12 unterstützen:
Gute Politik- und Programmgestaltung wird tunlichst nicht auf nur eine Form von gewaltbereitem Extremismus Bezug nehmen, sondern stets zwei oder mehrere einschlägige Phänomenbereiche zusammen im Blick haben.
Meine Erfahrung bei der Beobachtung von Veranstaltungen mit pädagogischen Zielgruppen ist, dass im Plenum sehr rasch Misstrauen aufkommt, wenn ein Referent den Anschein erweckt, aufgrund einer eigenen ideologischen Schlagseite Phänomene auszublenden oder zu verharmlosen.
These 13 unterschlägt jedoch eine Dimension:
Der beständigen Verführung, die Themen von Extremismus und Prävention für parteipolitische Strategien zu missbrauchen, muss nachdrücklich vorgebeugt werden.
Hier möchte ich ergänzen, dass Präventionsarbeit häufig auch selbst mit einer handfesten politischen Intention verbunden ist und mit ihren Inhalten bestimmte Weltbilder zu vermitteln versucht, zumal die meisten Menschen, die in der Prävention tätig sind, aus bestimmten soziokulturellen Milieus kommen.
Rationale Argumentation nicht vernachlässigen
Dagegen halte ich die Relativierung politischer Bildung und rationaler Argumentation, wie in den folgenden Thesen, nicht für sinnvoll, sondern finde sie sehr problematisch:
These 3: In der Extremismusprävention liegt der Schwerpunkt auf emotionalem und sozialem Lernen, weniger auf kognitivem Lernen.
These 5: Narrativ-erzählenden Ansätzen – als Ausdruck von persönlich erlebter Erfahrung – ist zunächst der Vorzug gegenüber argumentativen Ansätzen zu geben.
These 14: Gute Politik- und Programmgestaltung wird sich nicht in erster Linie auf die religiösen beziehungsweise ideologisch-weltanschaulichen Gesichtspunkte beziehen, sondern vielmehr die sozialen, biographischen und psychoaffektiven Charakteristika von gefährdeten oder radikalisierten jungen Menschen in den Vordergrund heben.
Die Gegenüberstellung von einerseits emotional-sozialem und andererseits kognitivem Lernen basiert auf einem dualistischen Lernbegriff, den wir hinter uns lassen sollten. Denn in einem Radikalisierungsprozess werden Weltbilder, Strategien und Haltungen assoziativ oder logisch miteinander verschweißt; jede Radikalisierung schließt eine Welterklärung mit ein.
Eine rein psychologisierende Annäherung kann für das erhebliche Gewicht, das eine Ideologie hat, ignorant machen. Sie entmündigt auch das gefährdete Subjekt, das jedoch seine Verantwortung für die Unterstützung einer menschenfeindlichen Position übernehmen sollte. Es hat Anspruch auf unseren Respekt vor seiner politischen Meinung, so verquast diese auch erscheinen mag.
Es gibt eine sozialpädagogische Tradition des Vorbehalts gegen die Unwirksamkeit einer rationalen politischen Bildung, die sich auf Erfahrungen mit schlechter politischer Bildung gründet. Gute politische Bildung ist jedoch weder emotionslos noch unempathisch. Die rationale Betrachtung von Gefühlen, die kognitive Durchdringung von Hass, Wut, Abscheu, Verachtung ist nichts Schlechtes oder Überflüssiges! Sie lässt sich selbstverständlich auch mit narrativ-erzählenden Ansätzen vereinbaren. Jeder Unterricht, der dem Beutelsbacher Konsens genügt, wird doch dem Anspruch der These 14 gerecht werden, den Gegenstand der Betrachtung auf die Biographie der Lernenden zu beziehen; was sollte sonst das Kriterium der Schülerorientierung bedeuten?
Was fehlt: ehrliche Kritik
Ein Aspekt, der in den Thesen fehlt, ist das Qualitätsmonitoring in unserem gesamten Feld.
Was uns außerdem fehlt, ist ein ehrliches Wort im geschlossenen Raum. Denn wo auf einem offenen Bildungsmarkt verschiedene Anbieter um begrenzte Ressourcen konkurrieren, sind der freimütigen gegenseitigen Kritik an der Qualität der Arbeit enge Grenzen gesetzt. Und das gelingt oft ja nicht einmal einem verbeamteten Lehrerkollegium.
Kommentar der Beratungsstelle Extremismus, Österreich
Für die österreichische Beratungsstelle Extremismus (bOJA) kommentieren Verena Fabris und Fabian Reicher.
Zu These 8: Gender-Themen haben im Extremismus eine Schlüsselfunktion – und müssen auch in der Prävention vorrangig bearbeitet werden.
Nicht alle extremistischen Gruppierungen vertreten frauenfeindliche und homophobe Einstellungen. Während dies im Rechtsextremismus oder islamistisch-extremistischen Ideologien eine entscheidende Rolle spielt, ist es weniger relevant für linksextreme Gruppierungen.
Zu These 10: Kenntnis, Bewusstsein und Einbezug der politischen Debatten und Mediendiskurse sowie der gesellschaftlichen ‚Befindlichkeiten‘ ist ein ebenso wichtiger Teil der Arbeit in dem Handlungsfeld.
Ein intersektionaler Zugang, also die Betrachtung der Wechselwirkungen sozialer Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität oder sexuelle Orientierung, ist in der Prävention unabdingbar. Einem kritischen Diversitätsansatz folgend werden strukturelle Diskriminierungsfaktoren ebenso wie individuelle Diskriminierungserfahrungen in den Blick genommen. Unterschiedliche Diskriminierungsdimensionen überschneiden einander und können nicht hierarchisiert werden. Sie können auch nicht einfach addiert werden, sondern führen zu spezifischen Diskriminierungserfahrungen, etwa als "muslimische Frau" oder als "homosexueller Migrant".
Weiters ist es in der pädagogischen Arbeit wesentlich, nicht nur Ungleichwertigkeitsdenken und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in den Weltbildern der Menschen, mit denen wir arbeiten, kritisch zu hinterfragen und mit ihnen gemeinsam zu bearbeiten. Es ist auch wesentlich, strukturelles Ungleichwertigkeitsdenken und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der ganzen Gesellschaft (beziehungsweise "Dominanzgesellschaft") mit in die pädagogische Arbeit zu nehmen und mit den "Klientinnen und Klienten" gemeinsam zu problematisieren (siehe Andrea Kleebeg-Niepage: "Zur Entstehung von Rechtsextremismus im Jugendalter – oder: Lässt sich richtiges politisches Denken lernen?", 2012 sowie Birgit Rommelsbacher: "Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht", 2006).
Strukturelle Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen zu problematisieren (und nicht den Status quo zu verteidigen) ist auch für die psychische Gesundheit der "Klientinnen und Klienten" von großer Bedeutung, wie eine aktuelle Externer Link: amerikanische Studie zeigt, die im Journal "Child Development" erschienen ist (Erin B. Godfrey, Carlos E. Santos, Esther Burson: "For Better or Worse? System‐Justifying Beliefs in Sixth‐Grade Predict Trajectories of Self‐Esteem and Behavior Across Early Adolescence", 2017). Ansonsten werden Erfolg und besonders Misserfolg individualisiert und ausschließlich auf sich selbst zugeschrieben, ohne gesellschaftliche Strukturen mitzudenken.
Kommentar von Dr. Michael Kiefer
Was ist gute Praxis in der Extremismusprävention und Programmgestaltung? Diese Frage lässt sich nur profund beantworten, wenn der Begriff der Praxis umfassend zur Darstellung gebracht wird. Bereits hier ergeben sich erste Schwierigkeiten. Denn es ist keinesfalls verbindlich festgelegt, wo präventive Praxis beginnt und wo sie aufhört.
In Deutschland wird die Praxis der Radikalisierungsprävention häufig in einer Trias abgebildet, die sich von der universellen über die selektive bis zur indizierten Prävention erstreckt. Unterscheidungsmerkmal ist hierbei eine mehr oder weniger ausgeprägte Zielgruppenspezifik. Während die universelle Prävention sich an alle richtet und sich im Wesentlichen als ein Empowerment begreift, richtet sich die selektive und indizierte Prävention an Gruppen oder Individuen, die im ersten Fall Gefährdungsmerkmale aufweisen und im zweiten Fall manifeste Problemlagen erkennen lassen. Geht man von dieser Trias aus, zeigt sich zunächst in der universellen Prävention eine Abgrenzungsproblematik. Denn nahezu alles, was in Jungendhilfe und Schule getan wird, kann als präventive Maßnahme deklariert werden.
So kann zum Beispiel ein außerschulisches Sportangebot für Jugendliche als lediglich gesundheitsfördernde und Spaß bereitende Ertüchtigung betrachtet werden. Möglich sind aber auch präventive Motive, die zum Beispiel auf eine Verbesserung des Sozialverhaltens in werteplural orientierten Gruppen zielen. Abgrenzungsprobleme stellen sich ferner am anderen Ende der Trias. Hier findet sich das Feld der Deradikalisierung. Die Praxis in diesem Handlungsfeld umfasst unter anderem Interventionen, die Klienten mit manifester Radikalisierung betreffen. Ein Klassiker ist hier die Resozialisierungsarbeit mit ehemaligen Inhaftierten. In der fachlichen Diskussion gibt es derzeit keine Einigkeit darüber, ob die Deradikalisierungsarbeit noch unter dem Begriff der Prävention firmieren kann.
Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass der Begriff "Praxis" im Kontext der Radikalisierungsprävention an den Rändern erhebliche Unschärfen aufweist. Erschwerend hinzu kommen die Bandbreite der Handlungsfelder und die Pluralität der professionellen Akteure. Diese reicht von ehrenamtlich tätigen Akteuren in den Sportvereinen bis hin zu Deradikalisierungsspezialisten im Verfassungsschutz. Angesichts dieser Sachlage ist es kaum möglich, von "der" guten Praxis in einem monolithischen Sinne zu sprechen.
In der Präventionsarbeit gelten Grundprinzipien wie in anderen Bereichen
Die Autorin und der Autor der Thesen verfügen auf der Grundlage ihrer langjährigen beruflichen Praxis über ein hohes Maß an Sachkompetenz und Überblick, und es ist daher nicht verwunderlich, dass die Thesen überwiegend wohl durchdachte und pointiert formulierte Prinzipien der Extremismusprävention umfassen.
Einigen Prinzipien kann man vorbehaltlos zustimmen. So heißt es in der ersten These: "Vertrauensbildung, Respekt, Verbindlichkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität sind das Nonplusultra in der Präventionsarbeit für zivilgesellschaftliche und behördliche Akteure." Wer würde hier widersprechen? Präventionsakteure, die diese Merkmale nicht aufweisen, werden junge Menschen mit Sicherheit nicht erreichen können. Diese Prinzipien gelten übrigens nicht nur in der Extremismusprävention. Sie sind vielmehr in der gesamten sozialarbeiterischen Praxis gültig.
Uneingeschränkten Zuspruch findet auch die dritte These, die darlegt, dass der Schwerpunkt in der Extremismusprävention auf emotionalem und sozialem Lernen und weniger auf kognitivem Lernen liegen sollte. Gerade hier geht es viel um Befindlichkeiten junger Menschen wie Angst, Diskriminierungserfahrungen, Traumata, Gewalterfahrungen usw., die leider in Schule und Jugendhilfe häufig nicht ausreichend Berücksichtigung finden.
Ebenfalls Zustimmung findet die sechste These: "Gute Präventionsarbeit lenkt den Blick von Defiziten auf Ressourcen." Diesen Leitsatz kann man nicht oft genug wiederholen. Wer Jugendliche als Problemträger anspricht, verstärkt Frust und schürt die Furcht vor weiterem Scheitern. Auch hier kann konstatiert werden, dass große Bereiche der Jugendhilfe schon seit geraumer Zeit Ressourcenorientierung als eine Maxime pädagogischen Handelns betrachten.
Freiwilligkeit: Wünschenswert, aber nicht immer praktikabel
Durchaus kritisch zu betrachten ist die zweite These. Hier heißt es: "Freiwilligkeit und ein lebensweltlich orientierter Ansatz sind von zentraler Relevanz für die Umsetzbarkeit von Präventionsprogrammen." Diese These greift meines Erachtens zu kurz. Ein Blick in die pädagogische Praxis in Schule und Jugendhilfe zeigt, dass nicht in allen Handlungsbereichen für Klienten vollumfänglich Freiwilligkeit gegeben ist. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Schüler mit antisemitischen Äußerungen im Unterricht aufgefallen ist und anschließend vom Schulleiter zum Schulsozialarbeiter geschickt wird. Sofern der Schüler weitere Sanktionen vermeiden will, muss er an diesem Gespräch teilnehmen. Ein noch eindeutigerer Zwangskontext besteht, wenn Jugendliche aufgrund gerichtlicher Auflagen an Beratungsgesprächen teilnehmen müssen.
Derartige Situationen, die durch ein Auftragsdreieck (Richter, Berater, Klient oder Schulleiter, Berater, Klient) gekennzeichnet sind, gehören ohne jede Frage zum pädagogischen Alltag. Dies gilt auch für weite Bereiche der sekundären Extremismusprävention. Klienten kommen in solchen Situationen in der Regel nicht freiwillig. Die hohe Kunst des Beratens besteht darin, den jugendlichen Beratungsnehmenden zu motivieren, einen Auftrag zu formulieren. Die Auftragsbeziehung kann in Anlehnung an Conen und Cecchin
Reguläre Strukturen müssen gestärkt werden
Am Schluss soll noch kurz benannt werden, was in diesen Thesen fehlt. Die Trias der Radikalisierungsprävention (primär, sekundär und tertiär) entwickelt sich immer mehr zu einem gänzlich eigenständigen Sonderbereich zivilgesellschaftlichen Handelns. Der Regelbereich kommt nicht oder nur unzureichend vor. Genau dies ist zu kritisieren.
Will man es überspitzt formulieren, ist zwischenzeitlich eine Redundanzstruktur zu den regulären Hilfestrukturen entstanden, zu denen insbesondere die Jugendhilfe und die Schule zu zählen sind. Allerorten gibt es nun Projekte und Maßnahmen, in denen sich mit Radikalisierung und Radikalisierten befasst wird. Leider gibt es in diesem Bereich oftmals keine Standards, die zum Beispiel Qualifikationsmerkmale für die Akteure, ausgewiesene Methoden und die Beachtung der gültigen Bestimmungen des SGB VIII - hier ist insbesondere die Kindeswohlgefährdung zu nennen - festschreiben. Daher kann es mitunter vorkommen, dass Berater beraten, die das Beraten nicht erlernt haben. Oder man schickt Theologen ins Feld, die mit religiösen Botschaften Fehlentwicklungen korrigieren sollen, die vielleicht gar nicht durch Religion verursacht wurden.
Wer eine wirksame und nachhaltige Prävention möchte, muss vor allem in der Lebenswelt der Menschen präsent sein, die Gefahr laufen, sich zu radikalisieren oder bereits radikalisiert sind. Wichtig sind daher vor allem die Menschen, die einen alltäglichen Umgang mit den zumeist jungen Schützlingen pflegen. Das sind auf der Mikroebene die Eltern, Geschwister, Peers und auf der Mesoebene Lehrkräfte, Sozialarbeiterinnen, Trainer usw. Sie sind Teil des Alltags und damit sind sie wirksam, wenn es darum geht Wertschätzung, Orientierung und Reflektion zu vermitteln.
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