Bitte beachten Sie: Dieser Beitrag ist älter als fünf Jahre. Forschung, Fachdebatte oder Praxisansätze haben sich möglicherweise in der Zwischenzeit weiterentwickelt.
Vom "belgischen Aleppo" zum Vorbild: Vilvoorde
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2013 galt die belgische Stadt Vilvoorde vor den Toren Brüssels als Dschihadistenhochburg. Mittlerweile ist der Auszug der Syrienkämpfer gestoppt, und heute sehen viele die Kleinstadt als Vorbild bei der Radikalisierungsprävention. Was ist passiert? Ein Gespräch mit Bürgermeister Hans Bonte und Jessika Soors, kommunale Beauftragte für Deradikalisierung.
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Glaubt man den Medien, war Ihre Stadt vor einiger Zeit ein Salafistenbollwerk. Wie groß war und ist das Ausmaß der Radikalisierung?
Jessika Soors: Was die Frage der Syrien-Kämpfer betrifft, so reden wir von 28 Personen bei insgesamt 43.000 Einwohnern. Leider macht uns das bis heute zu einer der Städte mit den weltweit höchsten Quoten. Glücklicherweise gab es seit Mai 2014 keine Ausreisen nach Syrien mehr. Doch das Problem der Radikalisierung ist viel größer: Noch immer stehen 33 Menschen aus Vilvoorde auf der Liste des OCAD ("Organ zur Koordinierung und Analyse der Bedrohung". Das OCAD entscheidet auch über die jeweils gültige Terrorwarnstufe in Belgien. T.M.) . Darüber hinaus haben wir 131 weitere Personen im Blick, weil wir Hinweise auf eine mögliche Radikalisierung haben. Wir führen sie auf einer internen Liste. Wir setzen lieber auf frühe Prävention statt darauf zu warten, dass jemand nach Syrien aufbricht.
Hans Bonte: Früher wurden wir von höchsten europäischen Instanzen als die Stadt mit der größten Dschihadisten-Konzentration dargestellt. Der Eindruck stimmt sicher in dem Sinn, dass zwischen 2012 und Mai 2014 insgesamt 28 junge Menschen ausgereist sind, vor allem in die Region Aleppo. In einer relativ kleinen Stadt sorgt das für eine Schockwelle, für Unruhe und Angst.
Das Gute ist, dass es viel früher als in anderen Städten und Ländern zu einem Stopp dieses Exodus kam. Das kann Zufall sein oder an unseren Anstrengungen liegen, oder beides. Das ändert aber nichts daran, dass wir konsequent weiterarbeiten müssen. Denn die Unruhe und die Tendenzen zur Radikalisierung gibt es ja weiterhin. Vor allem nach den Anschlägen vom 22. März 2016 (auf den Brüsseler Flughafen und die U-Bahn-Station Maalbeek in der Innenstadt, Anm. d. Red.), die Vilvoorde besonders geschockt haben, weil man hier so nah dran ist.
Wie ist die Lage heute?
Bonte: Der Konflikt in Irak und Syrien hat sich verändert, und damit offenbar auch die Strategie des IS. Er will nicht mehr nur rekrutieren, sondern vielmehr in westlichen Ländern Angst erzeugen. Darum müssen wir viel alarmierter sein und nicht nur auf Menschen achten, die ins Kriegsgebiet aufbrechen wollen. Wir müssen auch ein Auge haben auf diejenigen Menschen, die anfällig sind für die Botschaft der Dschihadisten, dass sie auch durch Anschläge in ihren Herkunftsländern eine wichtige Rolle spielen können. Ich denke, dass die Aufgabe damit schwerer wird.
Soors: Andererseits haben wir in den letzten Jahren enorme Anstrengungen unternommen bei der Sensibilisierung der Gesellschaft, beim Ausbilden von Hilfsdiensten oder Jugendarbeitern. Es ging darum, Wunden zu heilen, nach all den Ausreisen aus Vilvoorde nach Syrien. Und es ging darum, dass Menschen sich mit ihrer Expertise an der Bekämpfung der Problematik beteiligen. In den letzten Jahren hat sich ein Netz aus engagierten Bürgern und Fachleuten gebildet. Die gesellschaftliche Mobilisierung ist viel größer geworden.
Gab es in Vilvoorde einen "Startschuss", einen konkreten Anlass, um etwas an der Situation zu ändern?
Bonte: Auf persönlicher Ebene war für mich jede Konfrontation mit einer Ausreise nach Syrien ein Auslöser. Die Eltern, die voller Trauer und Verzweiflung herkommen und um Unterstützung dafür bitten, ihre Söhne zurückzubekommen. Auf rationaler Ebene war es die Tatsache, dass der Leiter der EU-Justizbehörde Eurojust auf einer Pressekonferenz sagte, Vilvoorde habe ein gigantisches Problem. Für mich war das der Auslöser, dieses Thema anzupacken und mit voller Offenheit die Mithilfe der ganzen Gesellschaft zu suchen. Wobei ich in diesem Moment auch fast das Dach vom Bahnhof herunterfluchte, weil meiner Stadt auf diese Weise ein solcher Stempel aufgedrückt wurde.
Soors: Ich fing hier 2013 als Beauftragte für Deradikalisierung an. Als ich noch voll damit beschäftigt war, alles kennenzulernen, brach eine Gruppe von drei Personen mit dem Auto nach Syrien auf. Das hat auf mich großen Eindruck gemacht, damals kam das Ganze sehr nah ran und wurde plötzlich sehr konkret.
Bonte: Frau Soors begann, als die Problematik sehr akut war, zu einer Zeit, als plötzlich viele nach Syrien gingen.
War Vilvoorde ein Pionier damit, speziell jemanden für dieses Problem einzustellen?
Bonte: Wir waren auf jeden Fall unter den ersten, die dieses Tabu durchbrachen. Als eine der ersten Städte haben wir unseren Ansatz professionalisiert, indem wir Mitarbeiter von ihren Tätigkeiten freistellten, um sich dieser Aufgabe zu widmen. Und wir waren sicher die erste Stadt in Belgien, die im Gemeinderat einen umfassenden Plan gegen Radikalisierung präsentierte, um so die nötige politische Unterstützung zu erhalten.
Wie viele Mitarbeiter sind konkret mit der Problematik beschäftigt?
Soors: Offiziell gibt es dafür dreieinviertel Stellen, meine eingeschlossen.
Bonte: Diese dreieinviertel Arbeitskräfte sind direkt bei der Stadt angestellt. Jessika Soors ist für die Koordination zuständig.
Soors: Daneben haben wir noch Kooperationsabkommen mit zwei weiteren Vollzeitmitarbeitern, die nicht bei der Stadt Vilvoorde arbeiten. Außerdem gibt es bei einer Partnerorganisation noch einen zusätzlichen Vollzeitmitarbeiter. So können wir uns individuellen Themenbereichen widmen. Insgesamt kommen wir damit auf 6,25 Stellen.
Und welche anderen Instanzen sind beteiligt?
Bonte: Es gibt auch innerhalb der Polizei eine spezielle Einheit, deren acht Mitglieder in Vollzeit an dem Themenkomplex arbeiten. Außerdem arbeiten wir mit Sicherheitsdiensten, dem belgischen Nachrichtendienst Staatssicherheit („Veiligheid van de Staat oder Staatsveiligheid", Anm. d. Red.), OCAD und der Justiz zusammen. Viel wichtiger sind allerdings die Kontakte zu Menschen und Organisationen aus der Zivilgesellschaft, also zum Beispiel Schulen, Hilfsdiensten, Jugendarbeit und Sportvereinen, zu Moscheen und anderen islamischen Vereinigungen.
Welche Rolle spielt die muslimische Bevölkerung von Vilvoorde in diesem Prozess?
Bonte: Eine meiner Überzeugungen ist, dass der aktive Einsatz und die Motivation der muslimischen Gemeinschaft vor Ort essentiell sind. Und die zweite: Hier in dieser Stadt – und ich vermute, dass es anderswo nicht anders ist – ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit sehr groß. Nur muss man eben auch die Möglichkeiten dafür bereitstellen. Man muss Plattformen schaffen, Offenheit und Respekt zeigen. In Vilvoorde konnten wir Multiplikatoren gewinnen wie den Moscheevorsitzenden, den Imam oder Arabisch-Lehrer. Informationsaustausch ist für uns sehr wichtig. Dafür brauchen wir sehr gute Kontakte und vertrauensvolle Beziehungen zu betroffenen Familien.
Die formellen Kontakte laufen zum Teil auch über unsere interreligiöse Plattform, bei der Vertreter aller Religionsgemeinschaften beteiligt sind. Darüber hinaus gibt es monatliche Treffen mit dem Vorsitzenden der Moscheegemeinde und sehr häufig informelle Kontakte mit anderen Personen aus der Gemeinde.
Wie sieht es denn inhaltlich aus, was kennzeichnet den Vilvoorder Ansatz?
Soors: Es gibt einen allgemeinen "integrierten Politikplan", der beide Ebenen unserer Arbeit aufgreift. Da ist einerseits die Ebene der Prävention mit allen Aktivitäten, um Radikalisierung zu verhindern. Hierunter verstehen wir beispielsweise Trainings, Aktivitäten für Jugendliche oder Broschüren für Schulen. Die andere Ebene ist die "therapeutische", wo es um individuelle Probleme und Themen geht. So widmen wir uns zum Beispiel Familien, aus denen jemand nach Syrien ausgereist ist, Personen, deren Radikalisierung zu befürchten ist oder Rückkehrer, die bereit für einen Reintegrationsprozess sind. Entscheidend ist für uns hier der Begriff der "individuellen Maßarbeit", denn jeder Fall ist anders.
Was bedeutet das konkret?
Bonte: Als Basis dient die Feststellung, dass jeder, der weggeht, jeder Radikalisierte und jeder Rückkehrer, individuell zu betrachten ist. Jede Motivation nach Syrien zu gehen ist unterschiedlich, jede Rekrutierung auch. Darum gehen wir immer vom gesamten Kontext und den Personen im Umfeld, den Angehörigen, aus. Dieser Ansatz ist sehr mühsam und arbeitsintensiv. Fall für Fall wird untersucht: Welcher Antrieb und welche Motivation liegen vor, welche Rolle spielt der Freundeskreis, wie sieht die Vorgeschichte aus? Im nächsten Schritt: Was kann dem entgegengesetzt werden? Wer kann dabei eine Rolle spielen? Und was für einen Zugang gibt es überhaupt zu dem Betroffenen? Dafür braucht man Menschen, die zusammenarbeiten wollen, und die nah am Betroffenen sind.
Wie werden diese Prozesse gesteuert? Wie funktioniert die Umsetzung im Detail?
Soors: Wir haben das sogenannte LIVC, das steht für "Lokale Integrale Veiligheids Cel" (Kommunaler gemeinsamer Sicherheitsausschuss, T.M.). Hierbei geht es vor allem um den regelmäßigen Austausch zwischen Bürgermeister, Polizeichef und dem Leiter der speziellen polizeilichen Verwaltungseinheit. Ich selbst bin also auch dabei sowie, je nach Agenda, andere relevante Personen. Auf dieser strategischen Ebene besprechen wir Zahlen und Tendenzen sowie Probleme, die unsere Arbeit in der Praxis erschweren. Auch sehr schwierige Einzelfälle werden thematisiert. Das LIVC kommt mindestens einmal im Monat zusammen.
Daneben arbeiten wir mit sogenannten "Partner-Tischen". Hier finden die eigentlichen Fallbesprechungen statt – auch das mindestens monatlich. Das geschieht getrennt nach Minderjährigen und Volljährigen, wobei es Überschneidungen geben kann, wenn zum Beispiel zwei Brüder betroffen sind, von denen einer minder-und der andere volljährig ist. Dort werden konkrete Absprachen getroffen: Wer geht diese Woche zum Hausbesuch? Wer legt Absprachen fest bei dieser oder jener Instanz? Wer begleitet eine Person dorthin? Auch neue Fälle werden hier besprochen. Zur Unterstützung dieser Struktur gibt es einen kontinuierlichen Austausch, face to face, telefonisch, oder per SMS, parallel zu allen anderen Aufgaben. Daneben gibt es noch einen wöchentlichen Austausch mit den Mitarbeitern, die zu Hausbesuchen gehen, und zweiwöchentlich mit den anderen Begleitern.
Von welchem Verständnis von Radikalisierung gehen Sie aus?
Bonte: Die Definition von Radikalismus variiert. Entscheidend ist immer die Frage, ob die junge Menschen bereit sind, Gewalt gegen Unschuldige anzuwenden um der eigenen Überzeugung nachzustreben. Alarmiert sind wir, wenn sich jemand isoliert, jahrelange Beziehungen mit der Familie und vor allem mit Freunden abbricht.
Soors: Radikalisierung ist ein Prozess. Das bedeutet, dass wir manchmal in der Praxis viel stärker beunruhigt sind über jemanden, der derartige Formen von Isolierung zeigt, als wenn jemand mal etwas Heftiges sagt. Wie die Ankündigung gegenüber der Lehrerein, nach Syrien zu gehen, wenn man sein Examen nicht besteht. Das kann auch ein 16-jähriger Sprücheklopfer sein, der aber ansonsten viel weniger Zeichen von Radikalisierung aufweist als jemand, der schon in einem Prozess des Bruchs mit der Gesellschaft ist.
Gibt es ein Monitoring? Evaluieren Sie Ihre Arbeitsprozesse und deren Ergebnisse?
Soors: Das beginnt bereits damit, dass wir uns am Anfang deutliche Ziele setzen. Dies ist die einzige Basis, auf der sich evaluieren lässt. Wenn also ein neuer Fall auf den Partner-Tisch kommt, brauchen wir im ersten Schritt ein möglichst deutliches Bild der Situation. Auf dieser Basis wägen wir Ziele und Wege ab. In der Praxis sind das Prozesse eines sehr langen Atems, an jemandem dranzubleiben und sein Vertrauen zu gewinnen.
Bonte: Jährliche Reports gibt es nicht. Schwierig ist auch, dass es keine allgemeine Maßeinheit für Radikalisierung gibt. Was wir aber tun: Wir führen ein gründliches Monitoring durch im Sinn von häufigen Beratungen. Daran beteiligt sind unsere Mitarbeiter und Vertreter der höheren Sicherheitsdienste, also die föderale Polizei und OCAD.
Diesen Instanzen müssen wir ohnehin regelmäßig über unsere Fälle berichten. Das geschieht im Rahmen von monatlichen Besprechungen, bei denen auch der belgische Nachrichtendienst anwesend ist. Zurzeit bereiten wir eine Aktualisierung unseres Aktionsplans vor. Wir werden diese neue Version wieder dem Gemeinderat vorlegen. In Rahmen dieser Aktualisierung wird es auch eine Evaluierung unserer bisherigen Arbeit im Abgleich mit dem ursprünglichen Plan geben.
Wenn wir das einmal durchspielen: Was hat in Vilvoorde gut funktioniert, und was eher nicht? Bonte: Eine große Schwierigkeit bleibt der Informationsaustausch. Der Austausch mit den Justizbehörden ist dramatisch schlecht. Dazu kommt unsere Lage am Rand der Hauptstadt. Auch da ist die Zusammenarbeit problematisch. Wir haben sehr stark den Eindruck, dass einige Akteure in der Hauptstadt ihre Verantwortung einfach nicht wahrnehmen. Das ist ein unglaublich schwieriger Punkt, weil es soziologisch eine sehr große Schnittmenge gibt zwischen Vilvoorde und der Hauptstadt, mit Freundschaften, Familienverbänden, mit einer Dynamik von Umziehen und Zurückkommen, Schule hier und Wohnen in Brüssel oder umgekehrt. Auf Deutschland übertragen, hieße das: Würde man dieses Problem etwa in Potsdam sehr konsequent angehen, aber in Berlin nicht, hätte man in puncto Sicherheit auch wenig getan.
Und womit sind Sie zufrieden?
Bonte: Die Thematik gehört zu einem Politikfeld, das einen niemals wirklich zufrieden stellen kann. Aber allen Problemen zum Trotz habe ich doch das Gefühl, dass der Graben zwischen der Verwaltung und entsprechenden migrantischen Gruppen in der Gesellschaft kleiner geworden ist. Das ist eine Grundbedingung, um irgendwann bei der Prävention weiter zu kommen.
Soors: Bis auf mich haben alle Mitarbeiter bei den Deradikalisierungsprojekten der Stadt einen Migrationshintergrund. Das zeigt, dass es viel Engagement gibt bei Menschen zum Beispiel aus der marokkanischen Gemeinschaft, aus der auch die meisten Syrienkämpfer kamen. Und auch, dass die Stadt in diesem Bereich eine Form von Politik macht, mit der diese Menschen sich identifizieren können.
Was würden Sie anderen Kommunen raten, die sich Ihre Arbeit als Beispiel nehmen?
Bonte: Die Essenz ist: Es darf keine Tabus geben, egal wie kontrovers das Problem ist. Zweitens muss man das Gespräch mit allen Akteuren der Gesellschaft suchen. Und drittens: Suchen Sie die konstruktive Zusammenarbeit mit Ihrer muslimischen Gemeinschaft. Ich denke, dass man mit diesen drei Ratschlägen schon sehr weit kommt.
Sehen Sie denn Vilvoorde eigentlich als Vorbild, womöglich auch international?
Bonte: An der Frequenz von Einladungen und Interviews stelle ich fest, dass andere Städte und Gemeinden das so zu sehen scheinen. Ich verwehre mich ein bisschen gegen diese Rolle, aber ich sehe auch die Verantwortung, dass eine Stadt wie Vilvoorde Zeugnis ablegen muss über ihren Ansatz. Ich bin mir sehr bewusst, dass es etwas ganz Anderes ist, dieses Problem in Vilvoorde anzupacken als in Paris. Was das angeht, bin ich in der leichteren Position. Ich habe eine kleine Gemeinschaft mit guten Verbindungen in alle Viertel. Und umgekehrt haben wir eine repräsentative politische Verwaltung, und damit meine ich ¬– und das ist unser Segen – dass sich auch Menschen aus den Migrantengemeinschaften im Rathaus engagieren. Vilvoorde kann kein Role Model sein für Paris. Trotzdem kann auch Paris etwas von unserem Ansatz lernen ¬- nur muss der eben an den jeweiligen Kontext angepasst werden.
Wie hoch sind die Kosten für diese Form der Radikalisierungsprävention? Wie finanziert eine so kleine Gemeinde wie Vilvoorde ein solch komplexes Vorgehen? Gibt es offizielle Unterstützung, regional, national oder international?
Bonte: Projektweise werden wir zum Teil von der Region Flandern finanziert und von der föderalen belgischen Regierung. Letztere kommt auch für die personelle Aufstockung auf mit einem zusätzlichen Budget für die Stelle von Jessika Soors. Die Stadt leistet weitere Anstrengungen, indem sie die Aufgaben von bestehenden Mitarbeitern anpasst, zum Beispiel im Präventionsdienst, im Integrationsdienst und bei der Polizei.
Soors: Europäische Unterstützung gibt es inhaltlich, im Sinne von Netzwerken, die uns gerne miteinbeziehen wollen.
Bonte: Es gibt großes Interesse an unserem Ansatz, zum Beispiel von der Europäischen Kommission. Ich sitze in einer Expertengruppe mit einem EU-Kommissar, Jessika gehört einigen europäischen Gruppen an. Aber finanziell gibt es von dort keine Unterstützung.
Was unternimmt man in Vilvoorde langfristig? Wie kann man zukünftig Radikalisierung verhindern?
Bonte: Ich denke, dass uns diese Problematik noch lange beschäftigen wird. Die wahre Prävention wird immer darin bestehen, dafür zu sorgen, dass ein jeder sich als Teil der Gesellschaft angenommen fühlt und auch seinen Kummer und seine Frustrationen ausdrücken kann. Und zwar auf eine Art, die von der Gesellschaft akzeptiert wird. Wichtig ist demnach, Minderheiten miteinzubeziehen und Diskriminierung sehr engagiert anzupacken. Ich sehe darin eine gigantische Herausforderung, vor allem in einer Gesellschaft, die sich zunehmend polarisiert.
Auf kommunaler Ebene müssen wir am Zugehörigkeitsbewusstsein arbeiten und alle Menschen einbeziehen. Gerade solche, die zu weit entfernt stehen vom gesellschaftlichen Geschehen, die neu sind in der Stadt oder ausländischer Herkunft. Daneben gibt es auch objektive Herausforderungen wie Beschäftigungschancen, die strukturell immer noch ungerecht sind für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Ich denke, dass Integrationspolitik wieder absolute Priorität haben muss.
Es gibt sehr, sehr viel zu tun, aber alles beginnt und endet für mich in dem Bemühen, dafür zu sorgen, dass sich Menschen zu Hause fühlen können. Wenn das gelingt, bin ich davon überzeugt, dass junge Menschen nicht mehr in einem sinnlosen Konflikt sterben wollen, weil sie glauben, dass sie erst damit in der Gesellschaft eine Bedeutung erlangen.
Das Gespräch führte Tobias Müller.
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Jessika Soors war von 2013 bis 2019 kommunale Beauftragte für Deradikalisierung der belgischen Stadt Vilvoorde.
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