Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Frankreich: Welche Konzepte helfen gegen den Dschihadismus? | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

Radikalisierungsprävention Islamismus Nach Berufsgruppen Schule & pädagogische Praxis Politische Bildung Jugendarbeit & Soziale Arbeit Wissenschaft & Forschung Sicherheitsbehörden & Justiz Verwaltung & Politik Beratung & Ausstieg Kinder- & Jugendhilfe Journalismus & Medien Hintergrund-Beiträge Grundlagen: Begriffe & Konzepte Islamismus, Salafismus, Dschihadismus Salafismus – was ist das überhaupt? "Politischer Islam" Die Begriffe Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus Zum Konzept der Prävention Was ist antimuslimischer Rassismus? Debatte: Politische Bildung & Primärprävention Islamismus: Gruppierungen, Ideologie & Propaganda Zahlen zur islamistischen Szene in Deutschland Die salafistische Szene in Deutschland "Legalistischer Islamismus" als Herausforderung für die Prävention Die Hizb ut-Tahrir in Deutschland Die Furkan-Gemeinschaft Mädchen und Frauen im Salafismus Antisemitische Narrative in deutsch-islamistischen Milieus Antimuslimischer Rassismus als islamistisches Mobilisierungsthema Monitoring von islamistischen YouTube-Kanälen Salafistische Online-Propaganda Das Virus als Mittel zum Zweck Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod Gewalt als Gegenwehr? Ausdifferenzierung der islamistischen Szene in Deutschland LGBTIQ*-Feindlichkeit in islamistischen Social-Media-Beiträgen Gaming und islamisch begründeter Extremismus Radikalisierung: Gründe & Verlauf Radikalisierung – eine kritische Bestandsaufnahme Islamistische Radikalisierung bei Jugendlichen erkennen Psychosoziale Aspekte von Radikalität und Extremismus Interview mit Ex-Salafist Dominic Musa Schmitz Wie sich zwei Teenager radikalisierten Welche Rolle spielt Religion? Diskriminierung und Radikalisierung Erfahrungen von Rassismus als Radikalisierungsfaktor? Radikalisierung bei Geflüchteten Faktoren für die Hinwendung zum gewaltorientierten Islamismus Wer sind die "IS"-Unterstützer? Deutschsprachiger Islamkreis Hildesheim: Geschichte einer Radikalisierung Anzeichen von Radikalisierung Prävention & Politische Bildung Ansätze der Prävention mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen 20 Thesen zu guter Präventionspraxis Religion – eine Ressource in der Radikalisierungsprävention? Emotionen in der Präventionsarbeit Counter Narratives Gender-reflektierte Präventionsarbeit Die Bedeutung innermuslimischer Salafismuskritik für die Radikalisierungsprävention Rechtsextremismus und Islamismus - Was ist übertragbar? Phänomenübergreifende Jugendkulturarbeit Museen & Extremismusprävention Paradies – Hier, Jetzt, Später? Muslimische Jugendarbeit Muslimische Institutionen & Prävention Politische Bildung im Jugendstrafvollzug Politische Bildung in der Untersuchungshaft Prävention in Gefängnissen Jugendquartiersmanagement Interview: Polizei und Extremismusprävention in Mannheim Videos und soziale Medien: Prävention im Internet Online-Streetwork gegen Extremismus Aufsuchende Sozialarbeit in Social Media Online-Projekt: Fragen zum Glauben Phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention Polizei NRW: Kontaktbeamte für muslimische Institutionen Beratung & Fallmanagement Interview: Die Rolle der Angehörigen in der Radikalisierungsprävention Der rechtliche Rahmen für die Präventionspraxis Datenschutz in der Präventionsarbeit Religionsfreiheit vs. Kindeswohlgefährdung Psychische Störungen im Zusammenhang mit Radikalisierung Beratung in Zeiten von Corona Risk Assessment im Phänomenbereich gewaltbereiter Extremismus BAMF: Prävention im Flüchtlingsbereich Mit Kommunaler Fachberatung zu einer nachhaltigen, lokal verankerten Radikalisierungsprävention Deradikalisierung & "IS"-Rückkehrende „Rückkehrer:innen radikalisierten sich meist in Gruppen" Pädagogische Ansätze zur Deradikalisierung Zur Rolle von Psychotherapie in der Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierung Ausstiegsarbeit und Psychotherapie Distanzierung vom Salafismus Wie "ZiVI-Extremismus" Beratungsstellen für Deradikalisierung unterstützen kann Praxisbericht: Deradikalisierung im Strafvollzug Wie das BAMF den Umgang mit Rückkehrenden koordiniert Interview: Zurück aus dem "Kalifat" Rehabilitation von "IS"-Rückkehrerinnen und ihren Kindern Rückkehrende und Strafjustiz Rückkehrer und "Homegrown Terrorists" Pädagogische Ansätze zur Deradikalisierung Islamismus & Prävention in Schule & Jugendarbeit Diskutieren mit radikalisierten Schülerinnen und Schülern Globale Konflikte im Klassenzimmer Umgehen mit Kindern aus salafistisch geprägten Familien Kinder in salafistisch geprägten Familien Radikalisierung an Schulen früh erkennen FAQs zum Sprechen über Anschläge Mohammed-Karikaturen im Unterricht Schweigeminuten: Möglichkeiten & Fallstricke Salafismus als Herausforderung für die Offene Kinder- und Jugendarbeit Radikalisierungsprävention in der Schule Interview: Wie können Schulen reagieren? „Die Kids sind auf TikTok und wir dürfen sie dort nicht allein lassen" Akteure, Netzwerke & Internationales Serie: Islamismusprävention in Deutschland BAG religiös begründeter Extremismus Das KN:IX stellt sich vor Radicalisation Awareness Network RAN aus Praxis-Sicht Hass im Netz bekämpfen Bundesprogramm gegen Islamismus Soziale Arbeit und Sicherheitsbehörden Zusammenarbeit Beratungsstellen & Jugendhilfe Kommunale Radikalisierungsprävention Netzwerkarbeit vor Ort: Augsburg "Prevent", die Anti-Terrorismus-Strategie Großbritanniens Interview: Vilvoorde – vom "belgischen Aleppo" zum Vorbild Frankreich: Was hilft gegen Dschihadismus? Forschung & Evaluation Übersicht: Forschung zu Islamismus Übersicht: Evaluation von Präventionsprojekten modus|zad: Zwischen Forschung und Praxis Umfrage: Phänomenübergreifende Perspektiven gefordert, Islamismus weiterhin relevant Partizipative Evaluationen Evidenzbasierte Prävention (Neue) Evaluationskultur? Evaluation neu denken Das "Erwartungsdreieck Evaluation" Evaluation von Präventionspraxis Angemessene Evaluationsforschung Weitere Themen Das Sprechen über den Islam Gesetze und Plattformregeln gegen Online-Radikalisierung MasterClass: Präventionsfeld Islamismus Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz Türkischer Ultranationalismus als pädagogisches Arbeitsfeld Hintergrund-Beiträge chronologisch Schwerpunkt-Themen: Serien "Legalistischer" Islamismus Psychologie & Psychotherapie Antimuslimischer Rassismus Rechtlicher Rahmen Kooperation von Präventionsakteuren Umgang mit Anschlägen in der Schule Evaluationen Materialsammlungen Wie umgehen mit dem Nahostkonflikt? – Eine Übersicht für Schulen und Bildungseinrichtungen Handreichung: Schule und religiös begründeter Extremismus Handreichung: Umgang mit Anschlägen Pädagogische Materialien Sekundarstufe Grundschule Medien für den Unterricht Publikationen für die Schule Jugendbücher & Unterrichtsmaterialien von dtv Fachbeiträge für Schule und Pädagogik im Kontext Islamismus und Prävention Video & Audio Video: Dokumentationen, Filme & Erklärvideos Podcast-Serien und Radiobeiträge Veranstaltungen: Vorträge, Podiumsdiskussionen & Fachgespräche Islam & muslimisches Leben Bücher & Zeitschriften Fachbücher Sachbücher Biografien & Autobiografien Romane Fachzeitschriften Broschüren, Handreichungen & Online-Portale Service Newsletter: Abo & Archiv Newsletter-Archiv Datenbank: Beratung & Angebote vor Ort finden FAQ Infodienst-Publikationen Infodienst-Journal Aktuelle Termine Termin-Rückblick 2023 Termin-Rückblick 2022 Termin-Rückblick 2021 Termin-Rückblick 2020 Stellenangebote Über den Infodienst & Kontakt Verlinkung mit dem Infodienst

Frankreich: Welche Konzepte helfen gegen den Dschihadismus? Interview mit Asiem El Diafraoui

Asiem El Diafraoui Redaktion Infodienst Radikalisierungsprävention

/ 8 Minuten zu lesen

Mehrere Terroranschläge haben innerhalb kurzer Zeit Frankreich erschüttert. Welche konkreten Maßnahmen - und Pläne - gibt es bei der Prävention gegen den Dschihadismus? Wie diskutiert die Öffentlichkeit darüber, und wie ist der Stand der Fachdiskussion? Gibt es Unterschiede zur Situation in Deutschland? Ein Interview mit dem in Frankreich lebenden ägyptisch-deutschen Politologen Asiem El Diafraoui.

Französische Fahnen wehen auf Halbmast an der Promenade des Anglais in Nizza am Tag nach dem Terroranschlag vom 14.07.2016. (© picture-alliance/dpa)

Bitte beachten Sie: Dieser Beitrag ist älter als fünf Jahre. Forschung, Fachdebatte oder Praxisansätze haben sich möglicherweise in der Zwischenzeit weiterentwickelt.

Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren

Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail.

Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement

Redaktion Infodienst: Frankreich ist von einer Serie von Anschlägen mit dschihadistischem Hintergrund betroffen. In der Berichterstattung der deutschen Medien darüber dominiert der Sicherheitsaspekt. Wie wird in Frankreich über Prävention diskutiert? Wie will man langfristig Radikalisierung und damit solche Anschläge verhindern?

Asiem El Diafraoui: Ich beginne mal mit einer Rückschau. Frankreich wurde bereits Ziel dschihadistischer Anschläge, als man das noch gar nicht so nannte. Zum Beispiel 1994, da wurde ein Airbus von Algier nach Marseille entführt. Dann kam die Anschlagsserie 1995 in Paris. Fachleute, die sich mit Radikalisierungsmechanismen und Dschihadismus befassen, sagen schon länger: Wir haben erwartet, dass bei uns erneut Anschläge passieren, früher oder später. Trotzdem wurde die Republik von den Anschlägen in der jüngeren Zeit, ab 2013 bis 2015, überrascht.

Immer mehr junge Franzosen radikalisierten sich. Denn Frankreich hat dem Terror immer nur klassische Sicherheitsmaßnahmen entgegengesetzt, keine Prävention. Das ging auch lange gut. Frankreich wurde lange Zeit verschont von so folgenschweren Anschlägen wie die in London 2005 oder Madrid 2004.

Die aktuelle Lage ist ein Resultat von jahrelanger Vernachlässigung, obwohl es im Bereich der Prävention viele engagierte Kollegen gibt. Ein Beispiel: Trotz Warnungen von Fachleuten wurden viele Menschen, die des Dschihadismus verdächtigt werden, im Gefängnis und nach ihrer Entlassung kaum betreut. Einige Forscher haben schon früh darauf hingewiesen, dass die individuelle langfristige Betreuung sehr wichtig ist. Bisher wurden diese Erkenntnisse zu langsam umgesetzt.

Das Resultat ist: Alle Attentäter der jüngeren Zeit waren von den Behörden bereits erfasst, mit Ausnahme des Nizza-Falles. Der Priester-Mörder von Saint-Etienne-du Rouvray hatte sogar eine Fußfessel und musste sich bei der Polizei melden. Trotzdem konnte er ein Attentat verüben.

Redaktion Infodienst: Wie konnte es zu dieser Vernachlässigung kommen?

Asiem El Diafraoui: Es fehlt am politischen Willen. Das ganze Phänomen wird nicht offen genug diskutiert. Das Land befindet sich im Wahlkampf, in dem sich sämtliche Parteien und Kandidaten mit populistischen Vorschlägen überbieten, ob das jetzt Herr Juppé ist, Herr Sarkozy, ob das die Sozialistische Partei von Hollande ist.

Die Regierung verfolgt keine klare Linie. Der Premierminister Manuell Valls sprach nach der Anschlagsserie 2015 davon, dass man gegen die "Apartheid" in den Vorstädten angehen müsse. Mittlerweile pflegt er eine "Krieg gegen den Terrorismus"-Rhetorik.

Und der Laizismus des Staates stellt bei der Präventionsarbeit eine spezielle Herausforderung dar. Der französische Staat ist religionsneutral. Das wird von islamischen Verbänden zum Teil als islamfeindlich ausgelegt, was aber nicht stimmt. Es bedeutet aber auch zum Beispiel, dass staatliche Behörden kein Informationsmaterial – etwa Broschüren – zum Thema Islam herausgeben können.

Eine weitere Herausforderung ist der Zentralismus in Frankreich. Der Zentralstaat soll alles richten. Aber da fehlen aufgrund des Sparkurses Mittel. Gleichzeitig ist die Regierung etwas zögerlich, die Zivilgesellschaft einzubinden.

Redaktion Infodienst: Gibt es kein systematisches Präventionskonzept?

Asiem El Diafraoui: Das ist sehr, sehr vage. Das Thema wurde vor einiger Zeit an einen Präfekten delegiert, einen hohen Regierungsbeamten. Es existiert so etwas wie ein Präventions- und Deradikalisierungsrat, aber das alles steckt in den Kinderschuhen. Wichtigster Ansprechpartner ist eine interministerielle Kommission. Die Leitung dieser Kommission war zeitweise nur interim besetzt. Meiner Meinung nach müsste man diese Funktion politisch besetzen. [Anm. der Red.: Im August wurde der Präfekt Pierre N’Gahane als Leiter des interministeriellen Komitees für Prävention abgelöst, seitdem ist die Diplomatin Muriel Domenach neue Generalsekretärin. ]

Hinzu kommt: Die Polizeikräfte sind überlastet. Die hatten nach den schlimmen Anschlägen vom Januar 2015 und vom November 2015 im Sommer 2016 die Fußball-EM. Aber auch das wird nicht offen diskutiert, weil eben der Präsidentschaftswahlkampf ansteht.

Frankreich hat herausragende Akademiker, die sich mit dem Thema befassen. Das Problem ist: Sie streiten sich um Radikalisierungsursachen, statt gemeinsam zu arbeiten. Zumindest sind sich jedoch alle einig, dass es so, wie es aktuell ist, nicht weitergehen kann. Hochmotivierte Gefängnispsychologen müssen teilweise Dutzende von radikalisierten Menschen betreuen – die schaffen dies kaum.

Redaktion Infodienst: Dennoch gibt es ja ein Konzept auf nationaler Ebene. Wie ist hier der Stand? Wie beurteilen Sie das?

Asiem El Diafraoui: Es gibt einen nationalen Präventionsplan. Der wurde aber kaum umgesetzt und listet vor allem Probleme auf: Die Schulen und die Lehrer sind überfordert, genauso wie Gefängnispsychologen.

Der Präventionsplan sieht unter anderem vor, die Zivilgesellschaft einzubinden. Jedoch kann man hier Deutschland und Frankreich nicht vergleichen, denn die französische Zivilgesellschaft ist meiner Meinung nach in diesem Bereich noch sehr schwach. Das liegt zum Teil auch daran, dass es eben in Frankreich einen starken Zentralstaat gibt, auf den die Menschen zu sehr gesetzt haben.

Redaktion Infodienst: Gibt es denn konkrete, praktische Präventionsprojekte? Gibt es überhaupt Akteure, die sich mit Prävention im weitesten Sinne befassen?

Asiem El Diafraoui: Es entstehen immer mehr Präventionsprojekte. So werden in Gefängnissen verstärkt sogenannte Binome eingesetzt, das sind Tandem-Teams aus Sozialarbeitern und Psychologen, die selbst Ansätze der Deradikalisierung entwickeln und ausprobieren sollen. Oder es gibt eine Weiterbildung für Betreuer gefährdeter Häftlinge über dschihadistische Propaganda. Es wird also experimentiert, es gibt aber noch keine klare Linie.

In Bordeaux gibt es Ansätze der Kooperation zwischen muslimischen Vereinen, Psychologen und Sozialarbeitern, die gemeinsam Konzepte erarbeiten. Aber das steckt noch in den Kinderschuhen.

Redaktion Infodienst: Das heißt, es gibt Ansätze von Netzwerken mit verschiedenen Akteuren?

Asiem El Diafraoui: Es gibt Ansätze von Netzwerkarbeit, ja, allerdings ebenfalls noch sehr rudimentär. Es gibt auch einzelne Akteure, die bei europäischen Netzwerken wie RAN partizipieren. Problematisch ist hier allerdings die ökonomische Seite, da es lange an Transparenz in diesem Bereich mangelte. Der Markt wurde lange Zeit von nur einer Deradikalisierungsakteurin dominiert, die einige staatliche Gelder erhalten hat. Doch die Arbeit wurde nicht evaluiert, die Ergebnisse wurden nicht überprüft. Genaue Zahlen sind nicht offengelegt.

Die Regierung machte es sich lange Zeit etwas bequem bei der Deradikalisierung von jungen Menschen.

Redaktion Infodienst: Was meinen Sie damit?

Asiem El Diafraoui: Die Radikalisierung junger Menschen wurde lange als psychologisches Problem der Betroffenen angesehen, obwohl natürlich noch ganz andere Faktoren mitspielen. Bei dieser Sichtweise werden die sozioökonomischen Ursachen nicht betrachtet, das Gefühl der Ausgeschlossenheit ganzer Bevölkerungsteile. Auch religiöse und politische Motive wurden ausgeblendet. Wenn man davon ausgeht, dass es sich um ein individuelles psychologisches Problem handelt, wird dem Staat sehr viel Verantwortung genommen. Aber das ändert sich langsam.

Trotzdem: In Frankreich läuft viel zu viel über den Staat und die Sicherheitsdienste.

Redaktion Infodienst: Was ist das Problem dabei, und was genau wird staatlich organisiert?

Asiem El Diafraoui: Beispielsweise wurde, ähnlich wie in Deutschland, eine Telefon-Hotline eingerichtet. Dorthin kann sich wenden, wer Fragen zur Radikalisierung hat oder eventuell radikalisierte Personen melden will. Diese Nummer stellt aber auch eine sofortige Verbindung zu Sicherheitsdiensten her. Dabei misstrauen zum Beispiel viele Bewohner der Vorstädte wie in Marseille oder Paris der Polizei.

Ein weiteres Beispiel sind Deradikalisierungsstellen oder -beauftragte, die über die Polizeipräfekturen organisiert werden. Jeder Verwaltungsbezirk hat eine Meldestelle und einen Beauftragten. Das bedeutet: Um etwas aus seinem lokalen Umfeld zu melden, wendet sich der Bürger an zentrale Stellen. Auch das läuft über polizeiliche Strukturen. Ist das eine gute Idee? Ich glaube nicht.

Redaktion Infodienst: In deutschen Medien war zu lesen, dass in Frankreich eine Art Internierungslager zur Deradikalisierung eingerichtet werden sollen. Was hat es damit auf sich?

Asiem El Diafraoui: Ja, das soll realisiert werden. Das ist aus meiner Sicht sehr problematisch. Deradikalisierung sollte nicht kollektiv erfolgen. Wenn Deradikalisierung erfolgreich sein soll, muss man bei jedem Betroffenen individuell ansetzen. Eine Zusammenlegung in Gruppen wie in den geplanten Lagern ist kontraproduktiv. Eine einzelne Person reicht, um die anderen weiter zu radikalisieren. Das ist eigentlich aus Gefängnissen bereits bekannt.

Es sollen verschiedene Arten von Lagern entstehen. Eins sollen die Betroffenen auf freiwilliger Basis aufsuchen und eines auf Anordnung. Zwang ist nicht gut. Dort soll Uniform getragen werden und die französische Flagge soll gehisst werden.

Redaktion Infodienst: Beeinflusst die öffentliche Debatte die Entwicklung von Deradikalisierungs- und Präventionsmaßnahmen?

Asiem El Diafraoui: Es gibt leider keine wirkliche öffentliche Debatte. Stattdessen gibt es aktuell eine beunruhigende Verschärfung der Gesetzgebung. Nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo hat die New York Times zum Beispiel geschrieben: Frankreich macht dieselben Fehler wie die Bush-Regierung, es wird polarisiert.

In Fachkreisen gibt es allerdings eine Debatte zu den größeren Zusammenhängen, in der die Situation ganzheitlicher betrachtet wird. Dazu gehört auch die Diskussion über die französische Außen- und Flüchtlingspolitik. Doch ohne die Politik wird man damit nicht weit kommen.

Gerade nach den Anschlägen herrscht eher das Gefühl einer Schockstarre vor. Die Regierung steht unter enormem Druck. Ich sehe zu wenig kreative Ideen. Wie gesagt, Frankreich hat keine so aktive Zivilgesellschaft wie Deutschland. Und der zentralisierte Staatsapparat sendet vor allem das Signal: "Wir machen Sicherheit". Hier gibt es Parallelen zu Deutschland: Die Bürger verlangen nach Sicherheit.

Eigentlich müssten Themen auf die Agenda gebracht werden wie: Wie ist die Situation in französischen Vorstädten? Brauchen wir Reformen? Was bringt eigentlich die laizistische Natur des französischen Staates mit sich? Und was ist der Platz des Islam darin? Auch solch brisante Themen müssten ganz offen diskutiert werden. Dazu zählt auch das französische Engagement in Syrien. Dort werden Stellungen von DAESH bombardiert, aber gegen das Assad-Regime hat die Regierung nichts unternommen.

Redaktion Infodienst: Wie reagieren die Medien in der aktuellen Situation?

Asiem El Diafraoui: Mittlerweile zeigen französische Medien keine Bilder von Terroristen mehr, auch auf Anraten von Fachleuten. Das gilt auch für die privaten Nachrichtensender. Es werden jetzt auch keine Klarnamen der Täter mehr genannt. Der Hintergrund ist, dass keine Vorbilder geschaffen werden sollen. In den Medien heißt es nun: Wir zeigen keine Hochglanzbilder von pathologischen Terroristen, die sich das IS-Label anheften und dadurch berühmt werden wollen. Also: Hier bewegt sich etwas, aber insgesamt ist es extrem langwierig.

Redaktion Infodienst: Wie ist ihre Prognose zur weiteren Entwicklung in Frankreich?

Asiem El Diafraoui: Es passiert etwas, allerdings zu zögerlich und zu langsam. Es werden zum Beispiel Stellen geschaffen, sowohl in der Praxis als auch in der Forschung.

Das Positive ist, dass Frankreich so hochqualifizierte Akademiker hat, dass früher oder später mit mehr Bewegung zu rechnen ist. Es wächst gerade eine neue Generation von Fachleuten heran, die in diesem Bereich arbeiten werden.

Und es gibt in Frankreich ein besonderes Verhältnis zur arabischen Welt, es gibt wesentlich mehr arabische Muttersprachler. Die bringen auch die entsprechenden Kenntnisse der sozialen, kulturellen und religiösen Hintergründe mit. Wenn hier wie angekündigt eine kompetente Förderung stattfindet, ist auch mit entsprechenden Resultaten zu rechnen.

Das Gespräch führte Sebastian Kauer für den Infodienst Radikalisierungsprävention Islamismus.

Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus

Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.

Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite

Weitere Inhalte

Infodienst Radikalisierungsprävention

Akteure, Netzwerke & Internationales

Wie ist die Islamismusprävention in Deutschland organisiert? Wer sind die wichtigsten Akteure? Was passiert auf kommunaler Ebene? Welche Ansätze gibt es im Ausland?

Infodienst Radikalisierungsprävention

Radikalisierungsprävention

Der "Infodienst Radikalisierungsprävention – Herausforderung Islamismus" behandelt die Themen Islamismus, Prävention und (De-)Radikalisierung: mit Hintergrundinfos, Materialien, Terminen & Newsletter

Radikalisierungsprävention Islamismus

Islamismusprävention in Deutschland

Der Infodienst stellt die wichtigsten Akteure der Islamismusprävention in Bund und Ländern vor und beschreibt die Organisation der Zusammenarbeit vor Ort.

Infodienst Radikalisierungsprävention

Soziale Arbeit & Sicherheitsbehörden

Auf Basis einer empirischen Fallstudie betrachten Carmen Figlestahler und Katja Schau, wie in Kooperationen die unterschiedlichen professionellen Selbstverständnisse konflikthaft aufeinandertreffen.

Infodienst Radikalisierungsprävention

Newsletter Radikalisierung & Prävention

Newsletter des Infodienst Radikalisierungsprävention: Alle sechs Wochen Hintergrundinfos, aktuelle News, Termine, Stellenangebote & Materialien

Infodienst Radikalisierungsprävention

Vom „belgischen Aleppo“ zum Vorbild: Vilvoorde

Viele sehen die belgische Kleinstadt Vilvoorde als Vorbild bei der Radikalisierungsprävention. Ein Gespräch mit Bürgermeister Hans Bonte und Jessika Soors, kommunale Beauftragte für Deradikalisierung.

Asiem El Diafraoui ist ein ägyptisch-deutscher Politologe, Volkswirt, Dokumentarfilm- und Buchautor.

Der Infodienst Radikalisierungsprävention bietet Informationen zur Prävention von Islamismus, zu Radikalisierung und Extremismus sowie zu Deradikalisierung: Interner Link: www.bpb.de/infodienst.