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Resümee

Luise Schorn-Schütte

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Zeichen der Annäherung: Zum 500. Reformationsjubiläum feiern Landesbischof Heinrich Bedford- Strohm (li.) und Kardinal Reinhard Marx als Stellvertreter ihrer Kirchen einen gemeinsamen Gottesdienst in der Michaeliskirche Hildesheim. (© epd-bild / Jens schulze)

  1. Je nach konfessioneller Position wird die reformatorische Bewegung als Spaltung der Christenheit und/oder der Nation oder als Lockerung bzw. Aufgliederung des monolithischen Blocks beschrieben, den die römisch-katholische Kirche und deren dogmatische Festlegungen bildeten.
    Die sola-Theologie der Reformation bot große Entfaltungsräume zur Individualisierung der Frömmigkeit, zur Wiederbelebung von gemeindechristlichen Strukturen bei gleichzeitigem Abbau von innerkirchlichen und weltlichen Hierarchien sowie zum Einsatz textkritischer Methoden (sola scriptura). Diese zum Teil unbeabsichtigten Folgen der Reformation boten den Zeitgenossen stets Herausforderungen und Chancen.


  2. Insbesondere für die deutsche Geschichte hat die Spaltung zu einer über Jahrhunderte anhaltenden konfessionellen, mentalen, politischen und kulturellen Trennung geführt, die erst allmählich abgebaut wurde. Unterschiede im Recht, in den Frömmigkeitsformen, in der Kirchenverfassung und in den kulturellen Lebensweisen (Sprache, Musik, Bildung) haben sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein erhalten.


  3. Die reformatorische Bewegung spaltete Europa, in enger Verbindung mit politischen Interessen wurden die konfessionellen Gegensätze zu einem steten Konfliktpotenzial und daraus erwachsenden Konfessionskriegen; Europa blieb ein unruhiger Kontinent.


  4. Die Spaltung führte zu vornehmlich inner- aber auch außereuropäischen Konfessionsmigrationen. Seit dem 19. Jahrhundert verzahnten sie sich mit Armutsmigrationen und wurde zu einer Auswanderungswelle auch über die europäischen Grenzen hinaus. Inzwischen sind protestantische Gemeinden außerhalb von Europa zahlenmäßig stärker vertreten als im europäischen Kernland.


  5. Die Annahme einer wesenhaften Verbindung von Protestantismus und Moderne wurde als Meistererzählung vom Vorsprung protestantischer Bildung und als Theorie der innerkonfessionellen Unterschiede zwischen demokratieförderndem Calvinismus und obrigkeitshörigem Luthertum bis ins 20. Jahrhundert tradiert. Als protestantische Genealogie der Bürger- und Menschenrechte erlebte diese Deutung eine beindruckende Rezeption. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich der Blick für die Parallelität der Entwicklungen in beiden Konfessionen geöffnet.

QuellentextBedeutung der Kirchen heute

[…] Die Säkularisierungsprozesse in Deutschland gehen weiter, unabhängig davon, wie viele Menschen hierzulande den Papst bewundern oder das Reformationsgedenken gut finden. […] Der Osten Deutschlands ist inzwischen nach Tschechien die am stärksten säkularisierte Region Europas, obwohl es dort ohne mutige Christen 1989 keine friedliche Revolution gegeben hätte.
Es sind die Bindungskräfte an die großen Kirchen schwach geworden, analysiert der Religionssoziologe Detlef Pollack von der Universität Münster […]. Pollack hat Ausgetretene befragen lassen und festgestellt: Die meisten sind keine Kirchenfeinde, sie werden auch selten zu engagierten Atheisten, Humanisten, Buddhisten oder Esoterikern. Ihnen ist der Glaube einfach weniger wichtig geworden, verglichen mit den innerweltlichen Sinn- und Erfüllungsangeboten wie Familie, Partnerschaft, Beruf, Freizeit, Sport, Hobbys.
Die Kirchenmitgliedschaft wird für viele zum Gegenstand der Kosten-Nutzen-Analyse: Lohnt sich das für mich? […] Das bisschen Glauben, das ich brauche, mache ich mir selber. Die sozialen Kosten für den Austritt sind inzwischen meist niedrig, vor allem dort, wo eine Mehrheit sagt: Ich glaube nichts – und mir fehlt nichts.
Dieser Prozess hat, mal mehr und mal weniger stark, ganz Westeuropa und inzwischen auch die Vereinigten Staaten erfasst; in Ländern wie Frankreich oder Irland ist die Zahl derjenigen, die sich als religiös bezeichnen, innerhalb von sieben Jahren um mehr als 20 Prozent zurückgegangen.
Und doch verläuft dieser Prozess nicht linear, er ist komplex und auch widersprüchlich. Es gibt Regionen mit nach wie vor hoher Kirchenbindung wie die Gegend um Passau oder das Münsterland. Es gibt Gegenden in Ostdeutschland, in denen nur noch jeder Zehnte Mitglied einer Kirche ist – oft Regionen, in denen die Säkularisierung schon mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begann; 40 Jahre DDR haben den Prozess beschleunigt.
Es löst sich zudem die Religiosität zumindest teilweise von der Kirchenzugehörigkeit: Es gibt das faktisch ungläubige Paar, das nur deshalb kirchlich heiratet, damit die Großeltern zufrieden sind, und es gibt den Ausgetretenen, der irgendwie doch an Gott glaubt und täglich betet.
Das ist sehr anders, als es die Soziologen lange dachten: dass in modernen Gesellschaften der Glaube quasi von allein verschwindet, erst bei den Gebildeten in den Städten, zuletzt bei den Hinterwäldlern auf dem Land. Das Stadt-Land-Gefälle gibt es, doch die Religiosität ist vor allem bei den Armen und weniger Gebildeten verschwunden. Bei den besser Ausgebildeten, Etablierten, aber auch Postmaterialisten ist sie dagegen überdurchschnittlich stabil – bis dahin, dass die Kirchenmitgliedschaft als Ausweis ordentlicher Bürgerlichkeit gilt. […]
Mit großer Sicherheit aber werden die christlichen Kirchen die mit Abstand größten Institutionen jenseits des Staates bleiben, die wichtigsten Träger der Zivilgesellschaft und auch des kulturellen Erbes im Land. […] Nur wird es anders christlich sein, als man es heute kennt: vielfältiger, weniger stabil, sicher auch konfliktreicher. Für den Staat und die Politik wird das heißen, ein neues Verhältnis zu den Religionen zu finden. Für die Kirchen wird es heißen, dass immer weniger ihre institutionelle Macht zählt, sondern das, was sie sagt, wie sie auftritt, wie glaubwürdig die Christen sind, die sie vereinen. […]

Matthias Drobinski, "Selbst ist der Sinn", in: Süddeutsche Zeitung vom 20./21. August 2016

QuellentextBeitrag der Reformation zu Religionsfreiheit und Kultur

[…] Sehr aktuell ist der Beitrag der Reformation zur Frage der Religionsfreiheit, also zum friedlichen Nebeneinander verschiedener Konfessionen und Religionen.
Zwar darf man Luthers Blick auf den "inneren Menschen" noch nicht mit einer modernen Gewissensfreiheit verwechseln. Auch war Luther selbst mal gewaltfrei gestimmt ("Ich kann keinen in den Himmel treiben oder mit Knüppeln dahin schlagen"), konnte aber über rebellierende Bauern und über Juden auch ganz anders reden.
Doch dass sich Katholiken und Protestanten nach langen Kämpfen am Ende miteinander arrangieren mussten, dass die religiösen Wahrheitsfragen zugunsten von rechtlichen Regelungen zurückgestellt wurden, das kann heute als ein europäisches Modell genutzt werden: einerseits für einen entspannten Umgang mit der öffentlich sichtbaren Frömmigkeit von Muslimen; andererseits aber für die Forderung an den Islam, Religion nicht theokratisch oder gewaltsam durchsetzen zu wollen.
Überhaupt kann man gute wie unheilvolle politische Wirkungen des Protestantismus entdecken. Der Trennung von Kirche und Staat stand oft zu viel Staatstreue mit nationalem Pflichtgefühl gegenüber. Die berüchtigte "Innerlichkeit" konnte mal zu schwärmerischem Fundamentalismus und emotionaler Repression ausarten, doch erkennt man heute darin auch den Keim der modernen Individualität, der Anerkennung des je eigenen Glaubens und Denkens, vielleicht sogar der Gleichheitsidee, der Menschenrechte und der Säkularisierung – auch wenn letztere ganz sicher nicht der Plan von Martin Luther war.
Wem das alles viel zu abstrakt und politisch ist, der findet in der Reformation auch einfach gute Stories, Erbauung, einen kulturellen Schatz. Die Pflege von Sprache, Dichtung, Bildung und Schule, aber auch der historisch-kritische Umgang damit, ist ein protestantisches Erbe, weit über die Bibelübersetzung hinaus. Wir sprechen heute, ob wir wollen oder nicht, immer auch lutherisch.
Und nicht nur die Musik von Schütz, Bach und Brahms kommt von Luther her; der aktuelle Mainstream der Popmusik – der R’n’B von Weltstars wie Beyoncé – stammt aus dem Gotteslob der protestantischen Erweckungsbewegungen Amerikas. Die Reformation ist auch ein globales Phänomen. […]

Johan Schloemann, "Super-Martins Erbe", in: Süddeutsche Zeitung vom 29./30. Oktober 2016

Fussnoten

Luise Schorn-Schütte ist emeritierte Professorin für Neuere Geschichte der Goethe-Universität Frankfurt am Main.