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Protestantismus und Moderne | bpb.de

Protestantismus und Moderne

Luise Schorn-Schütte

/ 7 Minuten zu lesen

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sah eine große Mehrheit der protestantischen, historisch bzw. philologisch arbeitenden Wissenschaftler die Reformation als Beginn der Moderne.

Die Predigt, die Auslegung des Wortes Gottes durch einen lebenskundigen, theologisch ausgebildeten Geistlichen, hat einen besonderen Stellenwert in protestantischen Gottesdiensten. Predigt zum Erntedank-Gottesdienst in der reformierten Kirche von Herbishofen/Allgäu 2015 (© epd-bild / Jens schulze)

Den Grundstein für diese nationale "Meistererzählung" legte Jahrzehnte vor der Reichseinigung von 1870/71 der Berliner Historiker Leopold von Ranke (1795–1886). In seinem 1839 erschienenen Werk "Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation" charakterisierte er, der als Zeitgenosse dem politischen Liberalismus zuneigte, die Reformation als nationales Ereignis. Sie habe zwar zur Spaltung der Nation geführt, zugleich aber in der Abwehr fremder politischer Kräfte (Kaiser und Papst) den Kern einer gemeinsamen nationalen Identität begründet. Das Reformationsereignis und die Folgeentwicklung hatten aus seiner Sicht erklärenden Charakter für die eigene Gegenwart.

Während für Ranke die Nationswerdung den Beginn der Moderne darstellte, betonten nachfolgende Historiker, Theologen und Philosophen den Beitrag, den die Reformation zur Staatsbildung bot. Angesichts des deutschen Kaiserreichs, das 1870/71 als neue Großmacht in Europa entstanden war und seine Identität formulieren sowie historiografisch fundieren musste, lag diese Ausrichtung nahe.
Im Umfeld des 400. Geburtstages Luthers 1883 entstand eine methodisch veränderte Orientierung unter den Historikern, die sogenannte Ranke-Renaissance. Sie betonte die Aufgabe der Geschichtsschreibung, über die sozialen und konfessionellen Gegensätze hinweg die Entwicklung des deutschen Nationalstaates zu begründen, eines Staates, der nicht mehr Machtstaat, sondern Kulturstaat zu sein habe. Mit der Verzahnung von Reformation und Staatsbildung sei der Übergang zur Moderne vollzogen.

Ähnlich argumentierten die protestantischen Kirchenhistoriker. Die Reformation habe das Mittelalter und die Autoritätsgläubigkeit des Einzelnen überwunden, deshalb konnte der Aufbruch in die Neuzeit aus ihrer Sicht zielgerichtet gelingen. Zugleich erhielt die Reformation mit dieser Zuschreibung einen Gegenwartsbezug, den Theologen wie Kirchenhistoriker gegen die zeitgenössische Krise der protestantischen Frömmigkeit setzten.

An diesem eng geführten Blickwinkel kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kritik aus den eigenen Reihen auf. Der Berliner Theologe und Religionssoziologe Ernst Troeltsch (1865–1923) befasste sich stattdessen intensiv mit den sozialen Aspekten der Reformation. Aus sehr verschiedenen Gruppen sei sie entstanden, eingebunden in eine spätmittelalterliche Autoritätskultur. Letztere sei zwar durch die reformatorische Bewegung aufgelöst, aber in einem neuzeitfähigen Sinn nur durch den Calvinismus weitergeführt worden. Denn nur dieser habe konsequent die Gewissens- und Glaubensfreiheit für jedes einzelne Individuum vertreten und damit Merkmale der Entkoppelung von Kirche und Welt, von Religion und Politik aufweisen können.

Das Luthertum – ebenso wie der durch das Interner Link: Tridentinum  (d. h. das Konzil von Trient) geprägte Katholizismus – seien, so Troeltsch, dagegen der Einheitskultur des Mittelalters verbunden geblieben und hätten, wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum, die Verzahnung von Staat und Kirche erneut vertieft. Damit hätten sie sich der Entwicklung zur modernen Welt zunächst widersetzt und seien einen eigenen, im Falle des Luthertums spezifisch deutschen Weg gegangen. Deshalb habe die deutsche Moderne erst mit der aufklärerischen Forderung nach Gewissensfreiheit begonnen. Was für die Reformation insgesamt gelte, treffe erst recht auf Luther zu. Mit seinen politischen Ordnungsvorstellungen sei er dem spätmittelalterlichen patriarchalisch-ständischen Denken verhaftet geblieben.
Mit diesem Verständnis war Troeltsch Teil eines zeitgenössischen internationalen "Denkkollektivs" aus Soziologen, Theologen, Juristen, Historikern und Nationalökonomen, die sich um eine methodisch generell nachvollziehbare Festlegung für den Beginn der Moderne bemühten (so der Historiker Wolfgang Neugebauer).

Ebenso wie Troeltsch charakterisierte auch der Berliner Jurist Georg Jellinek (1851–1911) Gewissens- und Glaubensfreiheit als zentrale, originäre Grundrechte. Deren Ursprung sah er aber nicht erst in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789, sondern bereits in den Grundrechtskatalogen der Verfassungen der nordamerikanischen Kolonien (vor allem in der Virgina Bill of Rights, 1776), da sie erstmals institutionalisierte Garantien für dieses Naturrecht jedes Menschen formulierten. Der Anstoß dazu entstamme dem Kampf der Puritaner und anderer protestantischer Exulanten, die in den Kolonien für die Freiheit ihres religiösen Bekenntnisses eintraten. Die Geburtsstunde positiver Menschenrechte sei "religiösen, nicht politischen Ursprungs" und deshalb identisch mit dem Beginn der Moderne. Diese "Protestantische Genealogie der Menschenrechte" wurde innerhalb des Denkkollektivs positiv aufgenommen. Troeltsch ergänzte mit dem Hinweis, dass der Kampf um die Religionsfreiheit nicht von Calvinisten allein, sondern vor allem auch von Quäkern, Baptisten und spiritualistischen Gruppierungen geführt worden sei.

Der Heidelberger Soziologe Max Weber (1864–1920) führte diese Argumentation weiter. Unter den veränderten Bedingungen der Säkularisierung werde das bislang religiös begründete Recht ersetzt durch ein aus sich selbst heraus legitimiertes Naturrecht. Danach ist jeder Mensch "von Natur aus" mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet – unabhängig von Geschlecht, Alter, Ort, Staatszugehörigkeit oder der Zeit und der Staatsform, in der er lebt.
Die Erkenntnis dieses Naturrechts habe ihren Ursprung aber in der religiös begründeten Ethik des asketischen Protestantismus und seiner wirtschaftlichen Folgen. Als Ergebnis des calvinistischen Kampfes um Gewissensfreiheit sei das absolute Recht des Einzelnen gegen den Staat entstanden; dieses wurde in Verfassungsnormen institutionalisiert und damit unwiderruflich. Auch für Weber markierte das den Ursprung der Moderne.

Die protestantische Genealogie der Menschenrechte hat eine beindruckende Wirkungsgeschichte entfaltet. Sie gipfelte in der bis ins 20. Jahrhundert hinein gültigen These, dass der Calvinismus demokratiefördernd sei, das Luthertum dagegen den Obrigkeitsgehorsam gefördert habe. Über die Debatten der Historiker und Soziologen des frühen 20. Jahrhunderts hinaus wurde sie zur Meisterzählung der politischen Moderne, zur Fortschrittsgeschichte. In ihr hat sich – so 1985 der protestantische Theologe Trutz Rendtorff (1931–2016) – das Prinzip der Moderne mit demjenigen des (calvinistischen) Protestantismus verknüpft.

Inzwischen aber ist eine breite Diskussion darüber geführt worden, inwieweit diese Deutungen nicht ihrerseits zeitgebunden und zudem mit politischen Interessen des frühen 20. Jahrhunderts verknüpft waren. Zum entscheidenden Gegenargument wurde die Feststellung, dass es eine wesenhafte (und damit alle Zeiten überdauernde) Verzahnung von theologisch-konfessionellen Inhalten mit politischen Ordnungsmodellen (etwa Demokratie contra Monarchie) nicht gegeben habe. Diese Kritik wurde zwar schon von Zeitgenossen angedeutet, aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die protestantische Genealogie der Menschenrechte grundsätzlich in Frage gestellt. Eine wesensmäßige Neuzeitfähigkeit des Protestantismus existiert demnach genauso wenig wie ein einziger Ursprung "der" Moderne.

Parallel zur protestantischen Genealogie war im späten 19. und im 20. Jahrhundert eine weitere Meistererzählung entstanden: die Deutung der Reformation als "frühbürgerliche Revolution" durch Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895). Sie ist Teil des universalistischen Geschichtsverständnisses des Historischen Materialismus, der eine stete Höherentwicklung der Gesellschaft in klar begrenzten, historischen Stufen annimmt.

Bauernkrieg und Reformation sind nach dieser Lesart "frühbürgerliche" Stufen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, denn die aus der Sicht des Marxismus zukunftsweisenden Kräfte des Bürgertums und der Bauernschaft schienen für eine kurze Zeitspanne den Übergang vom "Feudalismus" zum "Kapitalismus" (frühbürgerlich) vorweggenommen zu haben. Nach der 1870 von Engels vorgelegten Darstellung und verbindlichen Charakterisierung scheiterten beide Bewegungen. Generell habe sich die deutsche Geschichte als "fortlaufende Misere" erwiesen; auch Luther, der mit seiner Bibelübersetzung den "Plebejern" zunächst ein mächtiges Instrument in die Hand gegeben habe, sei gescheitert, ein Fürstendiener geworden.

In ihrer ersten bürgerlich-theologischen Phase sei die Reformation aber positiv zu bewerten, so Engels. Denn sie habe den ersten Schritt zur "Zersetzung" des Feudalismus getan und damit den Schritt zur nächsten Geschichtsformation des Kapitalismus vorbereitet. Auch dieses mechanistische Stufenmodell enthält einen Fortschrittsgedanken, wenngleich es der marxistischen Geschichtsschreibung nie allein um eine Charakterisierung "der" Moderne ging. Ein Austausch zwischen beiden Konzeptionen fand bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht statt, lediglich in den Geschichtsschreibungen der beiden deutschen Staaten (1949 bis 1989) bestand eine wechselseitige Kenntnisnahme.

Auch die katholische Perspektive auf die Reformation blieb bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts reserviert bis ablehnend. Die These vom Beginn der Moderne in der Reformation wurde als unhistorisch zurückgewiesen, die Spaltung der Christenheit als negativ bewertet. Etliche Historiker unterstrichen stattdessen die enge Einbindung Luthers in die vorreformatorische Theologie.

Die polemischen, auch kirchenpolitisch legitimierten wechselseitigen Verurteilungen endeten in den 1930er-Jahren unter anderem mit den Arbeiten der katholischen Kirchenhistoriker Hubert Jedin (1900–1980) und Joseph Lortz (1887–1975). Sie anerkannten etliche Kritikpunkte, die der Protestantismus formuliert hatte, und schufen damit die Basis für eine allmählich wachsende Kommunikation. Doch stellten sie dem protestantischen Epochenmodell einer kreativen lutherischen Reformation, die durch eine reaktive katholische Gegenreformation abgelöst worden sei, eine neue Begrifflichkeit, die sogenannte katholische Reform, entgegen. Damit wurde auch der katholischen Kirche und dem katholischen Glauben eine Neuzeitfähigkeit zugeschrieben, die Reformation als überflüssig angesehen. In diesen Darstellungen schwang stets mit, dass die Wirkungen der Reformation zwar vielfach unbeabsichtigt gewesen seien, aber als Fehlentwicklungen zu gelten hätten.

Hier setzt neuerdings eine weitere "Meisterzählung" ein, die die Reformation nicht als Teil einer Fortschrittsgeschichte sieht, sondern sie einschließlich aller Wirkungen als "Verfallsgeschichte" bewertet. Die Reformation hat – so der amerikanische Religionshistoriker Brad Stephan Gregory in einem Beitrag 2012 – die mittelalterliche Einheitskirche aufgelöst mit der Folge, dass Hyperpluralismus entstanden ist. Verbindliche Wahrheiten seien durch die Individualisierungen der Lebensentwürfe unmöglich geworden, eine Beliebigkeit der Normen sei an deren Stelle getreten. Diese Ergebnisse seien nicht das direkte Ziel der Reformatoren gewesen, sondern unbeabsichtigt geschehen.

Das Christentum wurde in eine Umwelt versetzt, die alle Transzendenz, also alles, was den Bereich der realen Sinneswahrnehmungen und Erfahrungen übersteigt, ablehnt, es wurde "entbettet". Indem die Autorität der mittelalterlichen Kirche durch das Schriftprinzip ersetzt wurde, kam es zu gegensätzlichen, einander ausschließenden Wahrheitsansprüchen, die sich weder innerhalb des Protestantismus noch zwischen beiden Konfessionen auflösen ließen. Die konkurrierenden Wahrheitsansprüche führten zu wechselseitiger Relativierung, zu heftigen Kämpfen und schließlich zur Marginalisierung des Christentums. Die Reformation war gemäß dieser Meistererzählung der Anfang dieser Auflösungserscheinungen (Detlef Pollack).

Fussnoten

Luise Schorn-Schütte ist emeritierte Professorin für Neuere Geschichte der Goethe-Universität Frankfurt am Main.