Vorbemerkung Die Gelegenheit, meine Vorstellungen zum Lerngegenstand „Die deutsche Teilung" weiter auszuführen und zu verdeutlichen, ergreife ich auch deshalb gern, weil das dazu schon Gesagte in einem weiteren Zusammenhang und unter dem Zwang räumlicher Beschränkung stand Dabei wird in Absprache mit der Redaktion und dem Autor Erich Kosthorst auf eine Fortsetzung der direkten Auseinandersetzung verzichtet, zumal an Erich Kost-horsts Position nach Veröffentlichung bisher nicht zugänglicher Teile seiner Unterrichtseinheit einige neue Akzente deutlich werden. Statt dessen möchte ich eigene Überlegungen zu dem kontroversen Unterrichtsthema zur Diskussion stellen, vor allem aber auf die Stellungnahme Karl-Ernst Jeismanns eingehen, die mir deshalb so außerordentlich wichtig zu sein scheint, weil sie über die Diskussion der Funktion der nationalen Frage im Unterricht zum zentralen didaktischen Problem durchstößt, nämlich der Frage nach dem Verhältnis der Lernbereiche Geschichte und Politik, und dahinter steht nichts anderes als das alte pädagogische Problem der Bestimmung und Legitimation von Zielen des Lernens überhaupt.
Die deutsche Teilung unter sozialpsychologischem Aspekt Das deutsch-deutsche Verhältnis im Bewußtsein der Deutschen läßt sich durch eine Szene anschaulich machen, die am November 1976 über den Bildschirm lief. In der ARD-Sendung „Heiteres Beruferaten" stellte Robert Lembke den Opernsänger Theo Adam vor. Die bei solchen Gelegenheiten übliche Frage „Kommen Sie aus einem deutschsprachigen Land?" wurde bejaht. „Stammen Sie aus der Bundesrepublik?" — „Nein." „Aus Österreich?" — „Nein." Darauf der nächste Frager schon fast im Brustton der Überzeugung: „Sie kommen also aus der Schweiz?" — „Nein." Wieder — klick — ein Fünfmarkstück in das Sparschwein des Gastes und betretenes Schweigen in der Runde. Doch der nächste Fragesteller läßt sich nicht verblüffen: „Vielleicht rechnen Sie, im weiteren Sinne, Holland zum deutschen Sprachgebiet?" — „Nein." (Lembke scheint leicht nervös zu werden; schließlich sind die Niederlande seit mehr als drei Jahrhunderten endgültig aus dem Reichsverband ausgeschieden, und Deutsch wird da auch nicht gerade gesprochen.) Schließlich kommt dem Schweizer Teilnehmer Guido, glaube ich, der rettende Einfall: „Dann kommen Sie aus Ostdeutschland." Er bleibt auch bei „Ostdeutschland", obwohl er sowohl von Herrn Adam, einem Sänger an der Staatsoper in Ost-Berlin, wie von Robert Lembke auf „DDR" verbessert wird. — Ein peinlicher Zufall? Nein, eher ein Symptom dafür, wie weit der Staat zwischen Elbe und Oder dem Bewußtsein der meisten Deutschen entrückt ist. So wird mit Recht vom „Verblassen der gesamtdeutschen politischen Tradition im westdeutschen Meinungsbild" gesprochen; „die Gesellschaft der BRD ist auf dem Wege, die deutsche Frage als solche zu liquidieren" 2).
Im Widerspruch zum öffentlichen Bewußtsein stehen der Auftrag des Grundgesetzes, die offizielle Politik und die öffentliche Erziehung. Zumindest wird man sagen können, daß die Frage nach der nationalen Identität in der breiten Öffentlichkeit eher verdrängt als ausdiskutiert wurde. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung — wie könnte es anders sein — hat sich in das Gegebene geschickt und empfindet die Bundesrepublik einschließlich West-Berlin als nationales Bezugssystem. Das gilt deshalb verstärkt für die jüngeren Bürger, weil alle nach etwa 1940 geborenen einen Sozialisationsprozeß durchlaufen haben, in dem das Deutsche Reich als existierende Größe nicht mehr vorkam. Den Älteren dagegen — und dazu gehören die heute noch in Politik und Publizistik tonangebenden Männer und Frauen — wird aus dem gleichen Grunde, nämlich aufgrund ihrer frühen Sozialisation, eine Einstellungsänderung schwer. So gesehen aber ist ein Wandel nur noch eine Frage der Zeit.
Pädagogisch betrachtet fordert diese Situation die Entscheidung, ob eine Erziehung in Richtung auf die in absehbarer Zeit doch nicht zu verwirklichende Einheit der Nation noch verantwortbar ist. Die Gefahren, die das Lernziel „Gesamtdeutsches Bewußtsein" nach sich zieht, liegen auf der Hand: Entweder sieht die Jugend solche Vorstellungen als leere Lippenbekenntnisse an und tut sie als Unaufrichtigkeiten ab, was zu politischem Zynismus führen würde, oder — und das wäre noch schlimmer — sie nimmt dieses Lernziel wirklich ernst, was ein Irredenta-Klima erzeugen würde, das bei geringem Anlaß zum gefährlichen Ausbruch kommen könnte. Selbst wenn es nur latent vorhanden wäre, hätte es wahrscheinlich bedenkliche Auswirkungen auf die politische Landschaft. Es liegt mir fern, in diesem Zusammenhang das Schicksal der Weimarer Republik zu beschwören, wie das jüngst wieder häufiger geschieht, denn Geschichte wiederholt sich nicht, doch der Aufstieg des Nationalsozialismus und der daraus folgerichtig entstehende Zweite Weltkrieg hatte ohne Zweifel eine seiner wesentlichen Ursachen in der nationalen Frustration der Deutschen.
Als Geschichtsdidaktiker neigt man dazu, den sozialpsychologisch-pädagogischen Aspekt der didaktischen Entscheidungssituation auszublenden. Zu der von Kosthorst vertretenen nationalen Doppelidentifikation, die ich aus psychologischen Gründen für unerreichbar halte, könnte man als Alternative eine gestufte Loyalität für denkbar halten, wie sie Wolfgang Mitter im Hinblick aut einen europäischen Zusammenschluß diskutiert hat Solche gestuften Loyalitäten sind aus dem täglichen Leben wohlbekannt. Die regionalen Anhänger eines Fußballclubs wechseln ihre Sympathien, sobald, zum Beispiel im Europapokal, eine andere Mannschaft die nationale Repräsentation übernimmt. Aber die Stufung von Loyalitäten von der regionalen zur nationalen und vielleicht europäischen Ebene setzt voraus, daß die kleinere Einheit jeweils Teil der größeren Ordnung ist, weil sonst kein in-group-Bewußtsein entstehen kann. Eben dies ist im Verhältnis zur DDR nicht gegeben.
Das Thema im Unterricht Der folgende Vorschlag für eine Unterrichts-einheit geht von der These aus, daß Verständnis für die historischen Ursachen und politischen Möglichkeiten der gegenwärtigen Situation in Mitteleuropa — mit vier bestehenden deutschsprachigen Staaten—-nicht erreicht werden kann, wenn nicht der wechselvolle Verlauf der deutschen Geschichte seit 911 und der Wandel des deutschen Selbstverständnisses in dieser Zeit integraler Bestandteil der Unterrichtsreihe ist. Dabei wird gleichzeitig der Versuch unternommen zu zeigen, daß selbst bei einem solchen vorwiegend historisch ausgerichteten Thema wie „Die deutsche Teilung" ein einziges Fach oder ein Fachbereich, etwa die Zeitgeschichte, allein keinen zureichenden Beitrag zur Entscheidung der didaktischen Probleme leisten kann. Anknüpfend an die Überlegungen zur Behandlung des Mittelalters in der Schule, auf die hier verwiesen werden muß, möchte ich allgemeine Lernziele und Lerngegenstände Vorschlägen, die über die zeitgeschichtlichen Ereignisse hinaus zu einem Unterricht über die deutsche Teilung gehören sollten. Eine Operationalisier-barkeit der Lernziele nach dem Verständnis der behavioristischen Lerntheorie ist nicht angestrebt Der Unterricht könnte in einer 10. Klasse einer Realschule oder eines Gymnasiums, aber auch als Grundkurs in der Sekundarstufe II gegeben werden, ist auch offen angelegt und deshalb leicht auf die jeweiligen Bedürfnisse abzustellen.
Lernziele • (1) Der Schüler soll die gegenwärtige politische Lage und die tatsächlichen Grenzverläufe in Mitteleuropa als Ergebnis der historischen Entwicklungen und Entscheidungen verstehen können;
• (2) er soll zu einem eigenen Urteil über die politischen Möglichkeiten in Gegenwart und Zukunft kommen.
Daraus sollte folgen:
• (3) die Fähigkeit, aus der gegebenen politischen Situation heraus rational be-gründete politische Entscheidungen zu treffen;
• (4) die Befähigung zur Entwicklung eines auf die Bundesrepublik Deutschland bezogenen nationalen Selbstverständnisses.
Unterricht Auszugehen ist in jedem Falle von der Gegenwart 2), denn nur so wird für den Schüler erkennbar, was die Ereignisse und Entwicklungen, mit denen er sich befassen soll, für ihn heute und im Hinblick auf die Zukunft bedeuten. Seit jeher krankte der Geschichtsunterricht daran, daß der Gegenwartsbezug vernachlässigt wurde und das historische Geschehen um seiner selbst willen und nicht explizit begründet im Unterricht einfach „vorkam". In welcher-Reihenfolge und Vollständigkeit die im folgenden genannten Themenkreise im Unterricht erarbeitet werden, mag der Lehrer entsprechend den Vorkenntnissen seiner Schüler, der vorgesehenen Arbeitsweise und der Zahl der verfügbaren Stunden entscheiden. Ich stütze mich auf eine eigene Unterrichtsreihe in der 11. Klasse eines Hildesheimer Gymnasiums aus dem Jahre 1962 : 1) Staaten und Grenzverläufe in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert. Klärung der Begriffe Volk, Staat und Nation.
(2) Die Entstehung des mittelalterlichen deutschen Reiches. Die Entwicklung der Königs-wahl in Deutschland (919, 936, 1125; das Kurfürstenkollegium) und im Gegensatz dazu in Frankreich (Durchsetzung des Geblütsrechts).
(3) Die Bildung des jüngeren Reichsfürstenstandes im Zeitalter Friedrich I. Zerschlagung der Stammesherzogtümer Bayern (1156) und Sachsen (1180) und die Durchsetzung der fürstlichen Landesherrschaft im Zeitalter Friedrichs II. (1220, 1232).
(4) Das Kaisertum und die Kaiseridee Karls des Großen, ihre Wiederaufnahme durch Otto I. und die Romreichsidee Ottos III.
(5) Mission, Siedlungsbewegungen und staatliche Entwicklungen im östlichen Mitteleuropa zwischen 10. und 15. Jahrhundert.
(6) Die Nationwerdung Frankreichs und Englands.
Das Königtum in Frankreich und in England bis zur Schlacht bei Bouvines (1214). Der Hundertjährige Krieg in seiner Bedeutung für die nationale Entwicklung beider Staaten (beispielhaft: Jeanne d’Arc).
Dabei kommt es vor allem auf die Herausarbeitung der unterschiedlichen Entwicklungen in Deutschland (und Italien) einerseits und in Frankreich und England (wie in Spanien, Polen und Rußland) andererseits an, denn im Westen und Osten beginnt — gegen das Reich — die Staats-und Nationwerdung schon im Späteren Mittelalter. Der Unterricht wäre von dieser Zeit direkt auf die Gegenwart hinzuführen, vielleicht kurz exemplarisch verweilend beim Reich nach 1648, dem „monstrum" Pufendorfs als Beispiel für die nationale Zersplitterung. Dann wäre zu behandeln das Scheitern der nationalen Einigung auf demokratischer Grundlage nach 1848 und schließlich Bismarcks Reichsgründung
Nach Abschluß der Unterrichtsreihe müßten die Schüler in der Lage sein, den folgenden Text Hermann Heimpels zu verstehen und im Unterrichtsgespräch zu interpretieren: „. . . nicht in allmählicher Entwicklung, sondern in steiler Höhe ergreifen die Deutschen das Erbe Karls des Großen; spät missioniert, am Rande antiker Tradition, machtvolle Stämme im Notbau des Reiches nur vorläufig integrierend: Verfrühung. Gewaltig und zu schwer die doppelte Aufgabe: Vorschieben der Grenze des antik-fränkisch-christlichen Europa nach Osten, Erneuerung des Kaisertums auf dem fränkischen Weg nach Rom: Überanstrengung. Eine vergängliche Schicksalsstunde fordert die deutsche Schwertgewalt über die Kirche: das elfte, das zwölfte Jahrhundert, Frankreich, das Papsttum, bringen die Kirche, nach damaligem Maße: den Geist, zu sich selbst. Nicht ghibellinisch, kaiserlich, sondern guelfisch, päpstlich, staatlich, bürgerlich sollten sich Welt und Weltmeinung entfalten: staufische Größe und — Isolierung. Die erste große Zeit Deutschlands endet mit einem im Namen der zeitgemäßen Weltmeinung geführten Prozeß, nicht in Nürnberg, doch in Neapel: Konradins Ende. Isolierung, Überanstrengung, dem verfrühten Anfang folgende Verspätung im Werden der Nation sollten lastende Motive«der deutschen Geschichte bleiben. Tragische Isolierung 1914, herausgeforderte 1939. Zweimal Überanstrengung gegen eine Welt von Reserven. Am deutlichsten aber wird der Historiker des kommenden Jahrhunderts das >dritteReich als die grausamste der deutschen Verspätungen, ja als Teil einer Spät-phase überhaupt erkennen. Seit dem dreizehnten Jahrhundert ist entschieden, daß das deutsche Leben sich territorial versplittert; das >Monstrumvon 1648 ist kein Staat wie Frankreich. Die >Nationder großen französischen Revolution entsteht in Deutschland nicht, auch nicht 1848. Die Ideen von 1789, ein freieres und großzügigeres politisches Leben, kommt nicht der deutschen Nation, sondern den Rheinbundstaaten und als Diktat Napoleons, dann, verwandelt, der großen preußischen Reformzeit, und gegen Napoleon zugute. Die Freiheit als Freiheit mehr nach außen als nach innen, die unvollendete Revolution, bindet die National-geschichte an konservative Kräfte, großartig, und doch unvollendet die kleindeutsch-liberale-konservative-militärische Erfüllung und Bändigung der revolutionären Nationalidee durch Bismarck: keine Einheit von Freiheit und Nation, die deutsche Einigung, weil verspätet, ein Schock Europas. Verspätet auch, ein neuer Stoß für die Weltmeinung, der Anschluß an Weltwirtschaft und Weltpolitik vor 1914. Die letzte tragische Verspätung die Teilung Deutschlands von 1945: sie bindet das deutsche Handeln im zwanzigsten Jahrhundert, statt daß es die Nation als unentbehrliches Bauglied Europas voraussetzen könnte, noch einmal an das Ziel ihrer Verwirklichung, an eine Idee des neunzehnten Jahrhunderts."
Zur didaktischen Begründung Karl-Ernst Jeismann hält mir nun eine selektiv entstellende Interpretation des Heimpelschen Standorts vor. Das trifft nicht zu, denn Heimpel ist mir allein Gewährsmann für den historischen Befund. Die Konsequenzen, die er im Jahre 1955 zog, sind andere als die zwanzig Jahre später für unsere Unterrichtsreihe vorgeschlagenen; das historische Urteil ist nicht loszulösen vom Lauf der Politik. Für den Unterricht bleibt wichtig, daß Fakten, Interpretation und Schlußfolgerungen für die Politik vom Lehrer klar als solche unterschieden werden — was allerdings nicht davon entbinden kann, sich für bestimmte Lernziele zu entscheiden.
Jeismann hat den Eindruck, daß mir die Geschichte des Mittelalters zur Rechtfertigung der These diene, „daß der deutsche Nationalstaat heute ein nicht nur nicht zu realisierendes, sondern auch ein nicht wünschenswertes politisches Ziel darstellt". Auf die Berichtigung dieses Vorwurfs kommt es mir sehr an: Ich vertrete die Auffassung, daß der deutsche Nationalstaat ein nicht zu realisierendes und aus diesem Grunde nicht wünschenswertes, deutlicher:
auch pädagogisch nicht anzustrebendes politisches Ziel darstellt. Auch unsere westlichen Verbündeten sind nicht für die deutsche Wiedervereinigung; schon das wirtschaftliche, politische und militärische Kräftepotential der Bundesrepublik wiegt ihnen fast zu schwer.
Legt nicht der Verlauf der deutschen Geschichte nahe, daß eine Machtzusammenballung im Zentrum Europas, wie sie die deutsche Einheit immer verkörpern wird, schon durch ihr politisches Gewicht Hegemonieansprüche und damit Gegenreaktionen der anderen Mächte, also sehr unfriedliche Pozesse, äuslösen muß? Solche politischen Erwägungen lassen sich nicht ausblenden, wenn die deutsche Teilung zum Unterrichtsgegenstand wird, und damit sind wir bei Jeismanns mit Recht bohrender Frage, „ob es ein richtiger didaktischer Griff ist, Geschichte in ein anderes . Lernfeld'einzuordnen", oder ob unter diesen Bedingungen „das politische Lernziel mit den geschichtlichen Einsichten gleichsam Schlitten fährt".
Jeismanns Position, sein Vorschlag, Formen der Kooperation zwischen Geschichte und Politik zu entwickeln, seine Offenheit „je nach Gegenstand und Zielsetzung von einer sich ergänzenden Eigenständigkeit des Unterrichts bis zur Integration", wirkt vernünftig und pragmatisch, und er wird daher zunächst die Mehrheit der Pädagogen und Fachhistoriker auf seiner Seite haben. Doch Jeismann fragt weiter, „ob nicht umgekehrt der Weg beschritten werden sollte, andere Lernfelder, zumal das Lernfeld Politik, aus dem historischen Zusammenhang, in dem es notwendig steht, zu strukturieren". Er beansprucht damit für die Geschichte nichts anderes, als daß sie unabhängig über ihr Lernangebot entscheiden solle, was nur bedeuten kann, die Fachwissenschaft Geschichte liefere auch die Kriterien zur Entscheidung über ihre eigene Repräsentation in der Schule Nimmt man diese Forderung nach didaktischer Selbst-bestimmung für eine Fachdisziplin ernst, dann hätte beispielsweise auch die Assyriologie zu entscheiden, welche Anteile der Disziplin in der Schule zu lehren wären. Was mancher geneigt ist, Germanisten, Historikern und Mathematikern zuzugestehen, müßte auch für Zahn-mediziner, Agronomen und Schiffsbautechniker gelten. Daß das grotesk ist, liegt auf der Hand. Es müßte deshalb Einigkeit darüber zu erreichen sein, daß sich aus den Fachwissenschaften nur in eingeschränktem Ma. e Kriterien für die unterrichtliche Verwertung finden lassen: Uber die grundlegenden Ziele der Erziehung und die obersten Lernziele wird gesellschaftlich entschieden. Solche Entscheidungen, bisher von der Exekutive auf dem Erlaßwege durchgesetzt und auch kaum umstritten, solange die Tradition nicht zu entschieden verlassen wurde, geraten heute, in einer Zeit pädagogischer Reformen und verstärkter politischer Beteiligung der Bürger, zunehmend in die politische Auseinandersetzung und werden mit Recht, auch zur Erhöhung der Transparenz, in die zuständigen Parlamente verlegt. Für unsere Streitfrage heißt das, daß die Geschichte als Wissenschaft gar nicht über ihre eigene Verwendung entscheiden kann, und das liegt keineswegs nur an ihrer Einordnung in ein politisches Lernfeld. Die Lernziele der Unterrichtsreihe, zu deren Begründung wir damit kommen, lassen sich als Antwort auf die Frage formulieren, welche Qualifikationen (unter anderen) ein auch in Grenzsituationen demokratisch handelnder Bürger unseres Staates haben müsse, und auf die zweite Frage, welche Erfahrungen und Erkenntnisse, Einstellungsänderungen und Befähigungen sich aus dem vorgestellten Lerngegenstand gewinnen lassen könnten. Das Verfahren folgt der von Joachim Rohlfes vertretenen Auffassung, daß Lerngegenstände nicht aus Lernzielen ableitbar sind, sondern die Inhalte auf Ziele hin zu konzipieren seien Für die Auswahl von „Bildungsinhalten" hat Saul B. Robinsohn drei Kriterien genannt: die Bedeutung im Gefüge der Wissenschaft, ihre Leistung für Weltverstehen und die Möglichkeit der Anwendung im privaten und öffentlichen Leben Ob von Robinsohn mit der Reihenfolge Prioritäten angedeutet werden sollten, ist nicht erkennbar; mir schiene es vernünftig zu sein, die letzten beiden eng zusammengehörenden Kriterien als didaktische Suchinstrumente einzusetzen, während das erste, die Bedeutung des Bildungsinhalts im Gefüge der Wissenschaft, die abschließende Entscheidungsfunktion übernehmen könnte bei der Wahl zwischen mehreren, möglicherweise für Weltverstehen und Verwertbarkeit im Leben gleich wichtigen Lerngegenständen.
In einem solchen Verfahren kommt der Didaktik eine Art Gelenkfunktion zwischen Politik und allgemeiner Pädagogik einerseits und den Fachwissenschaften andererseits zu: Uber die Richtziele ist gesellschaftlich zu entscheiden aufgrund der politischen Wirklichkeit und der pädagogischen Wünschbarkeit; die Fachwissenschaften stellen inhaltliche Angebote bereit; die Gewinnung von Lernzielen mittlerer Reichweite und Feinzielen, von Lerngegenständen und Verfahren des Unterrichts erfordern didaktische Entscheidungen, die durch Unterrichtserprobung, wenn möglich Unterrichtsforschung, untermauert sein sollten.
In diesem Sinne ist es den Pädagogen der wilhelminischen Zeit überhaupt nicht vorzuwerfen, daß sie das hochmittelalterliche Kaisertum und den Reichsgedanken in den Mittelpunkt des offiziellen Unterrichts stellten. Ich habe darauf nur deshalb hingewiesen, weil ich den engen Zusammenhang zwischen politischem Wollen und historischem Bewußtsein belegen wollte, dessen Förderung durch den Unterricht so lange legitim ist, als das nicht zu wissenschaftlich unhaltbaren Verfälschungen führt, wobei heute hinzukommt, daß man diesen Zusammenhang, auch in der Schule, transparent machen sollte. So ist es legitim, daß einige lateinamerikanische Staaten die Geschichte einheimischer indianischer Hochkulturen an die Stelle des Kanons setzen, der die klassische Antike und das europäische Mittelalter behandelte Das gleiche gilt für die Forderung Gustav Heinemanns, den genuin demokratischen Traditionen in Deutschland mehr Aufmerksamkeit — in Forschung und Unterricht — zu widmen Inwieweit die Geschichte moderner Revolutionen und ihre emanzipationsfördernden und -hemmenden Faktoren im Unterricht in den Vordergrund gerückt werden sollten, wird eine umstrittene Frage sein Die Grenze zur ideologischen Vereinnahmung der Geschichte, wie sie etwa im Germanenkult der Nationalsozialisten und deren Gleichsetzung von germanisch und deutsch zutage trat, wird in den meisten Fällen eindeutig zu ziehen sein.
Das Lernfeld Politik Es bleibt noch das Lernfeld Politik zu begründen. Die Konferenz der Kultusminister der Länder hat im Grunde nichts anderes gewollt, als sie ein „Gesellschaftswissenschaftliches Aufgabenfeld" für die Sekundarstufe II einrichtete, allerdings wenig konsequent, indem die dort angesiedelten Lehrgänge weiterhin Fächern zugeordnet bleiben. Immerhin ist die schulorganisatorische Lage gegenwärtig zumindest formal so, daß die wachsende Komplexität und Interdependenz unserer Welt, in der Primarstufe durch die Sachkunde ebenso wie in Sekundarstufe II, durch Überwindung des herkömmlichen Fachprinzips bewältigt werden sollen, während die Sekundarstufe I ausgenommen bleibt. Wie aber können junge Menschen für das Leben lernen, wenn Themen wie „Kernkraftwerksbau", „Entwicklungsländer" und eben „Die deutsche Teilung" nicht als Problemkomplexe in Lebenssituationen, sondern fein säuberlich nach ihren physikalischen, chemischen, soziologischen, geographischen, politikwissenschaftlichen und den vielen weiteren Aspekten in den entsprechenden Fächern vorkommen? Die Fachgrenzen schaffen eine „Scheidung, die mit den Denkobjekten das Denken selbst zerstückelt und deformiert und einer wahrhaft weiterführenden Einsicht geradezu methodisch den Weg verlegt" Uber Kooperation und Integration der Schulfächer ist in den vergangenen fünfzehn Jahren so viel geschrieben worden, daß es sinnlos erscheint, angesichts der Schulwirklichkeit dafür noch einen Tropfen Tinte zu vergeuden. Kurt Gerhard Fischer hat kürzlich darauf hingewiesen, daß zahlreiche Pädagogen unabhängig voneinander und von unterschiedlichen Standorten aus immer wieder gefordert haben, den fächerüberlasteten Kanon zugunsten weniger, breit angelegter Lernfelder zu überwinden; er nennt Hartmut von Hentig, Saul B. Robinsohn, Heinrich Roth und Theodor Wilhelm Daß Integration keineswegs Reduzierung des Anteils der Geschichte — oder welcher Disziplin auch immer — im Gesamtcurriculum bedeuten müsse, gerade dieses beliebte Gegenargument habe ich versucht, mit den Überlegungen zum Thema „Mittlere Geschichte im Lernfeld Politik" zu widerlegen.
Das jüngste gesamtdeutsche Ereignis, das Schicksal Wolf Biermanns, gibt Anlaß zu einer abschließenden Betrachtung. Auf den ersten Blick könnte das Hin-und Hergeworfensein dieses politischen Barden zwischen Hamburg und Berlin, zwischen West, Ost und West und die zahlreichen Reaktionen in Deutschland die Endgültigkeit der Teilung in Frage stellen, ja, so etwas wie ein gesamtdeutsches Bewußtsein aufkommen lassen. Genau betrachtet zeigt der Fall Biermann aber, was uns trennt: Jede Seite kann sich die Wiedervereinigung nur als Anschluß vorstellen Marxistisch-sozialistisch oder kapitalistisch-demokratisch lautet die Alternative. Das seit der Französischen Revolution zwischen westlichen liberal-demokratischen und östlichen autoritären Vorstellungen hin und her schwankende Deutschland ist auseinandergebrochen und hat je einen Teil in die entsprechende Einflußsphäre entlassen. Ohne eine Umwälzung weltgeschichtlichen Ausmaßes, vor der jede Seite sich fürchten muß, wird der seit 1945 eingetretene Status nicht grundsätzlich geändert werden können. Deshalb wird man — mit Carl Christoph Schweitzer — „echte Zweifel daran anmelden müssen, daß es geboten scheint, an einem Begriff , deutsche Nation'festzuhalten ..."