I. Die Problemstellung
Vorbemerkungen Keine der neueren. Arbeiten zum Thema „Ideologie" verzichtet darauf, auf die Mehrdeutigkeit und unterschiedlichen Verwendungsarten dieses Wortes hinzuweisen 1). Wie in den journalistischen und politischen Sprachgebrauch ist das Wort auch in die politische Didaktik eingedrungen. Gleich den Bedeutungsschattierungen und der diffusen Verwendung in jenen Bereichen zeigt der Terminus auch in der politischen Bildung sein Janusgesicht. Da der Weg zu einem wissenschaftlichen Begriff der Ideologie, der auf eine allgemeine Anerkennung der Fachkundigen hoffen könnte, ebenfalls versperrt zu sein scheint, könnte man geneigt sein, „dem Ausdruck kein akademisches Bürgerrecht zuzuerkennen und ihn in die Sphäre der politischen Publizistik zu relegieren" Diese Alternative wäre aber ebenso unbefriedigend, einmal, weil im Zeichen des Schlagwortes „Ideologie" der wissenschaftlichen Forschung und der allgemeinen Bildung ein Problemfeld erschlossen wurde, das bis dahin praktisch eine terra inkognita" war, und zum anderen, weil der Gebrauch dieses Wortes vielfältige Wirkungen auf das gesellschaftliche Situationsbewußtsein und das soziale Verhalten ausübt. 2. Ideologiekritik und politische Bildung Dieser Sachverhalt gilt insbesondere für die politische Didaktik. Kaum einer der Didaktiker verzichtet auf Ideologie und Ideologiekritik als bedeutsame Kategorie in der politischen Bildung. Dabei ist es zunächst unerheblich, ob es sich um eine zeitbedingte Modeerscheinung oder um das Resultat vertiefter wissenschaftlich-didaktischer Reflexion handelt. Solange die politische Pädagogik dieser Kategorie einen sicheren Platz in Didaktiken und Schulbüchern einräumt, ist eine Auseinandersetzung um ihren Stellenwert, ihre Funktion und ihre wissenschaftstheoretische Ausrichtung unerläßlich.
Seit Bestehen der Bundesrepublik nimmt die Aufklärung über Ideologie oder ihre Anwen-düng, die Ideologiekritik, im politischen Unterricht eine wichtige Rolle ein. Objekte und Methoden der Ideologiekritik haben sich allerdings ebenso wie die Wissenschaftspositionen und -methoden, aber auch wie die politisch-soziale Wirklichkeit der Bundesrepublik gewandelt. Reduzierte sich Ideologiekritik in den „quiet years of consolidation and deideologization" bis in die Mitte der sechziger Jahre in der politischen Bildungsarbeit auf die Analyse totalitärer Ideologien so wandte sie sich unter dem gestiegenen Problem-und Legitimitätsdruck in der westlichen Welt nunmehr der eigenen, nicht totalitär geordneten Gesellschaft zu.
Charakteristisch für die erste, nahezu zwanzig Jahre dauernde Phase der Bundesrepublik Deutschland ist es, daß das Instrument der Ideologiekritik — vornehmlich im Bereich der politischen Bildung — nur nach außen und für die „Vergangenheitsbewältigung", nicht aber für die Gegenwartsanalyse der eigenen Gesellschaft gebraucht wurde So sinnvoll und unerläßlich die Behandlung der Ideologien des 19. und des 20. Jahrhunderts im zeitgeschichtlichen Unterricht auch erscheinen mag, so fragwürdig ist andererseits die Praxis eines Unterrichts, die das herkömmliche und sich als unerschütterlich begreifende Totalitarismustheorem als Seziermesser an eine als „totalitär" abgestempelte Gesellschaft anlegt und schließlich das freilegt, was vor der Operation schon offenkundig war. Die Unzulänglichkeit des analytischen Instrumentariums der herkömmlichen Totalitarismustheorien bewirkte, daß man letztlich auch dort keinen sozialen Wandel mehr ablesen zu können glaubte, wo faktisch sehr wohl einer auffindbar war Gleichzeitig führte diese „kritisch-engagierte — oft mehr engagierte als kritische — Beschäftigung mit dem Totalitarismus" zur Immunisierung der eigenen politisch-gesellschaftlichen Realität und erstarrte im historisch-politischen und philosophischen Unterricht zu einer abstrakten Wert-und Ideenwelt, in der Demokratie zum ontologisch verankerten formalen Ordnungssystem herabsank. Die formale Geltung demokratischer Prinzipien wurde allzugern mit ihrer gesellschaftlichen Realisierung verwechselt. War die „Entideologisierung" des politischen Lebens wie des Unterrichts als eine Periode des Fortschritts empfunden worden, so geriet in der darauf folgenden Phase die Ideologiefreiheit selbst in Ideologieverdacht, ja, sie wurde sogar als Hindernis für eine fortschreitende Entwicklung der Gesellschaft betrachtet. Ideologiekritik avancierte zur zentralen Kategorie politischer Bildung und setzte häufig ihre eigenen Prämissen nicht mehr der Kritik aus
Den veränderten Stellenwert der Ideologiekritik für den politischen Unterricht markierte u. a. die im Rahmen der Frankfurter Arbeiten entstandene empirisch-soziologische Studie von Manfred Teschner, deren Vorbildcharakter für alle weiteren Untersuchungen im Vorwort ausdrücklich von Adorno und von Friedeburg hervorgehoben wird Insbesondere seit den Veröffentlichungen von Habermas rezipierten studentische Minderheiten und andere Autoren die „kritische Theorie", deren methodischer Ausgangspunkt in der inhaltlichen Konfrontation der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit ihren eigenen Ansprüchen und Versprechungen lag Die politisch-pädagogische Wirkung blieb allerdings nicht unproblematisch, wie Hermann Giesekke zutreffend hervorhebt denn indem aus-schließlich gesellschaftsverändernde oder „systemüberwindende" Gesichtspunkte in den Vordergrund gerückt wurden, geriet jede „system-immanente" pädagogische Bemühung zwangsläufig in Ideologieverdacht.
Habermas und andere Vertreter der „kritischen Theorie" hatten zwar die politisch-theoretischen Prämissen tradierter politischer Bildung erfolgreich angegriffen, ihre eigene Position jedoch nicht pädagogisch-theoretisch aufgearbeitet. Ende der sechziger Jahre nahmen sich aus der Studentenbewegung hervorgegangene neomarxistische Autoren dieses Defizits an Bei ihnen herrschten aber politisch-theoretische und vor allem politisch-ökonomische Aspekte vor; das Desinteresse an didaktisch-methodischen Fragestellungen blieb zunächst bestehen Was bei Habermas noch offen und theoretisch nicht bearbeitet war, wurde bei ihnen in der Regel „undialektisch kurzgeschlossen"
Abgeschwächt gilt dies auch für Rolf Schmie-derer für den Demokratisierung Emanzipation, Engagement und politische Praxis Hauptziele der politischen Bildung sind, weil sie der „Humanisierung des menschlichen Lebens", der freien Entfaltung des Menschen und der „Autonomie des menschlichen Lebens" dienen Nach Schmiederer reichen „die intellektuellen und materiellen Ressourcen . . . vermutlich schon heute, mit Sicherheit aber in einigen Jahrzehnten für eine weltweite, alle Menschen umfassende . Gesellschaft im Überfluß" Diese Vision einer Gesellschaft im Überfluß Verleiher ihn schließlich auch dazu, Herrschaft gegenwärtig und zukünftig für obsolet zu erklären, da sie „ihre Legitimation aus der Ökonomie des Mangels" verloren habe. Damit wird jede gegenwärtige und zukünftige Herrschaft „zum Selbstzweck, zum Mittel der Aufrechterhaltung eines Zwangssystems, das allein auf das Interesse der Herrschenden bezogen funktional und ohne positive Funktion für die Gesamtgesellschaft ist" Politische Bildung, die dem Ziel der Emanzipation des Menschen dient, müsse unter den gegebenen Umständen ausschließlich Herrschaftskritik und Ideologiekritik, also kritische Aufklärung sein, die insbesondere „auf eine Kritik der politischen Ökonomie verweist" Obwohl Schmiederer in seinen Schriften zur politischen Bildung und Didaktik sich durchgängig an die Position und Reflexionsmethoden der kritischen Theorie anlehnt, stützt er sich doch in der Verwendung des Ideologiebegriffs mehr auf einen orthodoxen marxistischen Ansatz. Ausdrücklich rekurriert er auf den Ideologiebegriff Werner Hofmanns, nach dem Ideologien gesellschaftliche Rechtfertigungslehren sind, die soziale Gegebenheiten absichern und legitimieren, die von konservierender Natur und „Ausdruck der Interessen des überlegenen Teils der Gesellschaft" sind
Auch bei „links-liberalen" Didaktikern politischer Bildung wie Hilligen Fischer Giesecke und Roloff die nach ihrem Selbstverständnis den „Weg der Mitte" gehen und sich in schöner Regelmäßigkeit üben, die Welt der Didaktiker in „rechts" und „links" einzuteilen fungiert Ideologiekritik als zentrale Kategorie politischer Didaktik, auch wenn dies in der öffentlichen Diskussion von heute leiser gesagt wird als vor einigen Jahren. Feststellbar ist jedoch, daß auch die Didaktiker, die andere Wissenschaftsrichtungen als die der kritischen Theorie vertreten und die beispielsweise Roloff auf dem rechten Spektrum der politischen Didaktik ansiedelt ebenfalls Ideologie und Ideologiekritik zu den politik-wissenschaftlichen Kategorien einer Theorie der Politik als Grundlage politischer Didaktik zählen
Resümiert man die Parade der Didaktiker, so ist im Hinblick auf die von ihnen verwendete Ideologie-Kategorie insgesamt festzustellen (ohne daß im einzelnen hier darauf eingegangen werden kann): 1. In einer Reihe gängiger Didaktiken wird der zugrunde liegende Ideologiebegriff nur unzulänglich und notdürftig bestimmt 2. Die in vielen Didaktiken auffallende fach-wissenschaftliche Abstinenz fördert den biedermeierlichen Rückzug in die Gesinnungsidylle und -lektüre. Der damit korrespondierende generelle Ideologieverdacht gegenüber allen Abweichungen schafft rivalisierende Meisterschulen, die eher ein Freund-Feind-Denken als eine rationale Ideologiekritik fördern. 3. Fast alle „liberalen" und „konservativen" Didaktiker bemühen sich um eine Kombination mehrerer Wissenschaftstheorien. Ohne hinreichende Reflexion der erkenntnistheoretischen und wissenschaftsmethodischen Vereinbarkeit adaptieren sowohl die Anhänger der kritischen Theorie als auch die der normativ-praktischen Philosophie zusätzlich den Kritischen Rationalismus. Während die Sinnbedürftigkeit sie auf ihren Ausgangspositionen beharren läßt, drängt das Fehlen empirisch-analytischer Methoden zum Aus-griff auf den Kritischen Rationalismus. Wenn auch gegen die Berücksichtigung unterschiedlicher Theorien und Methoden prinzipiell nichts einzuwenden ist, ja sie sogar als sinnvoll erscheint, so ist doch in bezug auf das Ideologieproblem und die Ideologiekritik besondere Aufmerksamkeit geboten.
In Anbetracht dieses Sachverhalts scheint es mir notwendig zu sein, in einer systematischen Betrachtung das Ideologieverständnis der im Widerstreit stehenden wissenschaftlichen Richtungen vorzustellen. Dabei kommt es weniger darauf an, nach Ursprung und Bedeutungswandel des Ideologiebegriffs zu fragen als eine Darstellung und Abgrenzung jener Ideologiekonzeptionen vorzunehmen sowie deren Wahrheitsanspruch zu prüfen. Die kritische Reflexion der wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung liefert einmal Maßstäbe für die Analyse der didaktischen Ideologiepositionen und markiert zum anderen den Standort des Verfassers, so daß der Maßstab der kritischen Beurteilung erkennbar wird. Daß nicht alle Varianten der Ideologieforschung berücksichtigt werden können, ist durch den äußeren Rahmen dieser Arbeit bedingt; daß auch nicht alle berücksichtigt werden müssen, ergibt sich aus dem Spektrum der Ideologiebegriffe in der politischen Didaktik. Die Ausführungen selbst sind von dem Interesse geleitet, denjenigen, die sich im Hinblick auf das Ideologieproblem in den Didaktiken vor Schwierigkeiten gestellt sehen, eine kleine Hilfestellung zu geben.
II. Was heißt „Ideologie"?
Für den Versuch, Ideologie in systematischer Weise zu bestimmen, bieten sich mehrere Möglichkeiten an: 1. Da es keine allgemeingültige Definition des Begriffes „Ideologie" gibt, ließe sich fra-gen, ob bestimmte Bezugsebenen, auf die sich ideologische Bewußtseinsformen beziehen, ob also Merkmale, Ursachen oder Motive, Wirkungen und Funktionen von Ideologien zu ermitteln sind, die alle Ideologiepositionen trotz ihrer sonstigen Unterschiedlichkeit gemeinsam haben Wie aus dem Verlauf der weiteren Darstellung hervorgeht, wäre dies allerdings ein recht problematisches Unterfangen. 2. Man könnte den Umfang des Begriffes „Ideologie" als Kriterium für eine systematische Betrachtung wählen. Dann wäre zwischen einem weiteren und einem engeren Ideologiebegriff zu unterscheiden. Der weitere Ideologiebegriff zielt darauf ab, „Bewußt-sein", „Denken", „Vorstellungswelt" und „Gedankensystem" synonym zu verwenden, während der engere Ideologiebegriff das realitätsinadäquate Denken, also falsches Bewußtsein meint. 3. Als ein weiteres Kriterium für eine Systematisierung könnte die Wertigkeit des Ideologiebegriffs dienen. Dabei ließe sich ein Schema entwickeln, das eine Skala von einer eindeutig negativen bzw. pejorativ gemeinten über eine neutrale bis hin zu einer positivwertigen zeigt Der des Begriffes negative Wertakzent des Begriffes drückt sich darin aus, daß „Ideologie" in Gegensatz zur Wirklichkeit und Wahrheit gebracht wird, was sowohl im erkenntnistheoretischen als auch im moralischen Sinne gemeint sein kann. Positiv wird „Ideologie" verstanden, wenn der Wahrheitsgehalt von Vorstellungskomplexen und Überzeugungssystemen analysiert und als bedeutsam für den sozialen Handlungszusammenhang des Menschen begriffen wird
Von den skizzierten Möglichkeiten, die Erörterung der Ideologieproblematik zu systematisieren, soll die dritte gewählt werden, nicht etwa, weil z. B. die Unterscheidung nach dem Begriffsumfang weniger legitim wäre, sondern deshalb, weil die vorzunehmende Kategorisierung der Ideologienlehre in einem funktionalen Bezug zur empirischen Analyse politischer Didaktik steht. Ein erster Überblick aber macht deutlich, daß die Verwendung des Ideologiebegriffes nahezu ausschließlich unter einer Wertakzentuierung erfolgt. Vorherrschend ist ein Ideologieverständnis mit negativem Wertakzent.
III. „Ideologie" in ihren negativen Verwendungsweisen
1. Der Ideologiebegriff bei Marx Obwohl es bei Karl Marx keine prägnante Bestimmung und Ausdifferenzierung des Ideologiebegriffes gibt, kann doch der Begriff aus dem Gesamtwerk nahezu verbindlich extrapoliert werden Zu den zentralen Prämissen derMarx'schen Erkenntnis-und Ideologiekritik gehört die Annahme, daß die materielle Wirklichkeit unabhängig vom Bewußtsein existiert. Wie für jeden Materialismus hat das Sein vor dem Bewußtsein „ontologische Priorität". Marx definiert den Grundaspekt des sozialen Seins als denjenigen Teilbereich des Seienden, der die materiellen Produktionsverhältnisse und -bedingungen umfaßt. Soziales Sein ist somit primär als ökonomische Kategorie zu verstehen. Aussagen über Produktion und „Reproduktion der physischen Existenz" führen zu einer deduktiven allgemeinen Gesellschaftstheorie, die davon ausgeht, daß produktive Aktivität auch soziale Aktivität ist, die entsprechend dem jeweiligen sozialhistorischen Vergesellschaftungsniveau sich durch die Formen der Arbeitsteilung kennzeichnet Arbeitsteilung wiederum bedingt spezifische Eigentumsverhältnisse und Disparitäten in qualitativer wie quantitativer Hinsicht. Die Entwicklung der „Teilung der materiellen und geistigen Arbeit" bildet den eigentlichen Grund für die „SeinsInkongruenzen", das Auseinanderfallen von Sein und Bewußtsein — das Stigma des entfremdeten Subjekts.
Häufig wird Marx zu Unrecht von Kritikern verschiedenster Herkunft ein monokausales und einseitig ökonomistisch orientiertes „Verhältnis zwischen objektivem sozialen Sein und mentaler Produktion" nachgesagt. Hier treffen die Kritiker nur die Position von Vulgärmarxismen, die auf einer verabsolutierten Selektion bestimmter Einzelaussagen von Marx beruht.
Nach Marx selbst ist das Individuum immer Produkt und Produzent der Gesellschaft. Im theoretischen Kontext von Arbeitsteilung und Entfremdung begreift Marx Ideologie zunächst auch nicht als „falsches Bewußtsein", d. h. als falschen Reflex von Gegenständen der objektiven Wirklichkeit im Bewußtsein, sondern eher als Nichtbewußtsein der Abhängigkeit des Bewußtseins vom objektiven so-zialen Sein Allerdings muß gesagt werden, daß Marx den Ideologiebegriff nicht einheitlich gebraucht; insbesondere in den ökonomischen Schriften neigt der Begriff dazu, zum Synonym von überbau zu werden. Durch eine solche Gleichsetzung jedoch nimmt der Ideologiebegriff den „Charakter eines Allter-mes“ an
In erkenntnistheoretischer Hinsicht gewinnt Marx die Möglichkeit, die Ideen als Ausdruck der materiellen Produktionsverhältnisse zu begreifen, aus dem Axiom, daß das Sein das Bewußtsein bestimme. Diese Auffassung nun ist aber nicht mit seinen anthropologischen Voraussetzungen zu vereinbaren. Es ist das Verdienst von Hans Barth, darauf ausdrücklich hingewiesen zu haben: „Schon die Meinung, daß das Bewußtsein nichts anderes sei als das bewußte Sein — eine These, die den Ausgangspunkt für die eigentliche Ideologienlehre Marxens bildet —, läßt sich nicht in Übereinstimmung bringen mit jener grundlegend richtigen Erkenntnis, wonach der Mensch dem Gegenstand das inhärente Maß anzulegen wisse. Denn wenn das allgemeine Bewußtsein nur als die theoretische Gestalt dessen gelten kann, wovon das reelle Gemeinwesen die lebendige Gestalt ist, wenn also Inhalt und Form des Bewußtseins abhängen von der Ordnung der materiellen Lebensbedingungen, dann ist zum mindesten jene Fähigkeit des Menschen in Frage gestellt, die es ihm gestattet, sich als Erkennender der Welt gegenüber sachlich zu verhalten . . . Wenn die materiellen Produktionsverhältnisse das Bewußtsein eindeutig . bestimmen', so tritt beim Menschen an die Stelle der natur-haften Determination, die im Tierreich wirkt, die soziale Determination, durch welche der Mensch zu einer reinen Funktion der realen Verhältnisse degradiert wird.“
Die Erkenntnis des sozialen Seins aber setzt ein Minimum an Freiheit voraus, die unabdingbar für jede Ideologiekritik ist. Die beiden Hauptziele der Marx'schen Ideologiekritik sind die fetischisierten ökonomischen Formen und die scheinautonomen Ideen. Sie sind auf ihren spezifisch menschlichen, d. h. gesellschaftlichen Ursprung hin zu analysieren. Marx geht davon aus, daß nur „tätige und leidende Menschen Träger der geschichtlichen Entwicklung sein können" Da die historischen Epochen nur „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" sind, weil sie eine Geschichte der Entfremdung des Menschen von seinen Produkten ist, die sich durch die Scheidung von Idee und Wirklichkeit auszeichnet, gilt es nach Marx’ teleologischem Geschichtsverständnis, in revolutionärer Tat diese „Unerträglichkeit" der Entfremdung zu beseitigen. Die „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" ist eine Geschichte antagonistischer Kämpfe, die von interessengeleiteten Menschen ausgetragen werden: „Der Mensch ist der . acteur et auteur de son histoire’" und nicht die Ideen. Sie haben nach Marx „keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und Idle Produkte ihres Denkens"
Das ideologische Verhältnis der Menschen zu den wirklichen Verhältnissen resultiert aus „ihrer bornierten materiellen Betätigungsweise und ihrer daraus entspringenden bornierten gesellschaftlichen Verhältnisse" d. h. aus der Entfremdung des Menschen von seinen Produkten. Solange aber die Entfremdung des Menschen und die damit zusammenhängenden Klassenantagonismen andauern, kann „falsches Bewußtsein" nicht aufgehoben werden. Erst die Aufhebung der durch die Arbeitsteilung bedingten gesellschaftlichen Widersprüche schafft die strukturellen Voraussetzungen für die Überwindung „falschen Bewußtseins" Die Ideologie einer bestimmten hi-storischen Epoche, zu der Marx explizit die jeweils herrschenden Vorstellungen auf dem Gebiet der Politik, der Moral, des Rechts, der Philosophie und der Theologie zählt, ist immer die Ideologie der herrschenden Klasse, denn „die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h., die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht"
Nach Marx ist Ideologie also nicht gleichzusetzen mit überwindbaren individuellen Vorurteilen, die den einzelnen zur Verkennung der Wirklichkeit veranlassen, sondern Ideologie manifestiert sich als falsches Bewußtsein von der gesellschaftlichen Realität als Folge der Selbstrechtfertigung der jeweils herrschenden Klasse, welche die Bedingungen ihrer eigenen Existenz nicht kritisch überprüft, sondern im Partikularinteresse befangen bleibt. Sobald die „Herrschaft von Klassen" als Form gesellschaftlicher Ordnung zu existieren aufhört, entfällt auch die Notwendigkeit, ein Partikularinteresse als . Allgemeininteresse'zu deklarieren. Ein ideologiefreier Zustand menschlicher Gesellschaft setzt die Beseitigung kapitalistischer Wirtschafts-und Herrschaftsordnung wie auch die Aufhebung der Arbeitsteilung voraus. Dazu aber ist — wie Marx sagt — „eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig .... die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann" die als letzte im gesetzmäßig verlaufenden Geschichtsprozeß die kommunistische Gesellschaft gebiert, „wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweig ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden"
Und weiter heißt es: „Bei einer kommunistischen Organisation der Gesellschaft fällt jedenfalls fort, die Subsumtion des Künstlers unter die lokale und nationale Borniertheit, die rein aus der Teilung der Arbeit hervorgeht, und die Subsumtion des Individuums unter diese bestimmte Kunst, so daß es ausschließlieh Maler, Bildhauer usw. ist . . . In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keinen Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen." Dieses von Entfremdung, Zwang und Spezialisierung freie und sympathische Arkadien, das Marx in der „Deutschen Ideologie" in den Jahren 1845/46 zeichnet, verträgt sich allerdings kaum mit seiner im Kommunistischen Manifest skizzierten „gesellschaftlichen Regelung" der „allgemeinen Produktion", die hier so aussieht: „Vermehrung der Nationalfabriken . . . nach einem gemeinschaftlichen Plan. . . . Gleicher Arbeitszwang für alle, Einrichtung industrieller Armeen . .
Auf eine Kritik der Marx’schen Gesellschaftstheorie soll an dieser Stelle verzichtet werden; statt dessen soll zusammenfassend nach den entscheidenden Aspekten der Ideologie-kritik von Marx gefragt werden. Seine Ideologiekritik ist im wesentlichen unter zwei Aspekten zu betrachten: 1. Kritisch ist diese Kritik insofern, als sie eine Desillusionierung der Gesellschaft hinsichtlich ihrer eigenen Praxis vornimmt. Die tatsächliche gesellschaftliche Praxis wird enttäuscht. 2. Kritisch ist diese Kritik auch insoweit, als sie sich von den bestehenden Verhältnissen zu emanzipieren vermag, und zwar deshalb, weil sie ein positives Gegenbild zu dem bestehenden gesellschaftlichen Zustand besitzt. Auf dieses Gegenbild hin hat die Veränderung des Bestehenden zu erfolgen. Diese Veränderung bedarf also einer doppelten Bewußtheit: der Bewußtheit dessen, was ist, und der Bewußtheit dessen, was noch aussteht 2. Ideologiekritik und kritische Theorie Die kritische Theorie verdankt ihre Ausprägung der historischen Erfahrung von Faschismus und Stalinismus Adorno und Horkheimer, die zunächst die kritische Theorie konzipierten gingen über den älteren Marxismus insofern hinaus, als sie sich von der arbeitswerttheoretischen Grundlegung in der Kritik der politischen Ökonomie lösten und zu einer Kritik der instrumenteilen Ver-nunft vorstießen, welche sich nicht mehr allein auf den ökonomischen Sektor konzentrierte, sondern den gesamten Bereich der technischen Zivilisation umfaßte. Ebenso kritisch standen sie aber auch der sich in sozialistischen Ländern ausbreitenden instrumenteilen Vernunft als spezifischer Form eines „geheimen Positivismus" gegenüber, in dem die Autonomie-und Glücksansprüche technischer und bürokratischer Rationalität zum Opfer gefallen waren
Die zahlreichen Varianten dialektischer Theorie, die es nicht mehr erlauben, von einer einheitlichen dialektisch-kritischen Theorie zu sprechen, können im einzelnen hier nicht vorgestellt werden. Deshalb sollen sich die folgenden Darlegungen im wesentlichen auf Jürgen Habermas als den Vertreter der dialektisch-kritischen Theorie beschränken, dessen „systematische Reife" von keinem anderen Vertreter dieser Richtung erreicht wurde, wie Münch meint und dessen Einfluß auf die politische Bildung und Didaktik wohl am größten gewesen ist und immer noch ist.
In seinem Aufsatz „Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik" führt Habermas gegen Marx vier Fakten an: 1. Die für den kritischen Ansatz von Marx bedeutsame und in der liberalen Phase der kapitalistischen Entwicklung vorhandene Trennung von Staat und Gesellschaft existiert heute — „im Stadium des organisierten Kapitalismus" — nicht mehr. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist vielmehr durch eine „wechselseitige Verschränkung" gekennzeichnet. 2. Aufgrund des fortgeschrittenen Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten in kapitalistischen Ländern kann sich das Interesse an der Emanzipation der Gesellschaft nicht mehr unmittelbar in ökonomischen Kategorien artikulieren. „. Entfremdung'hat ihre ökonomisch sinnfällige Gestalt des Elends eingebüßt." Herrschaft als die Kehrseite der Entfremdung hat „den unverhüllten Ausdruck eines im Lohnarbeitsvertrag fixierten Gewaltverhältnisses abgestreift" und tritt nun in sublimer und nicht einmal in klassenspezifischer Form im Gewände des „anonymen Zwang(es) indirekter Steuerung" auf. Die auf dem Wege sozialtechnischer Manipulation übersetzten Anweisungen führen zum Gehorsam der Adressaten, die „im Bewußtsein der Freiheit tun können, was sie tun sollen". 3. Diese Entwicklung hat zur Auflösung des Proletariats als revolutionärem Subjekt der sozialistischen Revolution beigetragen. Zwar ist die Masse der Bevölkerung noch insofern „proletarisch", als sie keine faktische Verfügungsgewalt über Produktionsmittel besitzt; da dies aber nicht mehr unbedingt mit dem Entzug sozialer Entschädigungen verknüpft ist, wird die Situation subjektiv nicht mehr als „proletarisch" empfunden. Ein Klassenbewußtsein, erst recht ein revolutionäres, feI hlt. 4. Russische Revolution und Sowjetsystem, die nur eine „Funktionärsund Kaderherrschaft" bewirkten, haben die Marxismus-Diskussion „gelähmt" und sind allenfalls als historisches Modell Entwicklungsländern zu empfehlen.
Indirekt läßt sich aus diesen Kritikpunkten erkennen, daß die Emanzipation des Menschen für Habermas das zentrale Anliegen ist. Er unterscheidet zwischen einer „Emanzipation von äußerer Naturgewalt" und einer „Emanzipation vom Zwang der internen Natur". Diese realisiert sich in dem Maße, als es gelingt, gewalthabende Institutionen abzulösen „durch eine Organisation des gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation gebunden ist" In der uneingeschränkten herrschaftsfreien und reziproken Kommunikation bildet sich die Identität des Ich, die „allein durch die von meiner Anerkennung ihrerseits abhängige Identität des anderen, der mich anerkennt, möglich ist"
Analog zu den naturwissenschaftlichen Theorien, die Produktionswissen bereitstellen, zeigt sich der emanzipatorische Charakter gesellschaftlicher Theorien in ihrem Vermögen, verzerrte Kommunikation, Zwangs-und Herrschaftsverhältnisse aufzuheben Die „Kritische Theorie" hat die begrenzten Kommunikationschancen und asymmetrischen Kommunikationsstrukturen aufzuzeigen, bewußtzumachen und einen Zustand herzustellen, in dem gesellschaftliche Entscheidungen in einer von Gewaltverhältnissen befreiten Diskussion getroffen werden. Die sich im emanzipatorischen Prozeß vollziehende Selbstbestimmung oder Identität ist keine material vorweg zu bestimmende Kategorie, weil sich die wahren und gemeinsamen Bedürfnisse der Menschen erst in einer kommunikativ entschränkten Lebenspraxis herausbilden
Das erkärte Ziel aller Arbeiten von Habermas ist eine „empirische Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht" die sich selbst als bedingtes und bedingendes Element des geschichtlichen Prozesses begreift. Zu den wesentlichen Theorieelementen zählen Geschichtlichkeit, Totalität und Dialektik. Die Analyse historisch-prozessualer Gesellschaft darf nicht auf eine isolierte und additive Betrachtung gesellschaftlicher Einzelphänomene reduziert werden, sondern muß stets im Rahmen einer die augenblicklichen Gegebenheiten transzendierenden gesellschaftlichen Totalität erfolgen. Die der vorgefundenen Real-dialektik entsprechende wissenschaftliche Dialektik hat die gesellschaftlichen Widersprüche, die kontingent, jedoch nicht logisch konsistent sind, zu analysieren. Den empirisch-analytischen Varianten sozialwissenschaftlicher Theorie wirft Habermas ein ausschließliches Interesse an technologischer Verfügung über die natürliche und soziale Realität vor, was nichts anderes als ein Interesse an Herrschaft bedeute. Eine sich als kritisch-praktisch verstehende Sozialwissenschaft dagegen übernimmt die Rolle der Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst. Ihr „erkenntnisleitendes Interesse", ein zentraler Begriff bei Habermas, läßt sich in fünf Thesen zusammenfassen „ 1. Die Leistungen des transzendentalen Subjekts haben ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung. 2. Erkennen ist im gleichen Maße Instrument der Selbsterhaltung wie es bloße Selbsterhaltung transzendiert. 3. Die erkenntnisleitenden Interessen bilden sich im Medium von Arbeit, Sprache und Herrschaft.
4. In der Kraft der Selbstreflexion sind Erkenntnis und Interesse eins. 5. Die Einheit von Erkenntnis und Interesse bewährt sich in einer Dialektik, die aus den geschichtlichen Spuren des unterdrückten Dialogs das Unterdrückte rekonstruiert."
Da nach Habermas ein erkennbares und erkennendes revolutionäres Subjekt, das auf der Agora den herrschaftsfreien und politisch substanziierten Dialog führt, gegenwärtig nicht aufgefunden werden kann, wird der Dialog zunächst zwischen miteinander kommunizierenden Wissenschaftlern stattfinden, denen somit — im Kontext marxistischer Theorie gedacht — die ursprüngliche Rolle des Proletariats zukommt. Diese Annahme stützt sich auf die Habermassche These, daß die Wissenschaft zur wichtigsten Produktivkraft in der gegenwärtigen Gesellschaft geworden sei Der kritisch-dialektischen Wissenschaft fällt die Aufgabe zu, die Bedingungen repressiver Gesellschaftsstrukturen aufzuzeigen und Perspektiven für die Neukonstitution und Fort-entwicklung einer emanzipativen Gesellschaft zu vermitteln; sie stellt sich wesentlich als Ideologiekritik dar. In einer seinerseits kritischen Analyse der „Kritischen Theorie" vermutet Rohrmoser, daß „das Vertrauen in die Kommunikationsfähigkeit von Wissenschaftlern, denen es angeblich um objektive Erkenntnis gehe, .. . das große Maß an Scharfsinn, Gelehrsamkeit und produktiver theoretischer Kraft (erkläre), das Habermas in die Auseinandersetzung mit der empirisch-analytischen Sozialwissenschaft investiert hat. Ohne seine Konzession an die etablierte Wissenschaft der Gesellschaft wäre die subtile Diskussion über die Methodologie in den Sozialwissenschaften unverständlich."
Leider ist ein solches „Vertrauen in die Kommunikationsfähigkeit von Wissenschaftlern" seit den Tagen des Positivismusstreits bisher nicht bestätigt worden. Ob es sich um die tagespolitische, die bildungspolitische oder wissenschaftliche Diskussion handelt, nirgends ist der vermeintliche Dialog frei von Polemik, Emotionalisierung und Unterstellungen. Erst jüngst hat ein renommierter Histori-ker, der die neomarxistisch orientierte „Ideologiekritik“ als Methode auffaßt, „um Wirklichkeit zu bestreiten", in einer klugen, aber polemischen Streitschrift geschrieben: „Was die Neue Linke heutzutage vorführt, ist in erster Linie ein Spektakel, ein Spiel , auf den Brettern, die die Welt bedeuten'. Aufgeführt wird es zwar nicht in den dafür gedachten Schauspielhäusern, aber nichtsdestoweniger auch in einem Theater, nämlich in unseren höheren Bildungsanstalten. Allein in diesem notwendigerweise künstlichen Binnenraum kann das Klima für den makabren Mummenschanz, wie wir ihn vor und auf dem Katheder nun seit Jahren erleben, gedeihen."
Es besteht kein Grund, die bunte Palette fruchtloser Polemik und fetischisierter Verbalinjurien gegen die „Kritische Theorie" hier vorzutragen, es fehlt auch der Platz, die zahlreichen Einwände aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Richtungen hinreichend zu explizieren; deshalb sollen nur die schwerwiegendsten Argumente gegen die „Kritische Theorie" referiert werden: 1. Wolf-Dieter Narr hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Denken in Totalbegriffen sich der Praxis und konkreten Analyse entzieht und allzuleicht zu einem Verzicht auf begründete Analyse führt. Die mit dem Totalitätsbegriff negativ nachgezeichnete Fassade des bestehenden Systems wird mit der „Irrationalität einer Hoffnung konfrontiert" deren Konsequenzen durchaus anders aussehen können, als sie von Habermas erwartet werden. Die zunehmende Differenz zwischen negativ verzerrter Wirklichkeit und den Ziel-normen einer herrschaftsfreien Gesellschaft erzeugt u. U. Frustrationen, die sich in Aktionsformen entladen können, in denen das Verhältnis von Theorie und Praxis schlichtweg kurzgeschlossen wird. Habermas Auseinandersetzung mit der revolutionären Linken ist ein zeitgenössisches Dokument für den Konflikt über das „richtige“ Verhältnis von Theorie und Praxis
Der Vorwurf, die eigene politische und gesellschaftliche Relevanz nicht zu reflektieren, den Habermas gegen die empirisch-analytisch ausgerichteten Sozialwissenschaften erhebt, fällt auf ihn selbst zurück; denn auch in der kritischen Theorie wird der Zusammenhang von Theorie und Praxis nicht zum sozialwissenschaftlichen Forschungsgegenstand erhoben, sondern „nur konstatiert" Problematisiert wird dieser Zusammenhang beinahe ausschließlich an der empirisch-analytischen Wissenschaft.
Selbst wenn man einmal davon ausgeht, daß sich die Partner des wissenschaftlichen Dialogs über die grundsätzlichen Ziele gesellschaftlicher Entwicklung verständigen könnten, so ist immer noch nicht einzusehen, inwiefern von dieser gelingenden Kommunikation eine Veränderung der objektiven politischen Herrschaftsstrukturen zu erwarten ist 2. Von selten der Systemtheorie ist gegen Habermas geltend gemacht worden, daß sein Kontrastmodell zur heutigen Gesellschaft mit den strukturellen Bedingungen moderner Gesellschaften nicht zu vereinbaren sei. Besondere Aufmerksamkeit hat hier der Begriff des „Diskurses" erfahren. Luhmann verweist auf die Tatsache, „daß ein Thema nur eine begrenzte Kapazität für die Aufnahme von Beiträgen hat und daß die thematische Konzentration des Systems die Beiträge in eine sequentielle Ordnung zwingt" Ebenso habe der „Diskurs" einen hohen Zeitbedarf, ein Problem, das Habermas dadurch „wegzufingieren“ suche, indem er für den „Diskurs" als Idealbedingung unendlich viel Zeit fordere. Auch das Prinzip der entschränkten, herrschaftsfreien Kommunikation sei letztlich nicht realisierbar, da sich in Diskussionssystemen neue Rangdifferenzen ausbildeten, weil die „thematische Konzentration der Aufmerksamkeit die Beitragschancen knapp" (S. 331/332) mache und somit Dominanz „in Diskussionssystemen strukturell bedingt und daher im Prinzip unvermeidlich" sei. Aus dem Sachverhalt, daß „Diskurs" weder alle noch die wichtigsten Probleme diskutierender Systeme zu lösen imstande sei, resultiere schließlich, daß auch „Konsens" „nur in sehr begrenztem Umfange die Form begründeter Annahme oder Ablehnung von Argumenten haben" (S. 337) könne
In die gleiche Richtung zielt auch die Kritik von Günter C. Behrmann der darauf aufmerksam macht, daß Habermas'zentrale These eines „kohärenten Gesamtverständnisses" in modernen Gesellschaften nicht einzulösen sei, weil sie auf einem „invariant gesetzten Verständnis der Welt auf bio-, techno-, anthropo-oder soziomorpher Basis" (S. 77) beruhe. Solche konsentierten Gesamtverständnisse von Ich, Gesellschaft und Welt seien aus primitiven Gesellschaften oder allenfalls aus spezifischen Schichten hochkultureller Gesellschaften bekannt, aber für komplexe und sich rasch wandelnde Massengesellschaften irrelevant. Die Problematik der Erzeugung von Gesamtverständnissen komme bei Habermas deshalb „nicht in den Blick, weil sein Begriff des guten Lebens und der wahren Gesellschaft auf dem Paradigma eines voll reziproken Bezugs zweier Personen, also der einfachsten sozialen Struktur" (S. 78), fuße; individuelle Lern-und Handlungsfähigkeit wie auch die Komplexität der Welt erlaubten aber nur eine Problematisierung von Teilbereichen der Wirklichkeit durch das Individuum. Damit seien der Mündigkeit wie auch der Selbstbestimmung Grenzen gesetzt.
Kritik hat auch die Unklarheit des Emanzipationsbegriffes gefunden, und zwar deshalb, weil er zugleich als Zweck, Ziel und Prozeß verstanden werde. Dies führe bei der Einordnung des Begriffes in einen Bezugsrahmen zu einem einfachen Zielmodell, nach dem immer nur eine Variable, d. h. ein Systemelement maximiert werde Konsequent folgt aus derart angelegten ideologiekritischen Strukturanalysen der „Nachweis" von gesellschaftlichen Antagonismen und Dichotomien, selbst wenn diese empirisch schwer zu erfassen sind. 3. Es ist unschwer auszumachen, daß Habermas in der Tradition Rousseaus steht, sowohl was seinen idealisierten anthropologischen Ansatz und die Vorstellung von einer solidarischen Gemeinschaft Gleicher angeht als auch was seine Wendung gegen die institutionellen Systeme moderner Gesellschaften (der Herrschaft und Ökonomie und der davon abhängigen Träger und Vermittler kultureller Deutung) anbetrifft. Behrmann verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß die inneren Unstimmigkeiten und Folgeprobleme nur deshalb nicht sichtbar würden, weil sie ideologiekritisch neutralisiert würden und vor allem auf einer zu hohen Abstraktionsebene angesiedelt seien und somit Fragen konkreterer Ebenen nicht aufkämen Mit zunehmender Abstraktion nähmen aber auch die Möglichkeiten ihrer Deutung und die ideologische Manipulation zu. Dadurch erwachse, wie Behrmann meint, „eine starke Tendenz zur Legitimation totaler Herrschaft" (S. 121), weil die Grenzen politischer Herrschaft nur noch schwer zu bezeichnen seien. Die ungenügende Berücksichtigung des Realisierbarkeitsproblems in der „Kritischen Theorie", die totale Kritik des Bestehenden und der daraus resultierende Alternativ-Radikalismus lassen nach Albert, einem der Hauptantagonisten der „Kritischen Theorie", nur zwei Möglichkeiten offen: Revolution oder Resignation Habermas selbst scheint sich gegenwärtig eher bei der zweiten Möglichkeit aufzuhalten. 3. Ideologie und Werturteil Das Ideologieproblem verdankt seine Existenz im wesentlichen der Einsicht, daß menschliche Erkenntnis von der sozialen Dimension nicht zu lösen ist. Gegen die marxistische Tradition, in der — in ihren jeweiligen Versionen durchaus recht unterschiedlich — soziologische und epistemologische Fragen miteinander verschmolzen werden, wurde bald aus positivistischer Perspektive der Einwand erhoben, daß unter logischen Aspekten Probleme des Entstehungszusammenhangs und der Gültigkeit von Erkenntnissen auseinandergehalten werden müßten. Dem Positivismus geht es gemäß seinem eigenen Selbstverständnis darum, die Wissenschaft gegen jedweden ideologischen Einfluß abzudichten. Dabei nimmt das Wertfreiheitsproblem eine zentrale Rolle ein; man glaubt, ohne das Aufzeigen von Werturteilen eine Abgrenzung der Wissenschaft von Ideologie nicht vornehmen zu können, d. h., Aussagensysteme werden kritisch im Hinblick auf die offene oder versteckte Existenz von Werturteilen untersucht. Zu den bedeutsamen Vertretern dieser Ideologiekritik gehört Theodor Geiger für den das Werturteil als paradigmatischer Fall einer ideologischen Aussage gilt. In erkenntniskritischer Absicht unterscheidet er zwischen erkenntniszulässigen Aussagen über die Wirklichkeit, die er theoretische Aussagen nennt, und erkenntnisillegitimen, d. h. pseudotheoretischen oder paratheoretischen Aussagen. Erkenntnisillegitime Aussagen sind Werturteile, in denen ein subjektives Verhältnis des Sprechenden zu einem Gegenstand objektiviert und „dieses Pseudo-Objektive zum Aussagebestandteil eines Satzes von der Form theoretischer Sachaussagen (gemacht wird. — H. K.) Dies ist illegitim." Geiger will damit aber nicht sagen, daß die Bewertung bestimmter Phänomene illegitim oder gar „falsch im gewöhnlichen Sinne" sei, sondern nur unvereinbar mit der Wirklichkeitserkenntnis die er von einer „pragmatischen oder Existentialwirklichkeit" unterschieden wissen will: „Theoretische oder Erkenntniswirklichkeit ist der Inbegriff der raumzeitlich bestimmten und daher unmittelbar oder mittelbar sinnlich wahrzunehmenden Erscheinungen." Als ideologisch werden demnach bei Geiger alle Aussagen bezeichnet, „die ihrer sprachlichen Form und dem in ihnen ausgedrückten Sinne nach sich als theoretische Sachaussagen geben, die aber theoretische, nicht der objektiven Erkenntnis-wirklichkeit zugehörende Bestandteile enthalten’ Der Ideologiebegriff wird damit ausdrücklich auf den Bereich der Erkenntnis beschränkt. Ideologiekritik avanciert zu einem sprachlogischen und erkenntnistheoretischen Instrument, mit dessen Hilfe die ideologi-sehen von den nicht-ideologischen Aussagen abzugrenzen sind.
Da man allenthalben feststellen kann, daß Aussagen, die eine Mischung von normativen und kognitiven Bestandteilen darstellen, insgesamt auf Erkenntnisanspruch pochen und auf Grund dieser „Legitimation“ Einstellungen und Verhaltensweisen zu beeinflussen und institutionelle Ordnungen zu legitimieren und zu stabilisieren suchen, mag der Versuch Geigers, Wissenschaft und Ideologie in der Weise voneinander zu scheiden, indem er Werturteile als kognitiv maskierte Aussagen ohne kognitiven Gehalt betrachtet, als verständlich erscheinen Nichtsdestoweniger bleibt das Geigersche Unterfangen, das Ideologieproblem vorwiegend als Abgrenzungsproblem auf der Grundlage einer logischen Analyse zu behandeln, recht unbefriedigend Ferner ist Geiger von verschiedenen Seiten zu Recht vorgeworfen worden, daß seine Illegitimitätsthese schließlich selbst unter die Kategorie der Werturteile falle. Er orientiere sich bei seiner Abgrenzung der Ideologie letztlich an einer These, die selbst als ideologisch zu betrachten sei Die beispielhaft durchgeführten Abgrenzungsdemonstrationen, die Geiger in Kapitel IV (Das Werturteil — eine ideologische Aussage) vornimmt, zeigen den Unsinn einer solch sprach-logisch isolierten Betrachtungsweise, wenn z. B.der Satz „Hyazinthen sind wohlriechend" (S. 47) als ideologische Aussage dargestellt wird. Daß man keinesfalls auf die Analyse des sozialpsychologischen und sozialökonomischen Kontextes verzichten kann, weil der bloße Logizismus für die Erklärung von Phänomenen nichts leistet, verdeutlicht dieses Beispiel recht anschaulich.
In gewisser Weise tendiert Geiger auch mit seinen definitorischen Festsetzungen zur Dogmatisierung, weil er den Ideologiekritiker der Notwendigkeit enthebt, mit denen zu diskutieren, deren Produkte er als ideologisch qualifiziert. Die erkenntnistheoretisch und sprachlogisch orientierte Definition von Ideologie hat Geiger zwar den Vorwurf eingetragen, sei nichts an sein -deres als eine „modern aufgezäumte Variante der essentialistischen Frage nach dem Wesen der Ideologie" und „de facto Teil einer typisch ideologischen Fragestellung, des Rechtfertigungsproblems" andererseits wird aber von eben diesen Kritikern auch auf eine Reihe wichtiger Einsichten Geigers hingewiesen, z. B. in die Art und Weise, wie interessenbedingte Verfälschungen unserer Erkenntnis zustande kommen oder welchen Einfluß berufsbedingte Sichtweisen auf das Denken haben Wenngleich durch diese Hin-wendung zur soziologischen Erklärung auch ein logischer Zusammenhang zwischen diesen beiden Fragestellungen nicht einzusehen und von dem theoretischen Ansatz Geigers her auch nicht herzustellen ist, so steuert doch schon die Akzentuierung des soziologischen Erklärungsproblems in eine Richtung, die für die Ideologieproblematik von größerer Bedeutung ist als das Abgrenzungsproblem. So konzentriert sich Geiger bei der Analyse einzelner Beispiele auf Verfahrensprobleme und die Ermittlung von Strategien, die für das ideologische Denken typisch sind. 4. Das Ideologieproblem In kritizistischer Perspektive Ausgehend von der Überlagerung der beiden Problemstellungen (Abgrenzungs-und Erklärungsproblem) bei Geiger nimmt sich Hans Albert, der wohl bedeutendste Vertreter des Kritischen Rationalismus in der Bundesrepublik, des Ideologieproblems „in kritizistischer Perspektive" an. Sein Interesse ist primär auf die Erklärung der Verursachung und der sozialen Funktion von Ideologien ausgerichtet. Ähnlich wie Geiger bekennt er sich uneingeschränkt zur Aufgabe der sozial-wissenschaftlichen Intelligenz, die darin besteht, im Rahmen der Machtkritik in destruktiver Absicht „die ideologische Propaganda der herrschenden Mächte" zu bekämpfen die auf diese Weise gezwungen werden sollen, ihre Interessen mit eigenen Waffen auszufechten, anstatt das „Arsenal des wissenschaftlichen Denkens zu plündern, um ihre Ziele zu rechtfertigen" Zu den Hauptmerkmalen, die den Ideologie-Charakter eines Aussagensystems ausmachen, zählt Albert die Unwahrheit und die darauf beruhende politische Brauchbarkeit
Das Ideologieproblem stellt sich hauptsächlich als methodologisches Problem dar. Der Kritische Rationalismus verfährt nicht mehr nach dem klassisch-methodologischen Prinzip der zureichenden Begründung, sondern nach dem Prinzip der kritischen Prüfung, dem die Auffassung zugrunde liegt, daß „alle Sicherheiten in der Erkenntnis ...selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos" sind. In methodischer Hinsicht bedeutet das für den kritizistischen Standpunkt, daß politische Problemlösungen nur als Hypothesen zu begreifen sind, selbst wenn die „herrschende Ideologie" sie für sakrosankt erklärt. Der Kritische Rationalismus, der bewußt an Kant anknüpft und so die Tradition der Aufklärung fortsetzt, ist eine „Theorie der Fehlbarkeit menschlicher Vernunft" was zur Folge hat, daß es weder in der Wissenschaft noch im sozialen und politischen Leben nichtrevidierbare Problemlösungen geben kann. Insofern sind für den Kritischen Rationalismus auch Konzeptionen einer herrschaftsfreien, konfliktlosen oder harmonischen Gesellschaftsordnung stets verdächtig, aber nicht deswegen, weil sie gegenwärtig praktizierte Lösungen und Zustände kritisieren, sondern weil sie sich selbst immunisieren und einer kritischen Prüfung widersetzen und schließlich weil von ihnen in der Regel keine realisierbaren Alternativ-VorSchläge zur Lösung sozialer Probleme ausgehen Für eine rationale Sozialkritik aber darf das „Problem der Realisierbarkeit" nicht unberücksichtigt bleiben. Dabei kommt den nomologischen Wissenschaften eine besondere Aufgabe zu, nämlich Funktion und Grenzen der Realisierbarkeit aufzuzeigen — ein Sachverhalt, der sie „bei Verfechtern utopischer Auffassungen meist unbeliebt macht" weil diese nur radikale und meist recht abstrakte Alternativen in Betracht ziehen und propagieren, die weder kritisch zu überprüfen noch auf die Folgekosten (im sozialen Sinne) hin abzuschätzen sind.
Wenn man den Gegenstand der Ideologiekritik allgemein bestimmen will, so wird man untersuchen müssen, wie die sozialen Beziehungen einer Gesellschaftsordnung oder kleiner Teilbereiche innerhalb einer solchen Ordnung geregelt und legitimiert oder wie auch einzelne Handlungen und Tatbestände im Rahmen dieses Systems gerechtfertigt werden Gegenstand der Ideologiekritik sind also Gedankensysteme oder kognitive Theoriensysteme, die eine solche Legitimation leisten. Die Ideologiekritik übernimmt die Funktion, den kognitiven Wahrheitsanspruch bestimmter Gedankensysteme oder Theorien zurückzuweisen und zugleich theoretische Alternativen zu erarbeiten. Zielt allerdings eine politische Theorie z. B. auf den Nachweis der Gerechtigkeit einer sozialen Ordnung, so kann der Ideologiekritiker nur die Unentscheidbarkeit des Wahrheitsanspruches feststellen, weil es sich um eine Leerformel handelt; er dürfte kaum imstande sein, die Theorie als inhaltlich falsch zu erkennen. Dazu müßte er die Frage vielmehr so operationalisieren, daß er — zwar nicht grundsätzlich — die praktische Frage von der technischen unterscheidet. Was heißt das? Während die praktische Frage darauf ausgerichtet ist, ob eine Gesellschaft die Prädikate der Gerechtigkeit auszeichnen sollen, und die singuläre kognitive Frage dahin geht, ob sie sich auch tatsächlich auszeichnen, befaßt sich die allgemeine technische kognitive Frage mit der „Erhaltung, Erweiterung und gleichen Verteilung von Lebenschancen" und untersucht die gesellschaftlichen Regelungen, die „als Bedingungen ihrer Realisierung zu gelten haben"
Münch sagt mit Recht, daß „das unterscheidende Merkmal der beiden Problembereiche . .. die Bedeutungsvarianz der angesprochenen Prädikatszeichen (sei), der zufolge wohl dem Ausdruck , Erhaltung, Erweiterung und gleiche Verteilung von Lebenschancen'eine präzisere Bedeutung zugeordnet werden (könne), während die Bedeutung des Wortes . Gerechtigkeit'weniger bestimmbar (sei)"
Eine auf eine gerechte Gesellschaftsordnung ausgerichtete Sozialtheorie bleibt so lange ideologisch wirksam, als die Unentscheidbarkeit ihres Wahrheitsanspruches nicht erkannt wird. Um die Resistenz solcher Deutungsmuster zu reduzieren, muß der Informations-und Bedeutungsgehalt dieser Theorien ideologie-kritisch überprüft werden. Nun darf aber keine spezifische inhaltliche Gesellschaftstheorie die Grundlage einer solchen Ideologiekritik sein, weil auch sie ihren Geltungsanspruch der Kritik, die sich an der Wahrheit orientiert, auszusetzen hätte
Während für die Ideologiekritik des umfassenden Kritizismus das sogenannte Werturteilsproblem ziemlich irrelevant ist hat der Wahrheitsbegriff eine zentrale Bedeutung. Nicht zuletzt deshalb ist auch von dialektischer Seite eine Reihe von Einwänden gegen ihn vorgebracht worden. Gegen die für den Kritischen Rationalismus konstitutive Korrespondenztheorie setzt Habermas die Konsenstheorie der Wahrheit Zum besseren Verständnis seien beide Wahrheitsbegriffe kurz erläutert: Um die Korrespondenz-theorie der Wahrheit handelt es sich dann, wenn Realität und Aussage kongruent sind. Zum Beispiel ist die Aussage „Die Bundesrepublik verfügt über eine ungleiche Verteilung der Lasten, Privilegien und Güter“ nur dann wahr, wenn in der Bundesrepublik tatsächlich Lasten, Privilegien und Güter ungleich verteilt sind. Habermas, der die Korrespondenz-theorie unter die „ontologischen" Wahrheitstheorien einreiht skizziert dagegen eine Konsenstheorie der Wahrheit, für welche die Wahrheit einer Aussage erst dann vorliegt, wenn die Diskurs-Teilnehmer in der betreffenden Frage zu einem Konsens gelangt sind Auf unser Beispiel angewandt bedeutet das: Die Aussage „Die Bundesrepublik verfügt über eine ungleiche Verteilung der Lasten, Privilegien und Güter" ist erst dann wahr, wenn die Teilnehmer eines Diskurses über diese Aussagen einen Konsens erzielt haben Auf die vielfältigen Kontroversen um diese beiden Wahrheitstheorien kann hier im einzelnen nicht eingegangen werden. Für Popper, der es für gänzlich verfehlt hält, anzunehmen, „daß die Objektivität der Wissenschaft von der Objektivität des Wissenschaft-lers abhängt" setzt die Korrespondenz-theorie der Wahrheit folgende Unterscheidung voraus: Es muß unterschieden werden zwischen — der ersten Welt der physischen Tatsachen, — der zweiten subjektiven Welt, zu der die Beziehungen zwischen Personen und Aussagen in der Form ihrer Produktion und Akzeptierung gehören, — und der dritten Welt der Aussagen, die eigenständige Bedeutungsgehalte darstellen
Die Frage der Wahrheit aber ist ausschließlich an die dritte Welt der Eigenschaften und Strukturen von Theorien zu stellen. Analog der Tarskischen Wahrheitsdefinition, auf die sich Popper bezieht, bedeutet „Wahrheit", daß die Vorgänge so ablaufen, wie es dem Aussagegehalt entpricht
Zusammenfassend lassen sich die Aufgaben der Ideologiekritik aus kritizistischer Perspektive nach Albert nun folgendermaßen bestimmen — Ideologiekritik darf sich nicht primär als „Sprachreinigungsunternehmen" zur Diffamierung spezifischer Wort-und Aussagearten verstehen. — Ideologiekritik hat die Funktion, die Ergebnisse und Methoden kritischen Denkens für die Bildung des sozialen Bewußtseins und der öffentlichen Meinung fruchtbar zu machen, um so die Irrationalität des sozialen Lebens zu verringern. — Ideologiekritik hat zur Förderung einer Erziehung zu rationalem Problemlösungsverhaiten und zur Entfaltung eines Denkstils nach dem Modell Kritischer Rationalität beizutragen. — Ideologiekritik hat Methoden zu lehren, die den einzelnen zu einem selbständigen Urteil befähigen und ihn somit in die Lage versetzen, Strategien der Immunisierung, der Verdunkelung, Vernebelung und Verklärung, also: dogmatische Verfahrensweisen zu durchschauen. — Eine so praktizierte Ideologiekritik stärkt die Immunität der Mitglieder einer Gesellschaft gegen irrelevante Arten der Argumentation und macht offen für echte und relevante Kritik. — Der Ideologiekritik fällt die Aufgabe zu, bestimmte Vorurteile, die dem heutigen Stande der Erkenntnis nicht mehr entsprechen, zu korrigieren, insbesondere solche Vorurteile, die sozial und politisch sehr wirksam sind. Dies soll nicht bedeuten, daß die Kritik an herrschenden Werten zugleich auf die Herstellung eines Wert-Vakuums zielt. — Ideologiekritik muß sich selbst als abhängig vom jeweiligen Stande der Erkenntnis begreifen und darf sich nicht als unanfechtbare und absolut sichere Erkenntnisinstanz gerieren. Eine perfekte Reinigung des Bewußtseins von allen sozial wirksamen Irrtümern ist nach kritizistischer Auffassung unmöglich. — Im Interesse einer Breiten-und Tiefenwirkung einer so verstandenen Ideologiekritik sollte auch auf Mittel der Literatur und Kunst zur Aufklärung und Bewußtseinsschärfung nicht verzichtet werden. — Fragen ideologiekritischer Wirksamkeit — also pragmatische und technologische Fragen — sind unter Berücksichtigung psychologischer, soziologischer und politikwissenschaftlicher Gesichtspunkte zu betrachten.
Albert liefert mit seiner wissenschaftstheoretisch und methodologisch begründeten Pro-grammatik der Ideologiekritik entscheidende Voraussetzungen für eine didaktische Kategorie
IV. Ideologiekritik und Wissenssoziologie
Während für Marx Ideologie „falsches Bewußtsein" war, das aus der Selbstrechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft und deren unkritisch akzeptierter eigener Existenz resultierte und sich somit als partikulares, klassenspezifisches Vorurteil darstellte, entwik-kelte sich die Ideologiediskussion im Anschluß an die Bewußtseinsphilosophie Kants, an Hegel, Marx, Nietzsche, Dilthey sowie an Max Scheler zur Wissenssoziologie, als deren Hauptvertreter Karl Mannheim gelten kann, der mit seinem bekannten Werk „Ideologie und Utopie" Ende der zwanziger Jahre erhebliches Aufsehen erregte.
Im Gegensatz zu Marx faßt Mannheim Ideologie als Weltanschauung und Denkweise auf, die notwendig mit einem historischen und sozialen Sein verbunden ist. Jedes auf die Gesellschaft bezogene Denken ist damit ideologisch. Der gravierende Unterschied zwischen dem Ideologiebegriff von Marx und Mannheim liegt darin, daß für Mannheim Ideologiehaftigkeit jedes Denken kennzeichnet, das nur durch Relationierung unterschiedlicher sozialer Perspektiven überwunden werden kann, während bei Marx die Ideologiehaftigkeit des Denkens durch gesetzmäßige und geschichtlich fortschreitende Entwicklung des Produktionsprozesses und der dadurch bedingten gesellschaftlichen Strukturen notwendig aufgehoben wird. Die entscheidende Differenz der Ideologiebegriffe basiert auf der unterschiedlichen Theorie des sozialen Seins als Grundlage des Ideologiebegriffs: Marx begreift soziales Sein vorwiegend als ökonomische Kategorie, Mannheim dagegen hat keine explizite Theorie des Seins. Sein ist bei ihm eher eine metaphysische Kategorie
Die Ideologiebestimmtheit menschlichen Denkens ist für Mannheim so umfassend und konstitutiv, daß selbst die Annahme der Erkennbarkeit der Wahrheit als Selbsttäuschung erscheint. Einhergehend mit dem immer stärker werdenden Eindringen der Politik in die Öffentlichkeit ist auch das Mißtrauen in jede Vermittlung eines Sachverhalts gewachsen, weil man in ihr stets eine interessenbedingte Verschleierung vermutet. Diese „enthüllende Einstellung" ist nach Mannheim „ein Grundzug unserer Zeit", die er als eine „Epoche der Transformation" versteht, welche schon „mit so vielen, für uns bereits unerträglich gewordenen Hüllen und Formen" gebrochen hat und „diese Haltung notgedrungen auf sich nehmen muß" Das Mißtrauen gilt für beide Ideologiebegriffe, die Mannheim unterscheidet: sowohl für den partikularen als auch für den totalen. Der partikulare Ideologiebegriff ist auf der psychologischen Ebene angesiedelt Er hat sich ganz allmählich von dem einfachen Begriff der Lüge abgehoben und meint auch nur „einen Teil der Behauptungen des Gegners". Bei der partikularen Ideologie kann es sich „um eine ganze Skala von der bewußten Lüge bis zur halbbewußt instinktiven Verhüllung, von der Fremdtäuschung bis zur Selbsttäuschung handeln" Die Differenz zur totalen Ideologie besteht darin, daß Lügen noch enthüllt und Täuschungsquellen noch geläutert werden können. Der Ideologieverdacht ist letzten Endes noch nicht radikal Der totale Ideologiebegriff dagegen stellt „die noologische Sphäre des Bewußtseins in Frage" und ist durch „radikalen Zweifel" und „radikale Destruktion", die sich auf der ontischen und noologischen Ebene vollziehen, geprägt.
Der totale Ideologiebegriff bezieht sich auf die gesamte Weltanschauung und Bewußtseinsstruktur nicht nur von Individuen, sondern ebenso von Gruppen, Klassen oder historischen Epochen. Es geht nicht mehr darum, Kausalbeziehungen zwischen ideologischen Vorstellungen und Vitalfaktoren aufzuzeigen, sondern „Entsprechungen oder Manifestationsbeziehungen" zwischen Bewußtseinsoder „Aspektstruktur einer Klasse, Gruppe etc. und ihrer „sozialen Seinslage" herauszuarbeiten Die aus der Ideologienlehre sich so entwikkelnde Wissenssoziologie hat als „Lehre von dem Phänomen der Seinsgebundenheit des Wissens" nicht nur das klassenbedingte „falsche Bewußtsein" des Klassenfeindes zu enthüllen (wie bei Marx), sondern sie hat auch die eigenen Denkgrundlagen als standortgebunden zu erkennen und zu relativieren. An die Stelle der mit politischen Waffen durchgeführten ideologischen Demaskierung möchte Mannheim die historisch-soziologische Forschungsmethode der Wissenssoziologie setzen, nach welcher die Vielfalt von politischen Programmen, Deklarationen, unterschiedlichen Deutungssystemen und der sie tragenden Teilgruppen auf ihre „Seinsgebundenheit" hin untersucht werden.
Geht man jedoch davon aus, daß jedes Denken als unbedingt standortgebunden anzusehen ist, dann fällt es schwer, noch objektive Kriterien der Gültigkeit für soziales Wissen zu finden. Um der totalen Relativierung allen Denkens zu entgehen, führt Mannheim zwei objektive Gültigkeitskriterien ein: das der Lebenspraxis und das des Relationismus. Das Kriterium der Lebenspraxis übernimmt die Aufgabe zu entscheiden, ob geistige Einstellungen und Haltungen sich für ihre Träger bewähren, Erfolg haben und der Realität entsprechen. Es entscheidet auch darüber, ob es sich bei verschiedenen Deutungsoder Ideen-systemen um Utopien oder Ideologien handelt. Wie Ideologien sind auch Utopien seins-inkongruent; letztere zielen nur auf die radikale Veränderung der Gesellschaft. Das Kriterium des Relationismus als Verfahren der Wissenssoziologie bezeichnet nach Mannheim die Gegenüberstellung und den Vergleich unterschiedlicher Teilansichten von Gruppen, deren Geltungsrelevanz noch nichts über ihre „Wahrheitsrelevanz" aussagt. Durch „Relationieren" wird allerdings die „Wahrheit" der sich im historischen Prozeß ablösenden gruppenspezifischen Teilansichten ermittelt
Auf Grund gemeinsamer Bildungsvoraussetzungen und sozialer Distanz zu den festen Gruppeninteressen fungiert die „sozial freischwebende Intelligenz" als analytisches Subjekt, das die disparaten Weltanschauungen deren jeweiligen Trägern vor Augen führt und so die Dynamik von Klassenkämp-fen entschärft und die widerstreitenden Gruppen auf eine „sozialgeistige Mitte" hin ausrichtet
Es ist sicher ein Verdienst Mannheims, darauf hingewiesen zu haben, daß individuelle Bezugs-Rahmen, Einstellungen und Überzeugungen in Faktoren des sozialkulturellen Milieus verankert sind und es ist ebenso bedeutsam, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß auch das wissenschaftliche Denken sich nicht in einem absolut wertfreien Raume vollzieht und von gesellschaftlichen Einflüssen völlig zu isolieren ist; dennoch muß das nicht bedeuten, daß wissenschaftliche Denkergebnisse von vornherein im Sinne von parteiisch und interessengebunden ideologisch sind Dieser wichtige Unterschied bleibt bei Mannheim leider etwas unklar, was nicht zuletzt daran liegt, daß er allzu undifferenziert von „Denken", „Wissen" und „Bewußtsein"
spricht, ein Umstand, der es ihm unmöglich macht, zwischen Tatsachenerkenntnis und verschiedenen werthaft-weltanschaulichen Inhalten menschlichen Bewußtseins zu unterscheiden. Insbesondere aus der vagen Bestimmung des zentralen Begriffes „soziales Sein"
und des damit verbundenen totalen Ideologie-begriffes resultiert die Unbrauchbarkeit dieses Ideologiebegriffes als Forschungsinstrument. Manfred Hättich hat zutreffend darauf hingewiesen, daß ein Ideologiebegriff, „der die Abhängigkeit des Denkens von in der Person des Denkenden und seiner sozialen Situation liegenden Bedingungen" meint, „eine so allgemeine Tatsache" trifft, „daß er nicht geeignet ist, ein von anderen Weisen unterschiedenes Denken zu charakterisieren" Theodor Geiger, einer der schärfsten Kritiker Mannheims, hat diesen gar des „Panideologismus" bezichtigt und Topitsch, der die Kritik Geigers zitiert, äußert den wohl nicht unbegründeten Verdacht, daß entgegen den Intentionen Mannheims dieser „Panideologismus" allzu leicht in den Dienst von Denkbestrebungen gestellt werden kann, die die Idee einer möglichen objektiven Wahrheitser-kenntnis überhaupt zugunsten der These von der Ideologiehaftigkeit allen Denkens preisgeben, um auf diese Weise eigene interessengebundene Behauptungen der allgemeinen wissenschaftlichen Kontrolle zu entziehen
Fraglich in der Ideologiekonzeption Mann-heims bleibt auch die „sozial freischwebende Intelligenz"; denn ihre Absolution von der „Seinsgebundenheit alles Denkens" kann nicht so recht überzeugen.
V. „Ideologie" in ihren positiven Verwendungsweisen
1. „Ideologie“ als orientierendes und integrierendes Steuerungssystem Der Schritt von einer neutralen Fassung des Ideologiebegriffes, wie sie bei Mannheim vorliegt, zu einer positiven Verwendung des Begriffes ist nicht allzuweit. Aus der „Energetik der menschlichen Geschichte" geht für Eugen Lemberg eindeutig hervor, daß eine Theorie der ideologischen Systeme sich nicht auf bloße Ideologiekritik beschränken darf. Er hält zwar die ständige Kontrolle der Ideologien auf ihren Wahrheitsgehalt hin für notwendig, ist aber im übrigen der Ansicht, daß das „dem Wesen und der Funktion der Ideologien nicht gerecht" wird Erst ein „Studium der Funktion" der Ideologien, das er eine „Konstruktionslehre der ideologischen Systeme" nennen möchte, führt seiner Meinung nach aus der „Sackgasse der Wissenssoziologie" heraus Lemberg legt einen Entwurf einer Theorie der ideologischen Systeme vor, der in neun Thesen zusammengefaßt werden kann
1. Analog zu den Verhaltensdispositionen der Tiere, die durch Instinkte bestimmt sind, stehen den Menschen neben Resten solcher Instinkte Systeme von Vorstellungen, Werten und Normen zur Verfügung, welche man als ideologische Systeme bezeichnen kann.
2. Diese ideologischen Systeme haben die Funktion, den Menschen in seiner Umwelt zu orientieren, d. h., sie geben Auskunft über Ursprung, Ziel und den Sinn des einzelnen Lebens wie auch der Weltgeschichte. Sie organisieren die Rangordnung der Werte und „grenzen die eigene Gruppe gegen Fremde und Barbaren" ab und machen damit eine gesellschaftliche Gruppe erst funktionsfähig. 3. Die Wirkung des ideologischen Systems hängt davon ab, daß es geglaubt wird. Jede Gesellschaft betrachtet das in ihr herrschende ideologische System als die Wahrheit. Ideologische Systeme haben nicht die Aufgabe, den Menschen die Wahrheit mitzuteilen, sondern sie in ihrer Umwelt zu orientieren, zum Handeln zu veranlassen und ihr Verhalten zu steuern. Der Wahrheit kommt nur ein instrumentaler Charakter zu. 4. Es gibt vielfältige Typen solcher ideologischer Systeme. Die Variationsbreite reicht von relativ freien bis zu völlig dogmatischen Systemen. Als die ursprüngliche Erscheinungsform ideologischer Systeme sind die Religionen anzusehen. 5. Ideologische Systeme zeichnen sich durch die ständige Ambivalenz aus, sowohl Integrationsfaktor für große gesellschaftliche Gruppen zu sein und somit eine harmonisierende Funktion auszuüben als auch auf Grund der Wertbetonung und Überbetonung der eigenen Gruppe zu Haß, Fanatismus und Verbrechen zu erziehen. Der Dualismus von Glauben und Wissen erscheint Lemberg als „grundlegendes Konstruktionsprinzip der Gattung Mensch" (S. 324). 6. Ideologische Systeme erheben Monopolanspruch. Wo aufgrund schwieriger Zivilisationsprozesse die Verbindlichkeit eines Weltbildes und eines Werte-und Normensystems schwindet, treten Desintegrationserscheinungen auf. Als spezifische Folge einer solchen Situation kann die Entstehung einer neuen Ideologie — der auf dem Prinzip der Toleranz fußenden Ideologie einer pluralistischen Gesellschaft — angesehen werden. Für sie wiederum gelten strukturell ähnliche Bedingungen wie für andere ideologische Systeme. 7. Auch die Dominanz eines ideologischen Systems unterliegt einem Wandel, dem ein dialektisches Prinzip zugrunde liegt: die Dialektik der Ideologie. 8. Für den einzelnen ist das ideologische System Medium und Instrument der Sozialisation. 9. Die Kenntnis der Wirkungsbedingungen, Funktionen und Elemente ideologischer Systeme ermöglicht eine „Konstruktionslehre dieser ideologischen Systeme" (S. 326). Zu entwickeln wäre eine Technologie der ideologischen Systeme. 2. Der funktionalistische Ideologiebegriff Auch im Rahmen der funktional-strukturellen Theorie sozialer Systeme nimmt die Ideologie einen wichtigen Platz ein. Nach Luhmann ist Denken ideologisch, „wenn es in seiner Funktion, das Handeln zu orientieren und zu rechtfertigen, ersetzbar ist" Die Ideologie hat als allgemeines Wertsystem zunächst zu regeln, welche Handlungsfolgen beachtlich sind und so dem „Kausalfeld eine Relevanzstruktur" (S. 59) aufzuprägen. Wirkungsmöglichkeiten werden dadurch eingeengt bzw. übersehbar und entscheidbar. Legt man die Folgen des Handelns, die entweder zu bevorzugen oder zu vermeiden sind, wertmäßig fest, so stellt dies zugleich eine Neutralisierung aller übrigen Folgen dar. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts führt Luhmann folgendes Beispiel an: „Von manchen Nationalökonomen wird zum Beispiel als Mittel für den Zweck der Vollbeschäftigung eine stark progressive Besteuerung der Wohlhabenden empfohlen und die Investierung der dadurch gewonnenen Mittel zur Belebung der Wirtschaft. Solches Vorgehen hätte aber natürlich noch andere Folgen als die bezweckten; insbesondere würde es die gesellschaftliche Schichtung nivellieren. Diese Folgen werden aber nicht als Zwecke zur Rechtfertigung herangezogen, sondern durch ein ideologisches, und zwar ein sozialistisches, Vorurteil in den Schatten gestellt. Und gerade das ist die Funktion der Ideologie."
Unter diesem Funktionsaspekt kann nun jede Ideologie anderen Möglichkeiten sowohl des Handelns als auch der Rechtfertigung gegenübergestellt werden. Damit wird die Ideologie selbst kritisierbar, verbesserungsfähig und ersetzbar. In der bekannten Kontroverse zwischen Luhmann und Habermas hat dieser Luhmann vorgeworfen, daß er den Ideologie-begriff des im späten 19. Jahrhundert herrschenden philosophischen Irrationalismus aller Spielarten generalisiert habe. Gleichzeitig hat er darauf hingewiesen, daß Ideologien nicht ersetzt werden können, einmal, weil ihre stabilisierende Funktion einbüßen, sie der Kritik verfallen, und zum anderen, weil Ideologien öffentlich nicht destruiert werden dürfen und ihre Geltung durch eine „systematische Einschränkung der willensbildenden Kommunikation aufrechterhalten" werden kann Der funktionalistische Ideologiebegriff verfehlt nach Habermas den „Zusammenhang von Kommunikationseinschränkung und Legitimation"
Luhmann begreift Ideologien auch nicht als irrational und gefühlsmäßig; ebenso wäre es recht vordergründig, sie als Willensinstrument oder Waffe im politischen Kampf zu charakterisieren. Ideologien stellen vielmehr eine der Bedingungen rationalen Handelns dar und sind damit „wesentlicher Bestandteil der modernen Sozialtechnik" Ihre charakteristischen Merkmale bestimmen sich als „durchdachte Rechtfertigung" und als „künstliches Abschneiden anderer Möglichkeiten". Die durch die künstliche Ausschaltung anderer Möglichkeiten bewirkten Folgen sind jedoch kontrollierbar und prinzipiell angreifbar. Das entscheidende Kriterium für die Eignung einer Ideologie besteht in seinem funktionalen Bezugsaspekt, d. h., das Leistungsvermögen einer Ideologie ist unter der Frage zu betrachten, ob sie der Stabilität einer bestimmten Sozialordnung dient und ein Handeln ermöglicht, „das in dieser Sozialordnung erwartet werden kann, Zustimmung findet, in die gewohnten Rollenmuster paßt und den Beteiligten persönliche Befriedigung verschafft" Mängel einer Ideologie können den Anstoß zu ihrer Änderung, Verbesserung oder gar zu ihrem Austausch geben. Rational ist eine solche Änderung, „wenn sie als Austausch funktional-äquivalenter Möglichkeiten entworfen ist"
In komplexen sozialen Systemen müssen Ideologien sich durch eine hohe Abstraktion und Formalität auszeichnen, einmal, weil sie nur so bei einer großen und differenzierten „Masse" Zustimmung erzeugen können, und zum anderen, weil sie nur dann imstande sind, Widersprüche zu integrieren und Handlungen mit widersprechenden Wertorientierungen zu koordinieren.
VI. Schlußfolgerungen
Einleitend wurde bereits auf den sich wandelnden Stellenwert der Ideologiekritik in der politischen Bildung verwiesen. Im Gegensatz zu den fünfziger Jahren, in denen die kontroversen Diskussionen um Inhalte und Ziele der politischen Bildung vornehmlich von der Pädagogik bestritten wurden, bestimmten in den sechziger Jahren Soziologie und Politikwissenschaft die Auseinandersetzung um die politische Bildung. Die insbesondere in der Soziologie ausgetragene vehemente wissenschaftstheoretische Kontroverse, die unter dem Namen „Positivismusstreit" firmiert, hat bis auf den heutigen Tag auch einen nachhaltigen Einfluß auf die politische Bildung im allgemeinen und auf die politische Didaktik speziell ausgeübt. Allerdings spiegelt die Auseinandersetzung in der politischen Didaktik nicht adäquat die Positionen im sogenannten Positivismusstreit wider, denn auffälliger-weise hat der Kritische Rationalismus — von seinen Gegnern schlicht als „Positivismus" etikettiert — im Bereich der politischen Didaktik nur in begrenztem Umfange Aufnahme gefunden. Und selbst dort, wo er in didaktische Konzeptionen des politischen Unterrichts eingegangen ist, erkennt man ihn kaum wieder, da bestimmte Theorieelemente mit der kritischen Theorie vermischt wurden, so daß „moderne" und „liberale" Autoren wie Giesecke, Hilligen und Fischer gleich zwei Positionen besetzen, was nach Karin Priester den Vorteil hat, „daß das Adjektiv . kritisch'gleich in zweifacher Bekräftigung auftaucht" — eine „Rückversicherung nach zwei Seiten (übrigens der gleichen Medaille)", welche „die Verwässerung der Positionen allemal" aufwiege
Selbst wenn man sich dieser ironischen Beurteilung der genannten Didaktiker nicht anschließt, so bleibt doch immerhin, daß zwei wissenschaftstheoretische bzw. sozialphilosophische Positionen zueinander in Beziehung gesetzt werden, deren jeweilige Prämissen und letztliche Zielvorstellungen unvereinbar sind. In der politischen Didaktik verläuft die Auseinandersetzung in den letzten Jahren auch nicht zwischen „Neo-Positivismus" und „Kritischer Theorie", sondern zwischen der „Kritischen Theorie" und der „normativ-praktischen“ Theorie, die verschiedentlich auch als ontologisch-normativ oder essentiali-stisch (Popper) bezeichnet wird. Auch hier ist wieder festzustellen, daß Vertreter der normativ-praktischen Theorie den Kritischen Rationalismus für sich reklamieren, ohne das signifikante Dilemma möglicher Unvereinbarkeit zu sehen.
Solange nicht die erkenntnistheoretische und wissenschaftsmethodische Vereinbarkeit der sehr heterogenen Ideologieansätze und -kon-zeptionen in den politischen Didaktiken hinreichend geklärt ist, kann Ideologiekritik im politischen Unterricht statt Aufklärung eher Verwirrung stiften. Die bei Hilligen angekündigte gründliche Auseinandersetzung mit dem Ideologieproblem darf mit Spannung erwartet werden.