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Im Oktober 2020 wurde der französische Geschichtslehrer Samuel Paty Opfer eines islamistischen Mordanschlags. Er hatte im Unterricht mit seinen Schülerinnen und Schülern über Mohammed-Karikaturen gesprochen, die in der Satirezeitschrift Charlie Hebdo erschienen waren. Dabei stellte er den Jugendlichen frei, ob sie die Bilder anschauen wollten oder nicht. Nach dem Mord wurden in Frankreich Stimmen laut, die das Zeigen der Mohammed-Karikaturen im Unterricht nun noch vehementer forderten. Es gehe darum, die Meinungs- und Satirefreiheit gerade auch gegen Widerstände einzufordern. Auch in Deutschland wird diskutiert, ob die Karikaturen im Unterricht gezeigt werden sollten, um zur kritischen Auseinandersetzung mit religiösen Werten und Traditionen anzuregen.
Nicht alles, was rechtlich möglich ist, ist allerdings auch pädagogisch sinnvoll. Auf der rechtlichen Ebene ist klar: Religiöse Menschen müssen damit leben, dass ihre religiösen Bekenntnisse in der Öffentlichkeit kritisiert, infrage gestellt oder auch lächerlich gemacht werden. In der Geschichte spielte Religionskritik eine wichtige Rolle, um Menschenrechte und Demokratie gegen religiöse Institutionen zu erkämpfen.
Die rechtlichen Grenzen der Religionskritik sind markiert durch die Straftatbestände der Beleidigung und der Volksverhetzung. Selbst der sogenannte Blasphemieparagraph §166 StGB schützt nicht das religiöse Bekenntnis oder die Gefühle von Gläubigen – sondern den öffentlichen Frieden, wenn er durch Gotteslästerung beeinträchtigt werden könnte. Allerdings sollte die Vehemenz, mit der das Zeigen der Mohammed-Karikaturen auch als pädagogisches Mittel eingefordert wird, zu denken geben. Oft scheint es hier weniger um Bildung und die Förderung demokratischer Werte zu gehen, als um eine Machtdemonstration.
In der Bildungsarbeit ist Religionskritik kein Selbstzweck. Und religiöse Überzeugungen – zum Beispiel, dass die Darstellung des Propheten aus religiöser Perspektive nicht erlaubt sei – stehen jedem Menschen auch in Schule und Unterricht frei. Die Aufgabe von Bildungseinrichtungen ist es, Lernprozesse anzustoßen und die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu "mündigen Bürgerinnen und Bürgern" zu fördern. Lehrkräfte müssen diese Lernprozesse gestalten.
Die Mohammed-Karikaturen und der Beutelsbacher Konsens
Für die Frage, ob religionskritische Karikaturen auch im Unterricht als Materialien eingebracht werden sollten, bieten die Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses (
Kontroversitätsgebot:
"Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen."
Die kritische Auseinandersetzung mit Religionen spielt in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft eine wichtige Rolle und hat daher selbstverständlich auch im Unterricht einen Platz. Zu bedenken ist allerdings, dass Religionskritik nicht in einem luftleeren Raum erfolgt, sondern immer auch gesellschaftliche Machtverhältnisse und historische Erfahrungen widerspiegelt. So macht es einen Unterschied, ob sich Religionskritik gegen die Institution Kirche und ihren Umgang mit sexueller Gewalt gegen Kinder richtet oder gegen die Glaubensvorstellungen eines Einzelnen.
Berücksichtigt werden sollten auch die unterschiedlichen Kontexte, wenn es beispielsweise um eine Kritik am Christentum oder am Judentum geht. Selbstverständlich sind auch religionskritische Auseinandersetzungen mit dem Judentum möglich, sie laufen aber – gerade in Deutschland – schnell Gefahr, antisemitische Ressentiments zu bedienen und bei Jüdinnen und Juden Erfahrungen mit antisemitischen Anfeindungen wachzurufen (zu "triggern").
Auch eine Religionskritik am Islam ist vorbelastet: Die kritische Auseinandersetzung mit dem Islam als Religion lässt sich nicht ohne Weiteres von rassistischen Diskursen über "die" Musliminnen und Muslime trennen. Exemplarisch hierfür steht das Bild des "kleinen Kopftuchmädchens", das vom ehemaligen SPD-Politiker Thilo Sarrazin gezeichnet wurde. Seine Kritik am Kopftuch als vermeintlichem Symbol für religiöse Rückständigkeit ist verwoben mit rassistischen Vorstellungen über "die" Musliminnen und Muslime.
Überwältigungsverbot:
"Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinn erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der 'Gewinnung eines selbstständigen Urteils' zu hindern."
Lernmethoden und -materialien müssen so gestaltet sein, dass sie den Schülerinnen und Schülern ein eigenständiges Urteil ermöglichen und sie nicht überwältigen. Die Karikaturen der Zeitschrift Charlie Hebdo sind vor dem Hintergrund der islamistischen Anschläge und rassistischer Instrumentalisierungen der Karikaturen in vielerlei Hinsicht so belastet, dass sie fast zwangsläufig "überwältigend" wirken. Ein Zeigen der Karikaturen wäre zum Beispiel dann denkbar, wenn es dabei explizit um eine Auseinandersetzung mit diesen politischen und religiösen Instrumentalisierungen ginge – also das "Überwältigende" der Karikaturen selbst zum Gegenstand des Unterrichts würde.
Letztlich kommt es immer auch darauf an, wer welche Botschaften in den Unterricht einbringt und mit welcher Intention dies geschieht: Wenn eine Lehrerin ihren muslimischen Schülerinnen und Schülern mit dem Zeigen der Mohammed-Karikaturen eigentlich vermitteln will, dass "bei uns" Meinungsfreiheit herrsche, handelt es sich nicht um ein pädagogisches Vorgehen, sondern um "einen autoritären Übergriff"
Schülerorientierung:
"Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen."
Der Unterricht zielt darauf, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, sich mit einer Fragestellung auseinanderzusetzen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln – und das vor dem Hintergrund ihrer eigenen Interessen und Erfahrungen, die für ihre Bewertung eines Sachverhaltes von Bedeutung sind (dazu gehören zum Beispiel Rassismuserfahrungen, Diskriminierungen aufgrund von sozialer Lage, sexueller Orientierung etc.). Das Zeigen von religionskritischen Karikaturen müsste daher dem Ziel dienen, die Schülerinnen und Schüler dazu anzuregen, eigene Erfahrungen und Interessen gegenüber den Perspektiven anderer abzuwägen und eine eigene, reflektierte Haltung zu entwickeln.
Sinnvoller Einsatz religionskritischer Karikaturen
Wenn man diese Grundsätze zu Grunde legt –und es ausgeschlossen ist, dass es der Lehrkraft darum geht, Schülerinnen und Schüler zu verletzen oder im Sinne eines "Das-müssen-die-doch-endlich-verstehen!" zu überwältigen – ist es eigentlich recht klar: Das Zeigen von religionskritischen Karikaturen macht dann Sinn, wenn sie Bildungsprozesse ermöglichen, die der Lerngruppe angepasst sind und die vor dem Hintergrund ihrer individuellen Erfahrungen (selbstkritische) Reflexionen über eigene Überzeugungen und Lebensentwürfe ermöglichen.
In einer heterogenen Lerngruppe in Berlin-Spandau wären dann andere Impulse sinnvoll als in einem katholischen Gymnasium oder einem Oberstufenzentrum in der Uckermark. Denn im Umgang mit religionskritischen Karikaturen gilt, wie in jedem anderen Unterricht, dass die Methoden dem Lernziel und der Lerngruppe folgen – und nicht andersrum. Dass den Jugendlichen am Ende tatsächlich eine reflektierte Auseinandersetzung mit eigenen Überzeugungen gelingt, ist ihnen zu wünschen, lässt sich aber mit dem Zeigen der Mohammed-Karikaturen nicht erzwingen.
Am Anfang eines solchen Lernprozessen stünde allerdings in jedem Fall ein Schritt zurück: Lehrkräfte sollten sich selbst vergewissern, mit welchem Ziel sie die Karikaturen als Lernmaterial auswählen: Geht es um politische Bildung, Persönlichkeitsentwicklung und Stärkung der Ambiguitätstoleranz der Schülerinnen und Schüler oder um Provokation und die Demonstration von Macht?
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