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"Legalistischer Islamismus" als Herausforderung für die Prävention | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

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"Legalistischer Islamismus" als Herausforderung für die Prävention Was tun, wenn Gewalt nicht das Problem ist?

Thomas Schmidinger

/ 16 Minuten zu lesen

Welche Bewegungen und Gruppierungen des Spektrums des "legalistischen Islamismus" sind in Deutschland aktiv? Thomas Schmidinger erläutert, was Organisationen wie Millî Görüş, die Muslimbruderschaft oder Hizb ut-Tahrir auszeichnet. Außerdem geht er der Frage nach, wie unsere Gesellschaft mit diesen Strömungen umgehen kann und skizziert Möglichkeiten der Prävention.

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Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "'Legalistischer' Islamismus".

Strömungen des legalistischen Islamismus in Deutschland

Im Folgenden sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die wichtigsten Strömungen des legalistischen Islamismus dargestellt werden, die in Europa und insbesondere in Deutschland aktiv sind. Viele dieser Strömungen sind Ableger von politisch-islamischen Bewegungen aus mehrheitlich muslimischen Staaten, aus denen in den letzten 50 Jahren Migrantinnen und Migranten nach Westeuropa eingewandert sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Strömungen lediglich "Filialen" solcher Bewegungen sind, die von den jeweiligen Zentralen ferngesteuert werden. Vielmehr haben viele dieser Bewegungen in Europa eigene Akteursqualität – sie agieren also mit einer gewissen Eigenständigkeit und sind nicht einfach als verlängerter Arm externer Akteure zu betrachten. In zumindest einem Fall, der türkischen Bewegung Millî Görüş, gibt es sogar eine Verschiebung des Zentrums der Bewegung vom Herkunftsland in die Diaspora.

Problematiken und Definition des Begriffs "legalistischer Islamismus"

Der Begriff "Legalistischer Islamismus" ist, wie viele Begrifflichkeiten im Kontext von politischem Islam/Islamismus/islamischem Fundamentalismus, umstritten. Beide Bestandteile des Begriffs bringen Problematiken mit sich. "Legalistisch" kann zwar relativ unmissverständlich als gesetzestreu, an Paragrafen und Vorschriften festhaltend, verstanden werden. Sich an Gesetze zu halten, bedeutet jedoch nicht notwendigerweise auch die bestehende politische Ordnung zu akzeptieren. Daher existiert innerhalb des legalistischen Spektrums eine gewisse Bandbreite, die von einem rein taktischen Legalismus bis hin zu einer echten Gesetzestreue reicht.

Auf der einen Seite des Spektrums stehen Gruppierungen, die sich im Sinne des taktischen Legalismus derzeit an Gesetze halten, aber eigentlich einen (gewaltsamen) Umsturz der bestehenden Ordnung anstreben. Nur aufgrund der eigenen politischen und militärischen Schwäche setzen sie auf legalistische Methoden. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Gruppierungen, die eine Islamisierung von Gesellschaft und Staat im Rahmen der bestehenden politischen Ordnung erreichen wollen. Dazwischen sind Gruppen anzutreffen, die einen transformierenden Reformismus befürworten. Sie nutzen die bestehende politische und rechtliche Ordnung, um diese in eine andere politische und rechtliche Ordnung zu überführen. Wo sich eine Gruppierung auf diesem Spektrum befindet, bestimmen auch taktische Entscheidungen. Diese können sich jedoch im Laufe der Zeit verändern und sagen nicht unbedingt etwas über die potenzielle Gefahr einer politischen Bewegung für die Demokratie aus.

Noch problematischer als "legalistisch" ist der Begriff des "Islamismus". In vielen Sprachen, die von mehrheitlich muslimischen Gesellschaften gesprochen werden, existiert er in dieser Form nicht; im Deutschen wird er sehr unterschiedlich verwendet. Das Suffix -ismus oder -mus wird im Deutschen meist für eine Lehre, eine Ideologie, eine Religion oder auch eine geistige oder künstlerische Strömung verwendet, beispielsweise Sozialismus, Liberalismus, Anarchismus aber auch Buddhismus, Hinduismus, Kubismus. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich im Deutschen in den letzten 40 Jahren der Begriff Islamismus als Bezeichnung für eine sich auf den Islam berufende Ideologie durchgesetzt.

Sowohl in der Islamwissenschaft als auch in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen hat sich der Begriff "Islamismus" als Sammelbegriff für Ideologien, die sich auf den Islam als Religion berufen, hingegen nicht allgemein durchgesetzt. Im wissenschaftlichen Kontext konkurriert der Begriff mit "Politischer Islam" oder "Islamischer Fundamentalismus." Begriffe wie "Salafismus" oder "Dschihadismus" meinen wiederum sehr spezifische Strömungen innerhalb dieser breiteren Begrifflichkeiten.

Ein weiteres Problem mit dem Begriff "Islamismus" ist, dass damit oft eine große Bandbreite sehr unterschiedlicher ideologischer Ausrichtungen und Organisationen mit sehr unterschiedlichen Methoden bezeichnet werden. Während manche Autorinnen und Autoren nur extremistische und gewaltbefürwortende Strömungen als "islamistisch" bezeichnen, benutzen andere den Begriff für alle Strömungen, die mit dem Islam eine Gesellschaftsordnung oder Ideologie verbinden. Der Begriff wird also teilweise für sowohl legalistische als auch für bewaffnete und terroristische Gruppen benutzt; teilweise nur für bewaffnete und terroristische Gruppierungen.

Wer diesen Begriff verwendet, muss ihn daher zunächst definieren, von anderen Begrifflichkeiten abgrenzen und damit auch klar machen, was damit nicht gemeint ist. Aus Sicht des Autors macht das Adjektiv "legalistisch" bereits klar, dass damit keine gewaltbefürwortende Gruppe gemeint sein kann, da der (gewaltsame) Umsturz einer politischen Ordnung selbstverständlich nicht legal ist und eine solche Gruppierung somit nicht "legalistisch" sein kann. Es können also nur Strömungen des Islams gemeint sein, die sich grundsätzlich dazu entschieden haben, innerhalb der bestehenden Rechtsordnung zu agieren. Damit akzeptieren sie etwa im Falle Deutschlands, zumindest vordergründig, den demokratischen Rechtsstaat, setzen sich allerdings innerhalb dieser Rechtsordnung für eine andere – aus ihrer Sicht "islamische" – Ordnung ein.

Die grundsätzliche Akzeptanz des Rechtsstaates und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung kann dabei taktischer oder grundsätzlicher Natur sein. Ein taktisches Verhältnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung würde bedeuten, dass diese genutzt werden soll, um sie selbst zu überwinden. Dies könnte etwa durch die Gründung politischer Parteien geschehen, die dann bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen ein anderes politisches System errichten könnten. Eine grundsätzliche Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung würde bedeuten, sich innerhalb dieser für eine Umsetzung möglichst vieler politischer Ziele im Sinne der eigenen Ideologie einzusetzen. Im Falle des legalistischen Islamismus wäre etwa eine Entwicklung bestimmter Gruppen in Richtung einer islamischen Partei, ähnlich christlich-sozialer Parteien in Europa, vorstellbar.

Diese beiden Formen der Akzeptanz des Rechtsstaates und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sind jedoch nicht immer statisch und klar voneinander abgrenzbar. Wer sich lange genug aus taktischen Gründen auf den Rechtsstaat beruft und zumindest verbal die säkulare Ordnung des Staates und die freiheitlich-demokratische Grundordnung akzeptiert, kann damit auch die Diskurse innerhalb einer Organisation oder Bewegung verändern. Was vielleicht als taktisches Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung begonnen hat, kann durchaus in der nächsten Generation zu einem ernst zu nehmenden Reformismus der Organisation innerhalb der bestehenden Rechts- und Staatsordnung werden.

Umgekehrt können sich politische Bewegungen aber auch – etwa durch Entfremdung oder Verfolgungserfahrungen – radikalisieren und extremistischer werden. Politische Bewegungen sind keine statischen Phänomene, sondern machen Veränderungen und Entwicklungen durch. Dies gilt in besonderem Ausmaß für Organisationen in migrantischen Diaspora-Kontexten, in denen sich die Lebenswirklichkeiten unterschiedlicher Generationen oft wesentlich stärker voneinander unterscheiden als in den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften.

Dabei ist auch der legalistische Islamismus keine einheitliche Strömung oder Ideologie, sondern besteht aus verschiedenen Gruppierungen und Strömungen, die weltweit unter sehr verschiedenen Bedingungen legalistisch arbeiten. Legal zu arbeiten bedeutet schließlich in einem europäischen Rechtsstaat mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung etwas anderes als in autoritären oder diktatorischen Systemen, wie sie in vielen Staaten des Nahen Ostens vorherrschen.

Zudem gibt es Überschneidungen mit Strömungen, die mit anderen Begrifflichkeiten gefasst werden. Während dschihadistische Gruppen mit ihrem revolutionären Selbstverständnis und ihrer Anwendung terroristischer Gewalt definitiv nicht in dieses Spektrum fallen, sondern sich gewissermaßen am anderen Ende des islamistischen Spektrums befinden, gibt es im Bereich des Salafismus sowohl gewaltbereite und dschihadistische Gruppen, als auch legalistische. Der Begriff Salafismus bezeichnet lediglich eine Rückorientierung auf eine idealisierte Frühzeit der ersten drei Generationen des Islams und eine Ablehnung der Tradition, insbesondere der so genannten Rechtsschulen des Islam. Er sagt jedoch nichts über Methoden und das Vorhandensein konkreter politischer Ziele aus. Der Salafismus als spezifische Strömung innerhalb des Islamismus ist damit selbst wiederum in legalistische, revolutionäre und dschihadistische Strömungen gespalten.

Umgekehrt gibt es innerhalb des legalistischen Islamismus ideologisch sehr strikt ausgerichtete Strömungen, da sich der Begriff des Legalismus ja primär auf politische Methoden und nicht auf konkrete Inhalte einer Ideologie bezieht.

Fußnoten

  1. Dass sich Taktiken politischer Bewegungen ändern können und eine reformistisch-legalistische Taktik nicht unbedingt mit einer ideologischen Mäßigung verbunden sein muss, zeigt sich nicht nur im Islamismus, sondern auch in anderen politischen Bewegungen. Beispielsweise änderte die NSDAP nach einem gescheiterten Putschversuch 1923 ihre "revolutionäre" Strategie der Machtergreifung hin zu einer "legalen".

Eine weiterführende Diskussion zum Begriffsfeld Islamismus/Salafismus und die historische Herausbildung dieser Strömungen finden Sie im Infodienst-Beitrag "Interner Link: Islamismus, Salafismus, Dschihadismus".

Legalistischer Islamismus mit Türkei-Bezug

Millî Görüş


Aufgrund des großen Anteils türkeistämmiger Muslime in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Benelux-Staaten spielen Organisationen mit Türkei-Bezug in diesem Raum eine wichtige Rolle. Die lange Zeit mit Abstand größte Organisation bildet dabei die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş. Offiziell gegründet wurde die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e. V. erst 1995. Allerdings existierten damals bereits eine Reihe von Moscheevereinen und Vorläuferorganisationen, die zur politisch-religiösen Bewegung gehörten. Sie waren von Necmettin Erbakan in den 1970er-Jahren in der Türkei gegründet worden. In Köln befindet sich ihre Zentrale, nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Mittlerweile kann sie sogar als Zentrale der gesamten Bewegung betrachtet werden.

Der bis heute auch in Europa als Gründervater der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş verehrte Necmettin Erbakan gilt als Begründer des modernen legalistischen politischen Islam in der Türkei. Von Juni 1996 bis Juni 1997 war er Ministerpräsident der Türkei, ehe er durch ein Ultimatum des Militärs zum Rücktritt gezwungen wurde. Nach dem Verbot von Erbakans Tugendpartei (Fazilet Partisi, FP), gründete er die Glückseligkeitspartei (Saadet Partisi, SP). Das politisch erfolgreichere Konkurrenzprojekt war jedoch die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP), die sein ehemaliger politischer Ziehsohn, Recep Tayyip Erdoğan, 2001 gründete.

Erbakans ideologische Basis bestand aus türkischem Nationalismus und einem politischen Islam. Dieser war antiliberal, antisemitisch und gegen religiöse Minderheiten gerichtet. Seine Bewegung richtete sich gegen eine "westliche Lebensweise", war homophob und antifeministisch. Die Demokratie akzeptierte er als Möglichkeit, um zur politischen Macht zu gelangen – jedoch ohne sich zu gesellschaftlichem Pluralismus als Wert an sich zu bekennen. Die als "nichtig" betrachtete bestehende Ordnung soll durch eine "gerechte Ordnung" ("Adil Düzen") ersetzt werden. Die Gesellschaft, die Erbakan vorschwebte, war nicht von unterschiedlichen Interessen und Lebenskonzepten geprägt, sondern eine einheitliche harmonisch gedachte islamische Gesellschaft. In dieser würden religiöse Minderheiten zwar toleriert, aber es gäbe keinen Platz für Atheistinnen und Atheisten, sexuell selbstbestimmte Frauen, Homosexuelle oder andere als deviant wahrgenommene Gruppen.

Diese Positionen wurden nicht unbedingt 1:1 in den verschiedenen Moscheevereinen der Bewegung in Europa und in deren Dachverbänden widergespiegelt, und die Bewegung hat sich in Europa zumindest in ihrem Auftreten verändert. Das konstatieren unter anderem betont wohlwollende wissenschaftliche Analysen: So schreiben die in Österreich sehr anerkannten Islam-Experten Richard Potz, Rüdiger Lohlker und Susanne Heine in ihrem Standardwerk über Muslime in Österreich: "Die Frage, ob Millî Görüş hauptsächlich als politische Organisation zu verstehen sei, kann durchaus bejaht werden, wenn die Herstellung sozialer Beziehungen und der Widerstand gegen Ungerechtigkeit ‚politisch‘ sind." (Heine/Lohlker/Potz 2012 S. 74). Während der deutsche Ethnologe Werner Schiffauer aus den Wandlungsprozessen der Millî Görüş den Schluss zieht, dass diese eine "postislamistische Bewegung" sei, bezeichnen Potz, Lohlker und Heine sie als eine "post-islamische Organisation" (Heine/Lohlker/Potz 2012 S. 74).

Zwar attestieren auch kritischere Beobachterinnen und Beobachter der Bewegung einen politischen Wandel, sehen diesen aber eher als Selbstdarstellung nach außen, denn als grundlegenden ideologischen Wandel. So stellt die Berliner Soziologin Schirin Amir-Moazami fest, dass es dem von 2002 bis 2014 amtierenden Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (also der gesamteuropäischen Organisation), Oğuz Üçüncü, zwar gelungen sei, der Organisation ein neues Image zu verpassen. Sie hält jedoch fest, "dass Vertreter wie Üçüncü durchaus Rechtstreue und Integrationsfähigkeit unter Beweis stellen, während sie zugleich ein wertkonservatives Verständnis vom Islam favorisieren" (Amir-Moazami 2010, S. 123).

Der politische Niedergang der SP und der Tod Erbakans 2011 führten dazu, dass sich das politische Gewicht der Millî Görüş zunehmend nach Europa verlagerte. Die Zentrale des Europaverbands in Köln wurde wichtiger als die "Mutterpartei" in der Türkei. Zugleich begann sich Millî Görüş als Organisation in den letzten Jahren stärker von der türkischen Politik zu entfernen als andere große türkische Verbände. Zumindest in Teilen des Verbandes wurde eine reformistische Strömung sichtbar, die sich stärker mit den spezifischen Gegebenheiten eines europäischen Islams beschäftigt als mit der türkischen Parteipolitik. Derzeit muss die Millî Görüş-Bewegung in Europa als durchaus heterogen angesehen werden. Sie befindet sich in einem Dreieck zwischen alten Erbakan-getreuen Funktionären der SP, neuen AKP-Funktionären und jenen, die aus der Bewegung einen unpolitischen Islamverband machen wollen.

AKP-nahe Gruppen

Die AKP selbst hat nie einen eigenen Moscheeverband in Europa gegründet, sondern nur eine Parteiorganisation namens Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die sich seit Mai 2018 Union Internationaler Demokraten (UID) nennt (Rüttgers 2019, S. 21). Die UETD beziehungsweise UID ist eine Lobby-Organisation der türkischen Regierungspartei AKP. Sie zeigt unter anderem mit eigenen Medien, Demonstrationen und Versammlungen für den türkischen Präsidenten Erdoğan Präsenz und versucht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen (Kaya 2019, S. 98 f.). Sie vertritt als solche die Ideologie der regierenden Partei mit ihrer Mischung aus Nationalismus und Islamismus, betreibt aber selbst keine Moscheevereine. AKP-Anhänger sind vor allem in den Moscheen der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği, DİTİB) aktiv.

Der Verein, der vom offiziellen Türkischen Amt für Religion Diyanet gegründet wurde, geriet seit der Machtübernahme der AKP in der Türkei zunehmend unter deren Kontrolle (Lord 2018, S. 121 ff.). Diese Umorientierung des Diyanet wurde überwiegend durch einen massiven finanziellen Ausbau der Institution und personelle Neubesetzungen erreicht. So wurde der von 2003 bis 2010 amtierende Diyanet-Präsident Ali Bardakoğlu erfolgreich zum Rücktritt gedrängt – er hatte sich noch gegen die direkte politische Einflussnahme durch die AKP gewehrt. Auch Bardakoğlus Stellvertreter Mehmet Görmez, der nach Bardakoğlus Rücktritt das Amt übernahm, trat 2017 vorzeitig in den Ruhestand. Der seither amtierende Präsident des Diyanet, Ali Erbaş, ist ein enger Gefolgsmann der Regierungspartei AKP.

Seit Bardakoğlus Rücktritt wurde das Diyanet massiv ausgebaut. Bereits 2015 erreichte das Budget mit über zwei Milliarden US-Dollar das Vierfache der Amtszeit Bardakoğlus. 2020 sind im türkischen Budget trotz massiver ökonomischer Probleme 13,1 Milliarden Türkische Lira (2,2 Milliarden US-Dollar) für das Diyanet veranschlagt. Insgesamt beschäftigt das Amt zwischen 130.000 und 150.000 Angestellte, sowohl in der Türkei als auch im Ausland.

Gülen-Bewegung

Neben der Millî Görüş und den AKP-nahen Gruppen gibt es auch noch kleinere Strömungen des legalistischen Islamismus mit Türkei-Bezug in Europa. Die bedeutendste Strömung der sehr heterogenen auf Said Nursî zurückgehenden Nurculuk-Bewegung, ist die Gruppierung um den in den USA im Exil lebenden Fethullah Gülen. Bis 2012 kooperierte sie eng mit der türkischen Regierungspartei AKP, zerstritt sich dann aber mit dieser und wurde immer stärker politischer Repression ausgesetzt. Nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016, für den Präsident Erdoğan die Gülen-Bewegung verantwortlich machte, sprachen türkische regierungsnahe Medien polemisch nur noch von der Fetullahistischen Terrororganisation (Fethullahçı Terör Örgütü, FETÖ).

Dabei handelt es sich bei der Gülen-Bewegung weniger um Gegner, sondern eher um Konkurrenten der türkischen Regierung, die in vielen ideologischen Positionen mit der regierenden AKP übereinstimmen. Außerhalb der Türkei geht es der Gülen-Bewegung allerdings vor allem darum, mit dem Aufbau von Bildungsorganisationen wie Schulen und Nachhilfeeinrichtungen eine künftige islamische Elite zu erziehen. Die Bewegung ist auch stark im interreligiösen Dialog tätig und bietet sich immer wieder als Dialogpartner an.

Wie weit die Organisation in der Diaspora überlebensfähig ist, nachdem sie in der Türkei weitgehend zerschlagen wurde, muss sich erst erweisen. Viele Schulen der Bewegung hatten nach 2016 auch in Europa mit massiv sinkenden Zahlen von Schülerinnen und Schülern zu kämpfen, da Eltern vielfach befürchteten, bei Reisen in die Türkei Schwierigkeiten zu bekommen. Für viele Bildungseinrichtungen kam es daher zu finanziellen Problemen und der Einfluss auf die Diaspora ging zurück. Um den Einfluss der Gülen-Bewegung im Bildungsbereich international zu begrenzen, gründete die türkische Regierung 2016 mit der Maarif-Stiftung eine eigene Bildungsstiftung. Die Stiftung ist mittlerweile in über 60 Staaten aktiv, darunter auch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Sie gründet weltweit Schulen, Kurs- und Nachhilfeeinrichtungen sowie Universitäten.

Weitere Organisationen

In der türkeistämmigen Diaspora gibt es auch Organisationen, die im Übergangsbereich zwischen legalistischem Islamismus und türkischem Rechtsextremismus zu verorten sind. 1993 spaltete sich in der Türkei die Große Einheitspartei (Büyük Birlik Partisi, BBP) von der rechtsextremen Nationalen Bewegungspartei (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) ab. Deren Bewegung wird in Europa mit dem Namen ihrer Jugendorganisation Graue Wölfe assoziiert. Die BBP verstand sich nicht nur als nationalistischere Variante der MHP, sondern vor allem auch als islamisierte Variante des türkischen Rechtsextremismus, in der Islamismus und Nationalismus zusammenfanden. In Deutschland ist diese Strömung mit dem Dachverband Verband der türkischen Kulturvereine in Europa (Avrupa Türk Birliği, ATB) vertreten. Insbesondere die jugendlichen Anhänger dieses Verbandes fallen immer wieder durch extrem nationalistische und islamistische Provokationen auf. Die Strömung ist stark antikurdisch, antiarmenisch und antisemitisch ausgerichtet (Rammerstorfer 2018, S. 88). Eine weitere national-islamistische Abspaltung der Grauen Wölfe stellt die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e. V. (Avrupa Türk-İslam Birliği, ATİB) dar (Atabay 2012, S. 91).

In Zukunft könnten auch Organisationen der Menzil-Cemaat von größerer Bedeutung werden, da diese auf den Khalidiyya-Arm des Naqshibandi-Ordens zurück gehende Strömung seit der Spaltung zwischen AKP und Gülen-Bewegung zunehmend von der türkischen Regierung gefördert wird. Ihren Namen trägt diese Strömung vom Dorf Menzil in der Nähe von Adıyaman, wohin sich in den späten 1960er-Jahren der kurdischen Naqshibandi-Sheikh Seyyid Abdulhakim el-Hüseyni aus der Siirt zurückgezogen hatte. Nach dem Tod von Seyyid Abdulhakim el-Hüseyni 1972 übernahm dessen Sohn Muhammed Râşid seine Funktion als religiöser Führer der Gemeinschaft und baute von Menzil aus ein weitreichendes Netzwerk auf, das vor allem auf sozial Marginalisierte und teilweise auch ehemalige Strafgefangene fokussierte. Seit einigen Jahren sind auch einige Vereine dieser Strömung in Europa entstanden, die zwar keinen formalen Dachverband gegründet haben, allerdings zunehmend in die Fußstapfen der Gülen-Bewegung treten.

Legalistischer Islamismus mit Bezug zu arabischen Staaten

Muslimbruderschaft

Die größte Organisation des legalistischen Islamismus in der arabischen Welt ist mit Sicherheit die 1928 von Hasan al-Banna in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft, die in einigen Staaten, wie Tunesien, Jordanien oder dem Irak, legale politische Parteien gründete. In anderen Staaten, wie in ihrem Ursprungsland Ägypten, wird die Muslimbruderschaft allerdings (wieder) politisch verfolgt und vom dortigen Militärregime als Terrororganisation betrachtet. Je nach politischer Situation haben Muslimbrüder versucht, legal politisch zu arbeiten oder bewaffnete Organisationen zu gründen – wie auch die Hamas in den Palästinensergebieten oder verschiedene islamistische Milizen im syrischen Bürgerkrieg. Im Sudan ergriff eine Abspaltung der Muslimbruderschaft 1989 mittels eines Militärputsches die Macht, während in Ägypten mit Mohammed Mursi 2013 ein demokratisch gewählter Muslimbruder als Präsident durch einen Militärputsch gestürzt wurde. Damit hatte nicht nur in der Türkei, sondern auch in Ägypten eine Bewegung des legalistischen Islamismus legal und demokratisch legitimiert, die Macht ergriffen.

Obwohl die Organisation ursprünglich stark antisemitisch, antikommunistisch, antiliberal und antikolonialistisch orientiert war, hat sich die Anhängerschaft der Bewegung in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedlich entwickelt. In Europa haben Muslimbrüder deshalb zwar teilweise gemeinsame Institutionen geschaffen, es gibt allerdings auch rivalisierende Gruppierungen, die an die jeweiligen Herkunftsländer gebunden sind. Das bedeutet, dass zum Beispiel syrische und ägyptische Muslimbrüder nicht unbedingt in denselben Vereinigungen organisiert sein müssen. Da fast alle Mitglieder ihre Zugehörigkeit zur Muslimbruderschaft verleugnen, ist die Zuordnung von Personen zu den Muslimbrüdern schwierig. Dies prägt aufgrund der Repression gegen die Organisation in vielen Staaten ihre Organisationspolitik.

In Deutschland gilt das Islamische Zentrum München als erstes Zentrum der Muslimbrüder (Meining 2011, S. 200). Der Dachverband der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e. V., seit 2018 Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG), gilt als deren Moscheeverband und Ibrahim al-Zayat als deren wichtigste Führungsfigur (Steinberg 2010, S. 158; Vidinio 2010, S. 157). Obwohl die Anhängerschaft dieser Strömung in Deutschland rein quantitativ sehr viel kleiner ist, als die großen Bewegungen des legalistischen Islamismus mit Türkei-Bezug, sind einzelne Vertreter dieser Strömung durchaus in wichtigen Positionen und arbeiten auch mit anderen Strömungen zusammen. Es handelt sich bei vielen Mitgliedern der Muslimbruderschaft um relativ gut gebildete Personen. Sie versuchen oft den Diskurs um einen europäischen Islam zu dominieren.

Legalistische Salafisten und Wahabiten

Zum legalistischen Islamismus sind auch legalistische Salafisten und Wahhabiten zu zählen. Sie verfügen zwar teilweise über gute Verbindungen zu Saudi-Arabien und damit auch über finanzielle Mittel, haben allerdings aufgrund der geringen Zahl an Migrantinnen und Migranten vom Arabischen Golf nur eine schwache personelle Basis in Europa. Ökonomisch spielen wahhabitisch und salafistisch orientierte Geschäftsleute mit Investitionen zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina eine gewisse Rolle und finanzieren damit teilweise auch Moscheen und propagandistische Tätigkeiten (Adler 2019).

Hizbollah

Unter der schiitisch-libanesischen Diaspora in Deutschland gibt es auch einige hundert bis tausend Anhänger der schiitischen Hizbollah, die trotz ihres Verbots in Deutschland im April 2020 ebenfalls zum legalistischen Islamismus zu zählen sind. Im Libanon ist die vom Iran unterstützte "Partei Gottes" eine legale und über die konfessionellen Grenzen hinweg durchaus als politisch bündnisfähig angesehene Partei, die allerdings zugleich einen bewaffneten Arm unterhält. Das Verbot der Hizbollah in Deutschland von 2020 erstreckt sich auch auf mehrere Moscheen und Vereine in Münster, Berlin, Bremen und Dortmund, die als Teilorganisationen der Hizbollah gewertet werden. Aufgrund der Konfessionalisierung vieler Konflikte im Nahen Osten stehen sich die Anhänger der schiitischen Hizbollah und sunnitische Islamisten oft feindlich gegenüber.

Transnationale legalistische Islamisten: Hizb ut-Tahrir

Neben den Gruppen mit einem eindeutigen Bezug zu den Herkunftsregionen von Muslimen existieren im Spektrum des legalistischen Islamismus auch Gruppierungen, die sich selbst als explizit transnational verstehen, und die ethnisch und sprachlich sehr divers sind.

Die bedeutendste dieser Gruppierungen ist mit Sicherheit die Hizb ut-Tahrir, die 1953 durch den palästinensischen islamischen Religionsgelehrten Taqi ad-Din an-Nabhani gegründet wurde. Sie strebt die Errichtung eines weltweiten Kalifats an. Die zentralistisch geführte Partei rekrutiert vor allem unter Studierenden und gebildeten jungen Muslimen. Sie ist ideologisch extrem rigide, lehnt aber individuellen Terrorismus als Methode entschieden ab. Vielmehr setzt die Partei auf ein beinahe leninistisches Revolutionskonzept und versteht sich selbst als Kaderpartei, die irgendwann innerhalb der Islamischen Welt in einer revolutionären Situation durch Massenmilitanz ein Kalifat errichten soll. Muslime aus aller Welt hätten dann in dieses Kalifat zu strömen und an dessen Aufbau mitzuwirken (vgl. Orofino 2020). In Deutschland, das nicht zum dar al-Islam ("Land des Islam") gezählt wird, seien Muslime folglich nur im Exil, was die Partei um die Jahrtausendwende kurzzeitig zum Dialogpartner für die rechtsextreme NPD machte (NPD-Kontakte zu Islamisten 2006).

Die Organisation kämpft für ein politisches System, das nicht demokratisch ist und lehnt Demokratie und Menschenrechte explizit ab. Deshalb wird auch jegliche Beteiligung am politischen System der Demokratie abgelehnt. Zugleich sieht man sich im Exil und betont immer wieder, die Gesetze des "Gastlandes" zu respektieren. Bei der Hizb ut-Tahrir handelt es sich damit gewissermaßen um einen Sonderfall des legalistischen Islamismus: Die Gruppierung hält sich strikt an Gesetze, akzeptiert allerdings weder die Demokratie, noch nutzt sie demokratische Instrumente, um das System abzuschaffen. Vielmehr will sich die Organisation nicht in das politische System Deutschlands einmischen, da Deutschland ohnehin als nichtislamisches Territorium gilt.

Obwohl die Hizb ut-Tahrir 2003 in Deutschland verboten wurde, existiert die Organisation in der Illegalität weiter und hat in den letzten Jahren immer wieder neue Projekte und Vereine unter verschiedenen Namen gegründet. So konnte etwa die Ideologie der Hizb ut-Tahrir im Projekt "Realität Islam" verbreitet werden. Das Projekt richtet sich vorgeblich gegen die Diskriminierung von Muslimen und ermöglicht damit einen niederschwelligen Einstieg für Jugendliche mit Diskriminierungserfahrungen in das Umfeld der Bewegung (Nordbruch 2019).

Was tun, wenn Gewalt nicht das Problem ist? Zwischen Prävention und Koexistenz

Wie kann oder soll nun eine pluralistische Gesellschaft mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit diesen unterschiedlichen Strömungen des legalistischen Islamismus umgehen? Sind diese gefährlich und wenn ja, für wen? Gibt es Möglichkeiten der Prävention?

Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass junge Musliminnen und Muslime auf verschiedenen Wegen zu Gruppierungen des legalistischen Islamismus gelangen. Anders als beim Dschihadismus haben wir es beim legalistischen Islamismus meist nicht mit individuellen Radikalisierungsbiographien zu tun. Die großen Strömungen des legalistischen Islamismus verfügen auch in Deutschland über gewachsene Strukturen, in denen ganze Familien eingebunden sind. Man wächst gewissermaßen in Millî Görüş, in die Unterstützerszene der Hizbollah oder in die Muslimbruderschaft hinein. Es benötigt damit nicht unbedingt einen aktiven Willensakt, um in diese Strukturen zu kommen – eher ist umgekehrt ein aktiver Willensakt notwendig, um sich von diesen zu verabschieden. Lediglich eher kleine Kaderorganisationen wie die Hizb ut-Tahrir leben primär von der Rekrutierung neuer Mitglieder.

Insofern kann es im Umgang mit den meisten Strömungen des legalistischen Islamismus nicht wie bei der Salafismus-Prävention oder Deradikalisierung darum gehen, individuelle Radikalisierungsbiographien zu bearbeiten oder individuelle Präventionsarbeit zu leisten. Es sollten stattdessen zum einen Unterstützungsangebote zum Ausstieg für Menschen geschaffen werden, die sich aus diesen Strukturen lösen wollen. Zum anderen ist es wichtig, mit den relevanten Gruppierungen in eine kritische Auseinandersetzung zu treten – zumindest mit jenen, die als Massenorganisationen über eine gesellschaftlich wirkmächtige Relevanz verfügen.

Wenn diese kritische Auseinandersetzung dazu führen soll, dass Menschen ihre Position verändern in Richtung Demokratieakzeptanz und Abbau antisemitischer, minderheitenfeindlicher, homophober oder frauenfeindlicher Positionen, dann darf diese Auseinandersetzung nicht ausschließlich auf den Druck drohender Repression oder Überwachung durch den Verfassungsschutz setzen. Sie darf jedoch auch nicht nur ein freundlicher Dialog sein. Vielmehr muss eine solche Auseinandersetzung gerade heikle Fragen ansprechen. Themen wie Antisemitismus, Demokratie, Umgang mit Minderheiten, Frauenfeindlichkeit, Homophobie oder etwa – vor allem im Falle des Islamismus mit Türkei-Bezug – auch Nationalismus, müssen im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung stehen.

Die Gefahr, die von verschiedenen Organisationen des legalistischen Islamismus ausgeht, ist keine Gefahr der Gewalt oder gar des Terrorismus. Zudem ist keine dieser Organisationen nach Einschätzung des Autors aktuell in der Lage, die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland ernsthaft zu gefährden. Sehr wohl besteht aber eine Gefahr, dass diese Organisationen, ihre Einrichtungen oder einzelne Mitglieder Druck auf die muslimischen Communities sowie auf Individuen ausüben. Dabei geht es darum, eine rigide Geschlechterordnung, Ressentiments und eigene Moralvorstellungen zum gesellschaftlich normativen Regelwerk zu machen und dieses mit mehr oder weniger starkem Druck durchzusetzen. Gefährlich können solche Gruppen also für Personen aus diesen politischen Netzwerken und Strömungen werden, die sich abwenden oder den jeweiligen moralischen Vorschriften widersetzen.

Zudem besteht die Gefahr einer gesellschaftlichen Abschottung und einer nachhaltigen Ideologisierung einer jüngeren Generation von Musliminnen und Muslimen, die sich auch in extremistischere Strömungen weiter entwickeln kann. Eine weitere Gefahr geht von Strömungen des legalistischen Islamismus aus, wenn diese von Staaten – wie zum Beispiel der Türkei – für eine erweiterte Außenpolitik instrumentalisiert und dazu benutzt werden, die deutsche Politik unter Druck zu setzen. Und schließlich geht von manchen dieser Gruppierungen auch eine Gefahr für politische Gegnerinnen und Gegner aus dem eigenen Herkunftsland aus. So kam es auch in Europa immer wieder zu Übergriffen und Drohungen auf kurdische Einrichtungen und linke oder liberale türkeistämmige Intellektuelle.

Um dem zu begegnen, wäre es durchaus angebracht, im Rahmen der Schulbildung in Deutschland größeres Augenmerk auf die Geschichte und politische Situation in den Herkunftsländern vieler muslimischer Deutscher und ihrer Vorfahren zu legen. Auch sollte die bestehende Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte ausgebaut werden zu einer allgemeineren und globaleren Menschenrechts- und Demokratieerziehung. (Siehe hierzu den Infodienst-Beitrag "Interner Link: Globale Konflikte im Klassenzimmer").

Dabei kann es nicht darum gehen, aus jedem konservativen Muslim einen Liberalen zu machen. Konservative religiös begründete Wertvorstellungen sind in einer pluralistischen Gesellschaft legitim. Ziel muss es vielmehr sein, Ambiguitätstoleranz bei allen Beteiligten zu fördern und eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung nicht nur mit der deutschen Geschichte, sondern auch mit den Herkunftsregionen aller in Deutschland lebenden Menschen zu ermöglichen. Über diesen Weg können mündige demokratische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gefördert werden. Diese sind befähigt, ihre eigenen Wertvorstellungen zu hinterfragen und sich in eine pluralistische Diskussion einzubringen, sodass letzten Endes ein friedliches gesellschaftliches Miteinander aller möglich wird.

Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "'Legalistischer' Islamismus".

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Quellen / Literatur

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine erste schwere Krise machte die Bewegung 1983 durch, als sich eine Gruppe um Cemaleddin Kaplan in Köln radikalisierte. Die Gruppe spaltete sich von der Mutterorganisation ab und gründete den Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e. V. (İslamî Cemiyetler ve Cemaatler Birliği, ICCB). Dieser tritt seit 1994 unter dem Begriff des Kalifatstaat (Hilafet Devleti) auf (vgl. Schiffauer 2020). Der verbliebene Mainstream der Bewegung gründete 1985 die Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V., die dann zehn Jahre später zur Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş wurde.

  2. Vgl. Schiffauer 2010. Demnach wäre die Bewegung zwar aus dem Islamismus hervorgegangen, hätte sich aber so weit gewandelt, dass sie heute nicht mehr als islamistisch bezeichnet werden könnte.

  3. Diese Einschätzung beruht auf Beobachtungen des/der Autor*in zur Vereinslandschaft der Milli Görüs sowie Hintergrundgesprächen mit Funktionären, insbesondere in Österreich und deckt sich mit Einschätzungen von Kolleginnen und Kollegen in Deutschland.

  4. Die Organisation selbst versteht sich als Partei, trägt den Begriff Partei (hizb) in ihrem Namen und ist auch sehr zentralistisch als Partei organisiert, sie ist allerdings nirgendwo eine legale politische Partei, die an einem demokratischen Mehrparteiensystem teilhaben würde.

  5. Als Beispiel für unzählige Vorfälle in der Vergangenheit kann ein Vorfall aus jüngster Zeit angeführt werden: So wurden im Juni 2020 im Wiener Stadtteil Favoriten linke türkische Vereine von einem Mob nationalistischer und islamistischer junger Männer angegriffen (Matzinger 2020).

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Dr. Thomas Schmidinger ist Politikwissenschafter und Sozial- und Kulturanthropologe. Er ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und an der Fachhochschule Vorarlberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben der Kurdischen Frage, Migration, Politischer Islam, religiöse Minderheiten in Mittleren Osten, Dschihadismus, Kosovo, der Sudan und Gewerkschaften in der Arabischen Welt.