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Islamismus
Eine allgemein gültige oder allgemein anerkannte Definition von Islamismus liegt nicht vor. Das ist nachvollziehbar, da Definitionen stets mit unterschiedlichen (Erkenntnis-)Interessen verbunden sind. So werden zum Beispiel Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler andere Anforderungen an den Begriff stellen als der Verfassungsschutz oder die Polizei.
Festzustellen ist zunächst, dass sich der Begriff "Islamismus" gegen konkurrierende Termini, etwa "islamischer Fundamentalismus" oder "politischer Islam", durchgesetzt hat. Gegen den Begriff des "Fundamentalismus" lässt sich einwenden, dass dieser nicht zwingend eine politische Komponente umfasst, die dem Islamismus jedoch immanent ist. Der Begriff "politischer Islam" hingegen scheint wenig geeignet, weil er politisches Engagement von muslimischen Akteuren und Akteurinnen in Gänze problematisiert. Keinesfalls jedoch steht religiös begründetes politisches Engagement grundsätzlich mit demokratischen Werten oder dem Grundgesetz im Konflikt.
Begriffsentstehung
Eingang in den Sprachgebrauch fand der Begriff Islamismus zunächst in französischen, englischen und auch deutschen Fachpublikationen der 1980er Jahre. In den 2000er Jahren setzte er sich schließlich zunehmend durch (vgl. Seidensticker 2014). Der Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker definiert Islamismus wie folgt: "Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden" (Seidensticker 2014: 9). Er benennt damit das wichtigste Merkmal, um ein bestimmtes Islamverständnis als islamistisch bezeichnen zu können: Es muss eine gesellschaftspolitische Zielsetzung vorliegen, die – hier ergänzen wir die Definition von Seidensticker – antidemokratisch verfasst ist.
Der Verfassungsschutz definiert Islamismus bezogen auf das Grundgesetz folgendermaßen: "Der Begriff 'Islamismus' bezeichnet eine Form des politischen Extremismus. Unter Berufung auf den Islam zielt der Islamismus auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab." (Bundesamt für Verfassungsschutz 2020: 172). Somit ist die Definition des Verfassungsschutzes eine, die vor dem Hintergrund seines gesetzlichen Auftrags entstanden ist. Sie hat daher normativen Charakter. Mit ihr wird der Islamismus als eine Spielart des Extremismus, analog zu Rechts- oder Linksextremismus, beschrieben. Als extremistisch in diesem Sinne gelten Bestrebungen, die aktiv darauf abzielen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung (FDGO) (vgl. Othmann 2020; Breuer 2019) oder wesentliche Grundrechte ganz oder teilweise abzuschaffen, oder die sich gegen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland insgesamt richten.
Die Wissenschaft hat dagegen kein gesetzlich genormtes Erkenntnisinteresse. Ihr geht es im Gegensatz zu den Sicherheitsbehörden nicht darum, Zuständigkeiten oder Eingriffe in Grundrechte zu begründen, sondern darum, geschichtswissenschaftlich oder ideentheoretisch belastbare Zusammenhänge in fachlich zutreffender und prägnanter Form zusammenzufassen.
Ursprünge der Bewegung
Die Wurzeln des späteren Islamismus liegen in den Konflikten, die mit dem Kolonialismus und Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts zusammenhängen. Er ist somit ein Phänomen des Islam in der Moderne. Daher ist das Attribut "anti-modern" widersinnig, das insbesondere im journalistischen und populären Diskurs gerne zusammen mit dem Begriff "Islamismus" verwendet wird. Großbritannien, Frankreich und Italien weiteten ihren Einfluss in der Zwischenkriegszeit auf das Herrschaftsgebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches aus, das große Teile der arabischen Welt umfasst hatte. Großbritannien eroberte zudem Indien, wozu auch das heutige Pakistan sowie Bangladesch zählten. Es ist daher kein Zufall, dass die maßgeblichen ideologischen Pioniere des Islamismus aus der arabischen Welt und Indien stammten und ihre Ideologie explizit anti-westlich formulierten. Die Ablehnung der westlichen Herrschaft war allerdings keineswegs nur ein Kennzeichen islamischer Kreise, sondern ebenso des arabischen Nationalismus, der in dieser Zeit ebenfalls entstand.
Das aufkommende arabische Nationalbewusstsein war eine Antwort auf den Zustand der Schwäche der arabischen Welt. Sie umfasste auch die Forderung nach einem arabischen länderübergreifenden Kalifat, also nach der Übertragung des Kalifats von den Osmanen auf die Araber. Ein wichtiger Vordenker dieser Idee war Raschid Rida (1865-1935), der westliches Staatsdenken mit islamischen Elementen kombinierte und wesentliche Grundsteine für das spätere islamische Staatsdenken begründete.
Die Abschaffung des Kalifats der Osmanen im März 1924, ein halbes Jahr nach der Gründung der Türkischen Republik durch die Große Türkische Nationalversammlung, stellte eine Zäsur dar. Sie schickte Schockwellen in die islamische Welt – trotz des Umstands, dass die Osmanen insbesondere bei den Arabern überaus unbeliebt waren. Die Idee der Wiederherstellung des Kalifats wurde zu einem wichtigen ideologischen Marker vieler islamistischer Gruppierungen. Die bekannteste ist die Muslimbruderschaft, die 1928 von Hasan al-Banna (1906-1949) im britisch besetzten Ägypten gegründet wurde. Ihre Ideen und Strukturen sollten in den darauffolgenden Jahren in vielen muslimischen Ländern aufgenommen werden. Die Muslimbruderschaft beeinflusste die islamistische Bewegung wie keine andere Organisation und gilt als Keimzelle sowohl gemäßigter als auch militanter Strömungen. Die Gedanken al-Bannas sowie die Gründung der Muslimbruderschaft entstanden somit ebenfalls vor dem Hintergrund des Kolonialismus und der daraus hervorgegangenen Ungleichheit zwischen Kolonialherren und Kolonialisierten. Der westliche Lebensstil, der durch die britische Präsenz in Ägypten Einzug gehalten hatte, wurde als Verkörperung kolonialen Verhaltens empfunden. Er bildete damit eine Abgrenzungs- und Projektionsfläche für die Aktivisten, für die eine vermeintlich islamische Lebensweise der einzig richtige Lebensentwurf wurde.
Zur ersten Losung der Bewegung wurde bald die Parole "Der Islam ist die Lösung". Durch eine islamische Erziehung, Aktivismus und Mission sollte eine islamische Gesellschaft und schließlich ein islamischer Staat – der als Garant gerechter Herrschaft verstanden wurde – entstehen. Das Streben nach einem islamischen Staat, in dem die Normen der Scharia konsequent angewandt werden, war und ist daher eine Konstante der islamistischen Bewegung; ebenso die dezidierte Ablehnung westlichen Einflusses. Gleichwohl waren alle islamistischen Denker des 20. Jahrhunderts von den politischen und philosophischen Ideen und Erfahrungen des Westens beeinflusst. Das Modell autoritärer Herrschaftsformen, aber auch Gerechtigkeitsgedanken des Sozialismus spielten für nicht wenige von ihnen eine entscheidende Rolle, als sie ihre Ideen für eine vermeintlich bessere Gesellschafts- und Regierungsform formulierten. So verfasste etwa Sayyid Qutb (1906-1966), der später als Wegbereiter der militanten Strömung innerhalb des Islamismus bekannt werden sollte, zunächst eine Schrift über soziale Gerechtigkeit.
Der Konflikt zwischen den herrschenden Regimen und den Islamisten spielte sich vor dem Hintergrund des aufziehenden Kalten Krieges der 1950er und 1960er Jahre ab, der auch den Nahen und Mittleren Osten sowie Vorderasien erfasst hatte. In fast allen postkolonialen arabischen Staaten kamen pro-westliche oder pro-sowjetische Diktaturen an die Macht, die jegliche Opposition unterdrückten und verfolgen ließen – nicht zuletzt die islamistische Opposition.
Unter dem pro-westlichen und von den USA unterstützten ägyptischen Staatspräsidenten Anwar as-Sadat eröffneten sich in den 1970er Jahren Räume für islamistische Agitation. Er sah die Islamisten als Gegengewicht zu den verbliebenen Anhängern des sozialistisch orientierten Nasirismus an. Doch unzureichender wirtschaftlicher Aufschwung für große Teile der verarmten ägyptischen Bevölkerung, weiterhin stark eingeschränkte politische Partizipationsmöglichkeiten und nicht zuletzt der 1979 geschlossene Friedensvertrag mit Israel sorgten für Unmut in der Bevölkerung. Diesen wussten die Islamisten für sich zu instrumentalisieren. Der Großteil der islamistischen Bewegung in Ägypten versuchte über Mission und karitative Hilfe Anhängerinnen und Anhänger zu gewinnen. Verschiedene Abspaltungen der Muslimbruderschaft sahen jedoch in Gewalt das einzige Mittel, um politische Veränderungen herbeizuführen (siehe Abschnitt "Dschihadismus").
Das Schicksalsjahr 1979 darf für die weitere Genese des Islamismus nicht außer Acht gelassen werden. Durch die iranische beziehungsweise "islamische" Revolution unter der Führung von Ayatollah Khomeini gelang es Islamisten – wenngleich in diesem Fall schiitischen – erstmals, die Souveränität in einem Land zu erlangen und einen sogenannten Islamischen Staat zu etablieren. Dieses Ereignis hatte eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung für Islamisten auf der ganzen Welt. Die Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch Dschihadisten im November des gleichen Jahres verdeutlichte schließlich das Potenzial, das vom militanten Flügel der islamistischen Bewegung ausging. Dieser erhielt gewaltigen Auftrieb durch die Entwicklungen im Nachgang des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan im Dezember 1979.
Die in diesem Abschnitt geschilderten Entwicklungen sind zentral für die Ausformung der Ideologie und das Selbstverständnis des Islamismus. In der Wahrnehmung der Islamisten haben alle politischen Systeme des Westens versagt. Säkularismus wird in großen Teilen der islamischen Welt aufgrund der historischen Erfahrungen mit autoritären Diktaturen verbunden. Die mit der westlichen Demokratie verknüpften Ideen der Volkssouveränität und der universellen Menschenrechte werden angesichts der kolonialen Erfahrung und der westlichen Unterstützung eben dieser Diktaturen als Ausdruck von Doppelmoral verworfen. Nur der Islam, verstanden als authentische Politideologie, kann aus Sicht des Islamismus Stabilität und Gerechtigkeit garantieren.
Zusammenfassung
Islamismus beschreibt also eine Ideologie mit einer starken antikolonialen beziehungsweise antiimperialistischen Ausrichtung. Sie ist mit dem Ziel verbunden, islamische Staaten von nichtmuslimischer Einflussnahme zu befreien und möchte außerdem gesellschaftliche Kontrolle über Individuen erlangen sowie ihre Unterwerfung unter die festgelegten religiösen Regeln erreichen. Während sich Islamistinnen und Islamisten unterschiedlicher Richtungen über die groben Ziele der Bewegung relativ einig sind, unterscheiden sie sich massiv in der Wahl der Mittel, mit denen sie ihre Ziele erreichen wollen. Sie reichen von Erziehung, Agitation oder parlamentarischer Beteiligung ("Marsch durch die Institutionen") bis hin zu gewalttätigen Aufständen oder terroristischen Anschlägen.
Es sei darauf hingewiesen, dass der Islamismus – wie jede Ideologie – wandlungsfähig ist und je nach Zeit und Kontext verschiedene Formen annehmen kann beziehungsweise von den jeweiligen Rahmenbedingungen beeinflusst wird.
Salafismus
Seit 2010 hat der Begriff "Salafismus" Eingang in den öffentlichen Diskurs Deutschlands gefunden (vgl. Hummel / Logvinov 2014: 3-6). Ausschlaggebend für die Fachwelt war zunächst ein Artikel von Quintan Wiktorowicz (2006), in dem dieser sich mit den unterschiedlichen Strömungen im Salafismus beschäftigte. Es folgte die Publikation eines bedeutenden Sammelbandes unter dem Titel "Global Salafism" von Roel Meijer im Jahr 2009. In Deutschland war der Begriff zwar auch schon vor 2010 in einigen Zeitungsartikeln und Fachpublikationen zu lesen, aber noch weit davon entfernt, eine breitere Rezeption und Bekanntheit zu erfahren. Dies änderte sich in den Folgejahren rasant. Waren für 2010 gerade einmal sechs Publikationen zum Themengebiet Salafismus verzeichnet, so stieg ihre Zahl 2014 auf 64 (vgl. Hummel u. a. 2016: 5). Dies hatte einerseits damit zu tun, dass Salafistinnen und Salafisten bewusst stärker die Öffentlichkeit suchten, etwa durch Koranverteilaktionen und Versammlungen, und damit vermehrt in den Fokus der Medien gerieten. Es lag andererseits aber auch daran, dass sich nach 2010 die Verfassungsschutzbehörden intensiver und koordinierter des Themas annahmen und hierzu auch Öffentlichkeitsarbeit leisteten. Dies hatte zur Folge, dass Salafismus im deutschen Diskurs primär unter sicherheitspolitischen Aspekten betrachtet und diskutiert wurde.
Diese Perspektive sollte jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass es sich beim Salafismus um eine recht vielfältige Strömung handelt, die unterschiedlich bewertet und verstanden werden kann. Daher liest man zuweilen vom Salafismus als "Jugendbewegung", als "Provokation", "Ideologie", "Erneuerungsbewegung" oder "extremistischer Strömung". Es kommt – wie eingangs auch zum Begriff "Islamismus" festgestellt wurde – ganz darauf an, welche Richtung des Salafismus unter welcher Fragestellung und mit welchem Erkenntnisinteresse beleuchtet wird.
Verfassungsschutzbehörden konzentrieren sich in ihrer Analyse und Betrachtungsweise aufgaben- und gesetzesgemäß auf die Widersprüche zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und beschreiben Salafismus als "extremistische Ideologie". Sie verweisen dabei vor allem auf dessen "ambivalentes Verhältnis zur Gewalt" (Bundesamt für Verfassungsschutz 2019; vgl. auch Farschid 2014; Said 2014). Religions- und sozialwissenschaftliche Studien wiederum beleuchten etwa die Rechtsmethodik, das Verhältnis zur muslimischen Tradition, salafistische Konzepte ritueller Reinheit oder die Beweggründe von Frauen, sich dieser Strömung anzuschließen (vgl. Gharaibeh 2014; Dziri 2014; Gauvain 2013; Inge 2017).
Von einigen Autorinnen und Autoren wird der Begriff "Neo-Salafiyya" beziehungsweise "Neo-Salafismus" verwendet (vgl. Volk 2014; Ceylan 2016). Dahinter steht der Versuch, die "klassische Salafiyya" des 19. Jahrhunderts gegen die Strömung abzugrenzen, die heute als "salafistisch" bezeichnet wird. Die "klassische Salafiyya" entstand als eine vernunftbasierte und antikoloniale Reformbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Die Sicht auf das Verhältnis von Religion und den Erfordernissen der Moderne verkehrt sich jedoch bei der Strömung, die heute als "salafistisch" verstanden wird, ins Gegenteil: Nicht die Religion habe sich an die gegenwärtige Gesellschaft anzupassen, sondern die gegenwärtige Gesellschaft an die Religion. Auch der vernunftbasierte Interpretationsansatz der "klassischen Salafiyya" findet sich im heutigen Salafismus nicht wieder. Beide Strömungen verbindet somit nicht viel mehr als die Namensgebung, die sich aus der Bezugnahme auf die Ursprungszeit des Islams schöpft. Ansonsten handelt es sich um zwei grundverschiedene Herangehensweisen an Religion. Des Weiteren gilt es als äußerst strittig, inwiefern der Begriff "Salafiyya" überhaupt zur Bezeichnung der Reformbewegung des 19. Jahrhunderts geeignet ist (vgl. Lauzière 2015: 234). Aus diesem Grund ist der Begriff "Neo-Salafiyya beziehungsweise Neo-Salafismus" aus wissenschaftlicher Perspektive nicht unumstritten und wird von uns abgelehnt (vgl. Fouad 2015).
Ursprünge des Salafismus
Der moderne Salafismus hat seine Wurzeln in der wahhabitischen Bewegung des 18. Jahrhunderts. Sie geht auf Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703-1792) zurück, einen Gelehrten aus der Region des heutigen Saudi- Arabien. Er warf der Mehrheit seiner muslimischen Zeitgenossinnen und -genossen vor, vom wahren Glauben abgekommen zu sein. Seine Lehre basierte auf einer Neuinterpretation älterer theologischer und islamrechtlicher Ansichten. Kernpunkt seiner Lehre war eine revolutionäre Auslegung des islamischen Monotheismuskonzepts (tauhid). Demnach reicht es nicht aus, das Glaubensbekenntnis auszusprechen – vielmehr müsse man die religiösen Gebote bis ins letzte Detail in der eigenen Lebensführung umsetzen, um als Muslimin beziehungsweise Muslim gelten zu können. Wer diese nicht befolge, begehe Götzendienst (shirk) und sei demzufolge als vom Glauben abgefallene Person (murtadd) beziehungsweise Ungläubige oder Ungläubiger (kafir) zu bekämpfen.
Vermutlich wäre Ibn Abd al-Wahhabs Lehre als temporäre Randerscheinung in die Geschichte eingegangen, hätte er nicht das politische Bündnis mit dem Stammesführer der Al Saud-Familie gesucht. Dieser verhalf seinem Vorhaben zur notwendigen politischen und militärischen Durchschlagskraft.
Die Wandlung vom Wahhabismus zu dem, was heute als Salafismus bezeichnet wird, vollzog sich im 20. Jahrhundert. Zum einen bestand ein wechselseitiger Austausch zwischen dem saudischen Wahhabismus und der sogenannten Ahl-e-Hadith-Bewegung (Anhänger der Prophetentradition) in Indien. Diese verwarf die im sunnitischen Islam übliche Anbindung an eine der vier Rechtsschulen zugunsten einer Rechtsfindung direkt aus dem Koran, vor allem jedoch aus den Überlieferungen des Propheten (Hadithe). Einen einschneidenden ideologischen Richtungswechsel unternahm dabei ein prominentes Sprachrohr der Reformer, der bereits erwähnte Theologe Raschid Rida. Seine anfängliche Ablehnung des Wahhabismus wich einer Bewunderung für den erfolgreichen Staatsaufbau durch König Abd al-Aziz bin Saud (1875-1953). Diese Bewunderung ist wiederum im Kontext des Ersten Weltkriegs und der zuvor beschriebenen Kolonialerfahrung zu verstehen. Während der Großteil der muslimischen Länder kolonialer Einflussnahme ausgesetzt war, blieb allein das junge Saudi-Arabien unabhängig und konnte sich, aus der Sicht Ridas als der islamische Staat schlechthin, gegenüber dem Westen behaupten.
An dieser historischen Entwicklung werden mehrere Aspekte deutlich. Zum einen öffnete sich die wahhabitische Strömung nach außen, beeinflusste somit andere Denkströmungen und wurde selbst wiederum auch durch diese beeinflusst. Zum anderen erhielt sie eine antikoloniale Komponente, die zu Zeiten Muhammad Ibn Abd al-Wahhabs noch keine Rolle spielte. Ob deswegen zu dieser Zeit eine Begriffsverschiebung von Wahhabismus zu Salafismus stattfand, darüber herrscht in der Wissenschaft keine Einigkeit. Fakt ist, dass vor allem die Ereignisse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Ausformung dessen führten, was wir heute als Salafismus bezeichnen.
Politischer und dschihadistischer Salafismus
Neben einer als puristisch oder auch quietistisch bezeichneten Richtung des Salafismus hat vor allem die politisierte Strömung des Salafismus Aufmerksamkeit erhalten. Sie steht in Opposition zu den Herrscherhäusern der arabischen Welt, hier insbesondere zur Königsfamilie Saudi-Arabiens.
Die Politisierung beziehungsweise Ideologisierung des Salafismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte insbesondere durch Mitglieder der Muslimbruderschaft und ihrer radikaleren Ableger. Sie fanden als politisch Verfolgte aus den umliegenden Staaten Saudi-Arabiens eine Anstellung im dortigen Bildungssystem oder in anderen Zweigen der Wirtschaft. Sie verknüpften die Idee des Islams als einer ganzheitlichen Weltanschauung mit dem theologischen Erbe des Wahhabismus. In den von den durch die Muslimbrüdern beeinflussten Bildungsinstitutionen wuchs eine neue Generation von Predigern heran, die unter dem Namen "Sahwa" (Wiedererweckung) bekannt wurde (vgl. Lacroix 2011). Sie forderten umfassende politische Reformen im Sinne von mehr "Scharia- Kompatibilität" in der Politik der saudischen Regierung und kritisierten die Passivität der staatstreuen Gelehrten.
Der Salafismus wurde so von einer fundamentalistisch-theologischen Strömung zu einer Politideologie, die vorgab, den einzig wahren Islam zu vertreten. Es ist daher irreführend, den quietistischen Zweig des Salafismus als "unpolitisch" zu charakterisieren. Nasir al-Din al-Albani (1914-1999), einer der wichtigsten und einflussreichsten Wegbereiter des modernen Salafismus, zum Beispiel hatte relativ konkrete Vorstellungen von einem islamischen Staat. Korrekter wäre die Unterscheidung zwischen politisch inaktiven und aktivistischen Salafisten. Die Quietisten sehen ihre Rolle in der religiösen Erziehung der Gesellschaft, eine direkte Einmischung in die Politik wird als kontraproduktiv angesehen. Aktivistische Salafisten hingegen bringen sich in die Politik ein und sind in einigen Staaten, zum Beispiel in Ägypten, als Partei im Parlament vertreten. Eine militante Form des politisierten Salafismus ist schließlich der Dschihadismus, der sowohl die Strategie der Muslimbrüder wie auch die der rein missionarischen Salafisten ablehnt.
Ausschließlichkeitsanspruch
Salafistinnen und Salafisten achten auf die strikte Einhaltung der vermeintlich "reinen" religiösen Vorschriften. Methodisch nehmen sie bei der Erstellung von Rechtsgutachten (fatwa, pl. fatawa) weniger auf Koranverse Bezug als vielmehr auf die Überlieferung der Taten und Aussprüche Muhammads (die sogenannten hadith, pl. ahadith). Andere klassisch sunnitische Quellen zur Rechtsfindung wie die Analogie (qiyas) oder die eigene Einschätzung (ra’y) betrachten sie hingegen mit großer Skepsis. So versuchen Salafisten und Salafistinnen, sich der angenommenen Glaubenspraxis der ersten drei Generationen des Islams anzunähern. Sie sehen darin den richtigen Weg, um gottgefällig zu handeln und sich somit vor den Strafen der Verdammung nach dem Tode zu retten.
Laut islamischer Überlieferung sollte sich die Gemeinschaft Muhammads (die Muslime) nach dem Tode des Religionsbegründers in 73 Gruppen teilen, wovon lediglich eine die "siegreiche Gruppe" sei (at-ta’ifa al-mansura). Salafisten und Salafistinnen gehen davon aus, dass sie diese Gruppe innerhalb des islamischen Spektrums darstellen, weshalb sie auch einen Ausschließlichkeitsanspruch auf die Wahrheit vertreten und abweichende Meinungen nicht akzeptieren können. Aus ihrer Sicht gibt es nur einen richtigen Weg beziehungsweise eine richtige Methode (manhadsch). Hieraus leitet sich der mittlerweile szenetypische Wortgebrauch ab, "auf haqq" zu sein, also sich auf dem Weg der Wahrheit (haqq) zu befinden.
Gerade aus der Gewissheit heraus, die Religion als einzige Gruppe wahrheitsgemäß und gottgefällig auszulegen und zu leben, sehen sich Salafisten und Salafistinnen oft in einem permanenten Konflikt mit der sie umgebenden Gesellschaft, die oftmals selbst muslimischen Glaubens ist. Dies findet seinen Niederschlag im Konzept der "Fremdheit". Dieser beruft sich auf eine Prophetentradition, der zufolge der Islam als etwas "Fremdes" begann und auch als ebenso fremd am Jüngsten Tag zurückkehren wird. Zudem seien die "Fremden" selig. Andere muslimische Gelehrte deuten die erwähnten Überlieferungen freilich anders. Der Exklusivismus
Muslimbruderschaft und Salafismus – Berührungspunkte und Gegensätze
Die islamistische Ideengeschichte lässt sich in zwei wesentliche Stränge unterteilen: den der Muslimbruderschaft und den des Wahhabismus beziehungsweise Salafismus. Die Muslimbruderschaft wurde 1928 in Ägypten gegründet und ihre politischen Ideen spiegeln vielfältige Einflüsse westlicher politischer Theorie und Praxis wider sowie Jahrzehnte der Fremdherrschaft und kolonialen Durchdringung Ägyptens. Die Ahnherren der wahhabitisch-salafistischen Linie hingegen sind im Wesentlichen auf der Arabischen Halbinsel zu verorten, insbesondere in Saudi-Arabien, wo der Wahhabismus ohne Einfluss des Kolonialismus im 18. Jahrhundert als religiöse Erneuerungsbewegung entstand. Wie weiter oben beschrieben, vermischten sich zur Mitte des 20. Jahrhunderts Teile des politischen Denkens der Muslimbruderschaft und des religiösen Purismus der Wahhabiten zu einem Amalgam, das dann als politischer Salafismus bekannt geworden ist.
Die Muslimbruderschaft zeigte schon immer einen bemerkenswerten Pragmatismus in ihrem Werben um Mitglieder und in ihrem Verhältnis zur Politik. So zeigten die Muslimbrüder im Verlauf ihrer Geschichte die Bereitschaft, sich mit den Herrschenden zu arrangieren und an Wahlen teilzunehmen, bei denen der Gewinner – nämlich die regierende Partei – zumeist schon von vornherein feststand. Die Ideologie der Muslimbruderschaft ist – wenn von Qutb und den späteren radikaleren Abspaltungen abgesehen wird – zudem ökumenischer ausgerichtet als die des Salafismus: Musliminnen und Muslime sollten im Angesicht äußerer Feinde zusammenhalten und sich nicht aufgrund nebensächlicher Themen entzweien.
Salafisten und Salafistinnen hingegen vertreten grundsätzlich einen sektiererischen Ansatz. Eine Einheit darf es nur um die reine Lehre geben; eine Kooperation mit "vom rechten Weg abgekommenen Gruppen komme daher nicht in Frage. Sie sind skeptisch, inwieweit der Staat eine wahrhaft islamische Gesellschaft erzwingen kann, daher liegt ihr Fokus auf dem Individuum: Erst wenn die Gesellschaft den wahren Islam verstanden habe, könne sie auch einen islamischen Staat hervorbringen. Die Vorbehalte gegenüber jeglicher Partizipation am politischen System änderten sich allerdings nach den arabischen Aufständen 2011. In Ägypten, Tunesien und Marokko haben sich salafistische Parteien gegründet. Zu groß schien die Chance, endlich am Aufbau eines aus ihrer Sicht wahrhaft islamischen Regierungssystems mitzuwirken, und sei es durch parlamentarische Arbeit. Einzig der militante Flügel des Salafismus, der sogenannte Dschihadismus, sah darin einen Verrat an der Sache und lehnt bis heute jegliche Form demokratischer Beteiligung und Prozesse strikt ab.
Dschihadismus
Der Dschihadismus beschreibt ein Denk- und Handlungssystem, welches die Verpflichtung jedes einzelnen Gläubigen zum Dschihad als militärischen Kampf zum Ausgangspunkt hat. In der Lehre der Dschihadisten wird das Führen des Dschihad zur Pflicht, wenn eine Herrschaft als "unislamisch" und damit als "ungerecht" erachtet wird, was natürlich einer subjektiven Interpretation Tür und Tor öffnet. Dies unterscheidet den Dschihadismus von der klassischen islamischen Lehre, in der die Ausrufung des Dschihad dem Herrscher vorbehalten ist. In diesem Sinne war die klassische islamische Rechtslehre stets darum bemüht, dem Dschihad in seiner militärischen Ausprägung einen Einengungsrahmen zu setzen und ihn an gewisse Bedingungen zu knüpfen.
Den Dschihadisten und ihren Auffassungen zum Dschihad widersprechen sowohl die orthodoxen als auch die meisten salafistischen Gelehrten des Islams, für die Stabilität der wichtigste Wert einer Herrschaft ist. Kritik soll nach islamischer Tradition dem Regenten deutlich, jedoch nicht öffentlich entgegengebracht werden. Da die meisten Regierenden in den muslimischen Ländern entweder von den USA oder der Sowjetunion unterstützt wurden, wurden sie von den Dschihadisten als Handlanger beziehungsweise "Marionetten" gesehen, die es zu bekämpfen galt. Al-Qaida war schließlich die Organisation, die sich immer mehr auf die Bekämpfung der Unterstützer der jeweiligen herrschenden Regime in den muslimischen Ländern fokussierte, also den so genannten "fernen Feind".
Im Westen war der Dschihadismus als neuartige Bedrohung nur wenigen Behörden oder Experten vor dem 11. September 2001 aufgefallen – jenem Tag, an dem die Dschihadisten-Organisation al-Qaida unter Führung des Saudis Usama Bin Laden koordinierte Angriffe mittels entführter Flugzeuge gegen die USA durchführte.
Doch die dschihadistische Bewegung, deren sichtbarster Ausdruck al-Qaida geworden war, existierte schon Jahrzehnte vor dem 11. September 2001.
Der Afghanistan-Krieg
Den Anziehungspunkt für eine radikalisierte Generation von Islamisten aus verschiedenen Ländern der arabischen Welt bot der Konflikt in Afghanistan ab 1979. Zunächst nahmen nur wenige Araber teil an den Kämpfen gegen die sowjetischen Truppen, die im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert waren, sowie gegen die von Moskau eingesetzte kommunistische Regierung Kabuls. Erst mit der Errichtung des "Dienstleistungsbüros" im Jahr 1984 durch den Palästinenser Abdullah Azzam – einen ehemaligen Muslimbruder und führenden Ideologen des Dschihadismus – nahm die Mobilisierung an Fahrt auf. Tausende junger Männer aus verschiedenen Ländern der arabischen Welt, aber auch aus Zentral-, Süd und Südostasien, folgten dem Aufruf zum Dschihad gegen die Sowjetunion (vgl. Hegghammer 2020).
Geldgeber und Partner Azzams war kein geringerer als Usama Bin Laden. Dieser hatte sich zuvor hauptsächlich in Pakistan aufgehalten, um Gelder an die afghanischen Aufständischen zu verteilen, die ihren Rückzugsort in Pakistan hatten. Doch bald schon wollte Bin Laden mehr. Er träumte von einer eigenen arabischen Legion von Dschihadisten, die eigenständig und unabhängig von den Bürgerkriegsparteien an den Kämpfen in Afghanistan teilnehmen sollten. Beeinflusst wurde er ideologisch zunehmend von der extrem radikalen Strömung der exilierten Ägypter um Aiman az-Zawahiri, die zur Organisation "Islamischer Dschihad" (al-Dschihad al-Islami) gehörten.
Im Oktober 1986 gründete Bin Laden ein eigenes Militärlager in Afghanistan, aus dem dann 1988 die Organisation al-Qaida hervorging. Al-Qaida war jedoch nicht als globale terroristische Organisation gegründet worden, dazu wurde sie erst im späteren Verlauf. Sie diente zunächst als Netzwerk und Dokumentationsstelle für die Veteranen des Afghanistan-Einsatzes. Neben Bin Laden waren die Gründungsmitglieder vor allem Kader des "Ägyptischen Islamischen Dschihads", der Organisation az-Zawahiris. Im Westen blieb die neue Einheit Bin Ladens lange Zeit unterhalb des Radars der Nachrichtendienste. In den 1990er Jahren sprach die CIA noch vom "Netzwerk Bin Ladens" und erst in einem 1998 erstellten Bericht des US-Außenministeriums wird al-Qaida als eine Art "operative Zentralstelle" (Burke 2007: 4 f.) erstmals erwähnt.
Zerstreuung nach dem Abzug der Sowjetunion aus Afghanistan
Nachdem die Sowjetunion 1989 ihre Truppen aus Afghanistan abgezogen hatte, brach unter den afghanischen Aufständischen ein Bürgerkrieg aus. Viele der Dschihadisten aus anderen Ländern suchten sich neue Konflikte als Betätigungsfelder. Insbesondere die russischen und zentralasiatischen, aber auch einige arabische Kämpfer beteiligten sich auf Seiten der Aufständischen ab Herbst 1994 an den Kämpfen zwischen Russland und dem nach Unabhängigkeit strebenden Tschetschenien. Andere, darunter auch zunehmend Europäer, die zuvor nicht in Afghanistan gekämpft hatten, unterstützten die Bosnier im jugoslawischen Bürgerkrieg. Sie bildeten eine eigene internationale Brigade, aus der ein Netzwerk europäischer Dschihadisten entstand (vgl. Li 2019).
Wieder andere kehrten in ihre Heimatländer – etwa Libyen oder Algerien – zurück und versuchten dort, die Euphorie des Sieges in Afghanistan zu nutzen, um mithilfe militärischer Aktionen die dortigen Machthaber zu stürzen. Nach dem Bruch mit dem saudischen Königshaus und einem Aufenthalt im Sudan fand 1996 Bin Laden mit seinen Getreuen in Afghanistan Unterschlupf, wo die Taliban gerade kurz davor waren, die Hauptstadt Kabul einzunehmen.
Von hier aus startete Bin Laden seine Operationen gegen die USA. Diese Ausrichtung al-Qaidas erfolgte in einer Zeit, in der die lokalen Bemühungen zum Sturz der Regierungen in den arabischen Ländern mehr oder weniger als gescheitert zu betrachten waren. Mit den aufsehenerregenden Anschlägen al-Qaidas gegen die USA setzte sich Bin Laden nun unangefochten an die Spitze der Dschihad-Bewegung. Bereits zuvor war es ihm gelungen, verschiedene Gruppen in eine Koalition zu bringen.
Regionale Ableger al-Qaidas
Nach dem Ende des Taliban-Staates in Afghanistan 2001 zerstreuten sich die Dschihadisten und nahmen wieder den Kampf in ihren jeweiligen Ursprungsländern auf. Dies geschah nun unter der "Einheitsmarke" al-Qaida, was sich an Gründungen von regionalen Ablegern in verschiedenen Ländern und Regionen, etwa Nordafrika, Jemen, Irak oder Somalia zeigte. Al-Qaida verschob Personal, Gelder und Wissen von einem Land zum anderen und wurde zu einer Art Logistikdrehscheibe des Terrorismus. Diese versah sehr unterschiedliche Akteure und lokale Anliegen mit einer ideologischen Klammer und einem gemeinsamen "Image"; etwa durch die Verwendung einer einheitlichen Sprache, Symbolik und Riten. Während also die Aktionen lokal ausgerichtet waren, blieb die Organisation der Bewegung transnational vernetzt.
Die Gründung vieler verschiedener Standbeine und die Verlagerung von Verantwortung auf die lokale Handlungsebene erschwerten es, die Organisation zu fassen und damit zu treffen. Al-Qaida wurde eine Art Hydra. Bis zu seiner Tötung durch US-Soldaten im Mai 2011 stand Bin Laden diesem Netzwerk vor. Nach dem Tod dieser unumstrittenen Identifikationsfigur des Dschihadismus kam es zu einer Erosion von Autorität. Der Nachfolger Bin Ladens, Aiman az-Zawahiri, blieb nicht lange ohne Herausforderer. Ein solcher trat im Irak in Gestalt des Abu Bakr al-Baghdadi auf, des Anführers des irakischen al-Qaida-Netzwerks.
Schon mit der Gründung des al-Qaida-Ablegers im Irak 2004 durch Abu Mus’ab az-Zarqawi war ein Autonomieanspruch einhergegangen und das Verhältnis zwischen lokaler Führung im Irak und der al-Qaida-Zentrale in Pakistan war stets von Spannungen und Machtkonkurrenz gezeichnet. Mit dem Tod Bin Ladens und der sich mit dem Krieg in Syrien eröffnenden Chance auf Expansion für den irakischen Ableger, brach der schon länger schwelende Konflikt offen aus und es kam zur Machtprobe zwischen dem "Islamischen Staat", wie sich al-Qaida im Irak ab 2006 nannte, und der al-Qaida-Zentrale.
Mit dem militärisch ausgetragenen "Bruderkrieg" zwischen den genannten Akteuren ging ein Krieg der Ideologien einher. Beides führte zu einer Zersplitterung der dschihadistischen Szene, wodurch verschiedene Milizen und Netzwerke entstanden, die sich zum Teil erbittert bekämpfen.
Ausblick
Die Geschichte des Islamismus begann im Zeichen der Neuordnung der Welt und der Dominanz westlicher Staaten gegenüber muslimischen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert. Insbesondere die beiden Weltkriege mit ihren Folgen für die politischen Systeme und Gesellschaften der islamischen Welt beeinflussten das Denken und Handeln der frühen islamistischen Denker und Aktivisten. Der Wunsch nach einer Rückkehr zum Glanz und Dominanz früherer Epochen der islamischen Geschichte sowie nach entschiedener Abgrenzung zur westlichen Vorherrschaft einte sie. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich einerseits der Versuch einiger muslimischer Denker, islamische und sozialistische Positionen miteinander zu verbinden und Ideen der Gerechtigkeit aus dem Islam heraus zu begründen, andererseits trat im Verlauf des Kalten Krieges ein zunehmender Antagonismus zwischen islamistischer und sozialistischer Ideologie hervor. So förderten die USA gezielt Saudi-Arabien und andere konservative Herrschaftshäuser, die islamistische Akteure unterstützten, um die von der Sowjetunion oder auch von der sozialistischen Volksrepublik China protegierten linken Bewegungen in muslimischen Ländern zu schwächen.
Dies führte dazu, dass Konflikte nicht mehr zwischen Islamisten auf der einen und Fremdherrschern auf der anderen Seite ausgetragen wurden, sondern innerhalb der Länder erbitterter denn je um Macht und Einfluss gekämpft wurde. Teile der islamistischen Bewegung radikalisierten sich in diesem Zuge. Sie sahen den bewaffneten Aufstand als einzige Option in einem Kampf um die Vorherrschaft mit autoritären Staatsführungen, die oppositionelle politische Partizipationsmöglichkeiten weitestgehend verhinderten. Insofern konnte es nur den absoluten Sieg oder die vollkommene Niederlage geben. Kompromisse waren nicht vorgesehen. In den 1980er Jahren führte der Afghanistankrieg zu einer Internationalisierung der bis dato lokal agierenden bewaffneten Islamisten und zu einer weiteren Radikalisierung. Die Netzwerke, die sich hier gebildet hatten, sollten zur Keimzelle der Organisationen al-Qaida und ihrer Ableger und Nachfolger werden.
"Legalistischer" Islamismus
Doch bei aller berechtigten Fokussierung auf den extremsten und gewaltbereiten Teil des Islamismus sollte auch hervorgehoben werden, dass der überwiegende Teil des islamistischen Spektrums nach wie vor andere, nichtmilitante Wege der Veränderung geht, etwa durch gesellschaftliche oder politische Betätigung. Der Umgang mit diesen Strömungen wirft innen- wie auch außenpolitisch immer wieder neue Fragen hinsichtlich berechtigter Vorbehalte und pragmatischer Zusammenarbeit auf. Dies gilt gerade auch in Deutschland, wo der Umgang mit Akteurinnen und Akteuren, die sich dezidiert religiös verstehen und ihre Positionen aus einer religiösen Haltung heraus begründen, zu immer neuen Debatten und zur Entwicklung neuer Handlungsansätze in der Politik führt. Wo sind die Grenzen zwischen "islamisch" und "islamistisch"? Wo und von wem ist Beteiligung und Kooperation erwünscht? Wo sind sie notwendig, wo undenkbar? All diese Fragen bewegen die Bundesrepublik auf Bundes- wie auf Landesebene seit etwa zwei Jahrzehnten intensiv. Es gibt keine generellen Antworten hierauf. Aber die – oftmals stark emotional geführten – medialen und politischen Debatten sowie die Vereinnahmung dieser durch völkische Parteien mit autoritären Staatsidealen zeigen, dass es dringend einer Versachlichung bedarf. Diese kann unter anderem auf der tieferen Kenntnis der historischen Rahmenbedingungen fußen, die zur Entstehung und Ausformung des Phänomens "Islamismus", in all seinen Facetten, geführt haben.
In der jüngsten Zeit findet zunehmend der Begriff "legalistischer Islamismus" im öffentlichen Diskurs Verwendung. Hiermit werden Strömungen bezeichnet, die versuchen auf legalem Wege, also ohne den Einsatz von Gewalt, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen. So sollen sukzessive islamische Normen durchgesetzt werden und der demokratische Rechtsstaat damit langfristig ausgehöhlt werden. Das Problem dieses Begriffes ist seine Unschärfe. So wird der von den Verfassungsschutzbehörden oftmals in Abgrenzung zum Salafismus verwendet.
Jedoch besteht der Salafismus ebenso aus einem gewaltorientierten und einem politisch agierenden Zweig, sodass gefragt werden muss, weshalb letzterer nicht zum legalistischen Islamismus gezählt wird (siehe Abschnitt "Salafismus"). Zudem werden unter dem Begriff "Legalismus" im öffentlichen Diskurs teilweise Organisationen wie die DITIB genannt,
Unstrittig scheint, dass islamistische Ideen und Strukturen bewegte Epochen der neueren Geschichte nicht nur überstehen, sondern sich in ihnen sogar stetig weiterentwickeln und ausbreiten konnten – etwa den Zusammenbruch der Sowjetunion, den "Krieg gegen den Terrorismus" oder den "Arabischen Frühling". Gegenwärtig gibt es Regierungsbeteiligungen islamistischer Parteien in Vorderasien (Türkei), Nordafrika (Tunesien) und Südostasien (Indonesien), wobei innerhalb dieser Parteien zum Teil heftig gerungen und gestritten wird. Es lassen sich daher wohl zwei Aussagen zur Zukunft des Islamismus treffen: Er wird zum einen weiterhin in den muslimisch geprägten Ländern eine politische Kraft darstellen, mit der gerechnet und ein Umgang gefunden werden muss. Zum anderen hat die Geschichte der vielfältigen islamistischen Bewegung gezeigt, dass diese dynamisch ist und sich stetig an die sich wandelnden Rahmenbedingungen anpasst – und dies wird sich in Zukunft auch nicht ändern.
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